Premiere „Der Idiot“ am DT Berlin: Ein Pferd läuft durch die Galerie

Sebastian Hartmanns Inszenierung „Der Idiot“ nach Dostojewski in Berlin hat starke Momente. Und verirrt sich dann doch im Meer der Zeichen.

Die Bühne ist in rotes Licht getaucht, als Schatten erscheinen Männer und Frauen in historisierenden Kostümen.

Szene aus „Der Idiot“: Zwischen den Monologen rennen, tanzen, zappeln alle herum Foto: Arno Declai

Ein Mann mit Hund: Er sitzt am Bühnenrand. Man sieht ihn fast nur als schwarze Silhouette vor dem roten Licht, das den hohen Raum füllt, während er (Peter René Lüdicke) mit ruhiger, müder Stimme von seiner Wohnungssuche erzählt. Von März bis Oktober nichts, obwohl er immer unterwegs war, dabei braucht er nur ein Zimmer, um auf und ab zu gehen und manchmal etwas aufzuschreiben.

Dann folgt eine skurrile Erzählung, wie er einem anderen, sehr alten Mann mit einem sehr alten Hund in einem Café begegnet. Der Alte wird von einem Deutschen (obwohl man offenbar in Russland ist) beleidigt, will sich dem entziehen – da ist der Hund gestorben. Der Erzähler folgt dem Alten, um ihn in seinem Schmerz zu stützen, da stirbt auch der Alte. Und der Erzähler hat plötzlich ein Zimmer gefunden, nämlich das des Toten, groß genug, um auf und ab zu gehen.

Das ist nur eine kleine Episode aus einem mehr als vierstündigen Abend, „Der Idiot“, von Sebastian Hartmann nach Fjodor Dostojewskij am Deutschen Theater in Berlin inszeniert. Ist der Alte womöglich der Autor selbst?, grübelt man, schließlich will er etwas aufschreiben? Oder ist es seine Hauptfigur, der Fürst Myschkin, der, nach langem Sanatoriumsaufenthalt nach Russland zurückgekehrt, kein Geld und keine Wohnung hat?

Die letzte Sekunde

Fragen wird man sich das noch oft bei den Figuren, die in keine Handlung verwoben, selten nur in Dialoge verwickelt, in keiner Beziehung zueinander erklärt werden. Sondern die auf der Bühne wie Solitäre erscheinen und monologisieren. Selten so ruhig wie der Mann mit Hund. Eher packen sie die Zuschauenden mit einem erregten und verzweifelten Gestus, wie Elias Arens gleich zu Beginn, der als ein zu Tode Verurteilter spricht, oder als ein Toter, „der alles sagen darf“, und über die letzte Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde, bevor das Beil fällt, nachdenkt, und ob man da den Wert des Lebens erkennt?

„Der Idiot“ unter der Regie von Sebastian Hartmann läuft am Deutschen Theater Berlin wieder am 10., 14. und 17. November sowie am 7. und 14. Dezember

Diese Sekunde, für die es sich lohnt, sein Leben hinzugeben, sie taucht auch in den Monologen von Linda Pöppel auf, die sehr zurückhaltend erst, sehr schüchtern, von ihren Gefühlen spricht und von der Sorge peinlich zu sein. Ihre Texte und die von Elias Arens nähern sich einander an, wiederholen sich teils, driften auseinander. Einmal ist die Sekunde, der Moment der Offenbarung, der Erkenntnis von Wahrheit und Schönheit, die vor einem epiletischen Anfall und das kann man Fürst Myschkin, Titelfigur im „Idioten“ zuordnen.

Ein anders Mal ist es die vor der Hinrichtung, wie sie der Autor Fjodor Dostojewskij selbst erlebt hat, 1849, zur Strafe für angeblich revolutionäre Umtriebe. Es war eine Scheinhinrichtung, als abschreckende Maßnahme, Umwandlung in Zwangsarbeit erst ganz am Ende. Die Inszenierung verschmilzt die biografische Erfahrung mit dem Gedankenkosmos der Figur des „Idioten“, der voller Widersprüche steckt.

Um und um im eigenen Kopf

Dieses sich Drehen um und um im eigenen Kopf, Schuld bei sich suchend, aber nicht findend, Vergebung suchend, aber von wem, immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen und von neuem anfangend, spielt Linda Pöppel auch in einer langen, Mitleid ererregenden Sequenz, in der sie in Gurten in der Luft mehr zappelt als schwebt.

In diesen Momenten versteht man, dass Sebastian Hartmann in seiner Inszenierung, wie das Theater schreibt, „eine zärtliche Reise hinein in den Kopf Dostojewskijs, hin zu seinen Obsessionen, Begierden und Ängsten“ unternimmt. Bei anderen Bildern aber weiß man nicht, wohin er galoppiert.

Es tauchen auf der Videoleinwand Pferde auf, animierte Figuren, sie liegen im Bett, sie scheuen vor einem Kamin, sie laufen durch einen langen Saal mit Gewölbedecke. Nun ja, es gibt Hengste, die Dostojewski heißen, aber das wird kaum der Grund sein. Und warum schießen im letzten Teil alle, mehrmals und laut, mit Pistolen in die Luft? Damit das Publikum wieder wach wird? Alberne Frage, aber sinnvolle stellen sich nicht ein.

Dagegen mit sehr viel Sinn befrachtet sind einige Filmzitate auf den Leinwänden im letzten Teil: Ein Junge, der auf ein Hitlerbild schießt, und brennende Häuser, stammen aus Elem Klimows Spielfilm „Komm und sieh“ von 1985, der über die Verbrechen der Wehrmacht in Belarus erzählte und die Grausamkeit des Krieges sehr nahe an die Zuschauenden heran trägt. Das wird hier mal eben so eingefügt, Illustration eines Höllenfeuers, zusammen mit historischen Aufnahmen von Hitler, fast backward gespielt. Ein bisschen Faschismus schafft immer Bedeutung? Etwas mehr als leichtfertig ist dieser Umgang mit den historischen Chiffren dann doch und auch noch vollkommen überflüssig.

Es gibt aber auch noch Gutes zu berichten, wie zwei slapsticknahe Auftritte von Niklas Wetzel. Die erste Szene ist ein satirischer Spaß, der sich auf Russland im 19. Jahrhundert beziehen muss, als veramter Adel sich einen Lebensunterhalt suchen musste. Wetzel ergötzt sich daran, wie praktisches Talent und Karriere sich ausschließen, nur die Angepassten in der Verwaltung aufsteigen und nur die Dummen Erfolg haben – und klar macht das Freude, weil man gelegentlich Ähnliches in der Gegenwart zu beobachten glaubt. Sein zweites Solo legt er nach der Pause hin, als er den Roman in wenigen Minuten, in immer schneller jagenden Sätzen, nacherzählt. Und damit einige Schlüssel zum Verständnis des Abends liefert.

Am Ende schleicht man reichlich erschöpft aus dem Theater. Nicht zuletzt, weil es inzwischen ungewohnt ist, wieder Ellbogen an Ellbogen zu sitzen. Bis kurz vor Mitternacht.

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