Antisemitismus in der Kultur: Hineinrufen ins brüllende Nichts

Zwei neue Bücher können das Bewusstsein für jüdische Positionen stärken. Sie liefern instruktive Beiträge jenseits der aufgeheizten Debattenspirale.

Eine Gruppe sitzt im Berliner Mauerpark

Kippot verteilen im Berliner Mauerpark: Ziel ist es, über Antisemitismus ins Gespräch zu kommen Foto: Gregor Fischer/dpa

Kunst entsteht in und aus Gesellschaften, nimmt Entwicklungen in sich auf, wirft sie verändert zurück. Es ist eine komplizierte Beziehung. Deshalb eignet sie sich so gut, um Fragen in Räume des sozialen Austauschs zu rufen. Wenn es darum geht, dass Kunst Antisemitismus widerspiegelt, scheint eine inhaltliche Diskussion aber oft nicht möglich.

Diesen Eindruck schildert Stella Leder in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Sammelbands „Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur“. Statt Hinweise ernst zu nehmen und darüber zu diskutieren, verschiebe sich die Aufmerksamkeit weg vom angesprochenen Antisemitismus, hin zur Abwehr des Vorwurfs.

Stella Leder (Hg.): „Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur“. Hentrich & Hentrich, Berlin/Leipzig 2021, 242 Seiten, 19,90 Euro

„Wer den Antisemitismusvorwurf äußert, gilt als Aggressor*in; die Person, die sich mit ihm konfrontiert sieht, als Opfer“, beschreibt Leder. „Dieser Abwehrreflex verhindert inhaltliche Auseinandersetzungen mit Antisemitismus.“

Der Band beschäftige sich mit der „Kultur der Mehrheit“, wie Leder, Mitgründerin des Instituts für Neue Soziale Plastik und selbst Autorin, schreibt. „Wie wirkt Antisemitismus in Zeitungen, Theatern, Filmen und in der Literatur? Wie steht es um die Bearbeitung von Antisemitismus in Kunst und (Hoch-)Kultur?“ Pop- und Clubkultur etwa bleiben dabei außen vor.

Formen des Antisemitismus

Trotzdem stecken die 28 Beitragenden ein weites Feld ab. Auch durch Gedichte wie von Max Czollek oder Ramona Ambs, die eine künstlerische Auseinandersetzung mit Antisemitismus zeigen. Dazu gehören teilweise für den Band entstandene, teilweise bereits erschienene literarische oder essayistische Texte, unter anderem von den Schrift­stel­le­r*in­nen Lena Gorelik, Mirna Funk und Dmitrij Kapitelman.

Sie schildern aus jüdischer Perspektive Auswirkungen von mal offenem, mal subversivem, aber nicht weniger gewaltförmigem Antisemitismus und wie sie damit umgehen.

Dazu kommen analytische Texte wie von Katharina Stengel, die beschreibt, wie mit Kunstwerken umgegangen wird, die während des Nationalsozialismus jüdischen Menschen geraubt wurden. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn schreibt über die Abwehr der Erinnerung an die Shoah im postnationalsozialistischen deutschsprachigen Film.

Weitere instruktive Beiträge blicken auf eine der aktuell wohl prägendsten Theorien für den Kulturbereich, den Postkolonialismus. Dabei problematisieren die Au­to­r*in­nen die von manchen ihrer Ver­tre­te­r*in­nen eingenommene antizionistische Position in der Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur, die anschlussfähig für antijüdische Motive ist.

Nicht mehr überhört werden

Es gibt keine ordnenden Kapitel, wodurch die Beiträge scheinbar verbindungslos hintereinander stehen. Auch liefert der Band keine Definitionen von Antisemitismus.

Stattdessen zeigen die Texte unterschiedliche Aspekte der Vielgestaltigkeit: von christlichem Antijudaismus, der heute noch in Kirchen in Bildern zu sehen ist, über den Antisemitismus, der als Kernideologie des Nationalsozialismus zur Shoah führte, bis zur Schuldabwehr in den postnationalsozialistischen Staaten BRD und DDR und antisemitischen Verschwörungserzählungen im Jahr 2021.

Die Texte werfen damit Schlaglichter in den Halbschatten einer offen bleibenden Auseinandersetzung. Die Journalistin Debora Antmann schreibt in ihrem Beitrag: „Ich werde nicht aufhören, in das brüllende Nichts zu rufen, bis der Kanon meiner widerhallenden Stimme zwischen den Trümmern so laut ist, dass ihr mich nicht mehr überhören könnt. Dass ihr UNS nicht mehr überhören könnt.“

Norm der Perspektive

Jüdischen Stimmen zuhören – das fordern auch Judith Coffey und Vivien Laumann. In ihrem Buch „Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen“ beschreiben sie ihre Beobachtung, dass jüdische Positionen ausgeblendet werden, nicht nur wenn es um Antisemitismus geht. Sie sprechen dabei speziell über linke, intersektionale, queerfeministische Räume und Diskurse, in denen sie selbst Akteurinnen sind.

Judith Coffey/Vivien Laumann: „Gojnormativität“. Verbrecher Verlag, Berlin 2021, 180 Seiten, 18 Euro

Die prägende und damit als Norm gesetzte Perspektive sei eine nichtjüdische. Das bezeichnen Coffey und Laumann als Gojnormativität. „Indem nicht die (jüdische) ‚Abweichung‘, sondern die (gojische) ‚Norm‘ in den Analysefokus gerückt wird, kann Antisemitismus als Strukturprinzip erfasst werden, das weit über die aktive und absichtliche Feindschaft gegen Juden_Jüdinnen hinausgeht“, schreiben die Autorinnen und rücken damit in den Blick, was häufig ausgeblendet wird.

Es sind oft nur die besonders expliziten Beispiele von Antisemitismus, die schockieren. Allerdings wirkt die Ideologie viel häufiger dezent, subversiv. Auch in Kunst und Kultur.

Beide Veröffentlichungen, „Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur“ und „Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen“ können das Bewusstsein für jüdische Positionen stärken. Sie rücken damit ins Zentrum, was wichtiger ist als inhaltsleere Oberflächenkonflikte, die sich in Schrei­spiralen zwischen den instrumentalisierten Wörtern Antisemitismus und Antisemitismusvorwurf aufheizen.

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