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EU-Außengrenze zu BelarusDie EU spielt mit

Das Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus erlebt eine humanitäre Katastrophe. Daran ist nicht nur der belarussische Präsident schuld.

Polnische Grenzschützer mit festgenommenen Personen an der Grenze zu Belarus am 26. Oktober Foto: Kacper Pempel/reuters

N iemand dürfte überrascht darüber sein, was aktuell im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus passiert. Schließlich hat sich die EU über Jahre kein gutes Image in der Migrationspolitik aufgebaut. Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko betreibt seit dem Sommer staatlichen Menschenhandel. Mi­gran­t:in­nen aus dem Irak, aus Afghanistan und Syrien lässt er in Flugzeugen in sein Land einreisen, um sie dann in Kleinbussen an die nächste EU-Grenze zu schaffen. Erst schickte er sie nach Litauen, nun vermehrt nach Polen.

In dem sumpfigen Waldgebiet zwischen Polen und Belarus harren die Menschen aus. Essen und Trinken gibt es kaum, in der Nacht fallen die Temperaturen mittlerweile unter null Grad. Viele Mi­gran­t:in­nen sitzen seit Monaten dort fest. Es gibt kein Vorwärts, kein Rückwärts. Mindestens fünf Menschen sind bereits gestorben.

Europa ist deshalb in Panik. In Polen herrscht Ausnahmezustand. Grenzpolizisten gehen zum Teil gewaltsam gegen die Menschen vor. Pushbacks, also das Zurückführen von Mi­gran­t:in­nen nach Belarus, obwohl sie bereits EU-Boden betreten haben, wurden diese Woche in Polen quasi legalisiert, kritisieren Menschenrechtsorganisationen. Es wird wieder von Mauern und Zäunen geträumt, weil es darum gehe, die Wehrhaftigkeit der Europäischen Union zu beweisen. So formulierte es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer.

Mitten in Europa findet eine humanitäre Katastrophe statt. Doch statt eine menschenwürdige Antwort auf die Krise zu finden und langfristige Strategien zu entwickeln, duckt sich die EU weg. Die Schuld sieht man allein bei Machthaber Lukaschenko. Er ist schließlich der Verursacher des Problems. Die betroffenen Menschen lässt man damit allerdings im Stich.

Die EU lässt sich auf das Spiel ein

Sicher, Lukaschenko lässt Grenzzäune aufschneiden und Flüchtlinge gewaltsam an die EU-Außengrenze karren. Das alles mit dem Ziel, die EU unter Druck zu setzen. Sie dazu zu drängen, Sanktionen gegen ihn aufzukündigen. Für ihn sind Flüchtlinge nur ein politischer Spielball, die in seinen Nachbarländern Chaos stiften können. Doch es ist die EU, die sich auf dieses perfide Spiel einlässt, die sich erpressbar macht.

Sich von autoritären Herrschern vorführen zu lassen, ist zum Wiederholungszwang der EU geworden. 2020 trieb der türkische Präsident Erdoğan Zehntausende Mi­gran­t:in­nen nach Griechenland. Er ließ das Gerücht verbreiten, die Grenzen zu Europa seien offen und ließ Mi­gran­t:in­nen in organisierten Aktionen dorthin schaffen. Griechenland schützte seine Grenzen rabiat, mit Einverständnis der EU.

Das europäische Unvermögen auf das abscheuliche Verhalten eines Diktators wie Lukaschenko zu reagieren, ist ein Armutszeugnis. Deutsche Sicherheitsbehörden hätten vor genau diesem Szenario, das sich zwischen Polen und Belarus abspielt, bereits im Frühjahr gewarnt, das berichtet ein Rechercheteam von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung. Die Katastrophe hätte also verhindert werden können, hätte die EU Pläne für den Ernstfall entwickelt, die die Würde der Menschen wahren.

Lukaschenko ist ein Tyrann. Er sperrt seine eigene Bevölkerung ein, lässt sie in Gefängnissen foltern. Nun nutzt er das Fehlen einer humanen EU-Migrationspolitik für eigene Zwecke aus. Das überrascht nicht. Schwerer wiegt, dass die EU nicht gewillt ist, dem etwas entgegen zu setzen.

An der EU-Außengrenze in Polen werden Menschen systematisch ihrer Würde beraubt, sie werden entmenschlicht. Das allein ist ein Skandal. Schon länger wird das Mittelmeer als Massengrab bezeichnet. Ein weiteres zwischen Polen und Belarus muss verhindert werden. Das ist Aufgabe und Verantwortung europäischer Politiker:innen.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Beobachtet antidemokratische Bewegungen beim Verein democ. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.
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13 Kommentare

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  • Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder bleibt nie ohne Folgen.

  • Ich denke, "die EU" -- damit meine ich in erster Linie die konservativ dominierte Exekutive -- will das genau so.

    Es ist wie im klassischen Kapitalismus: die Drecksarbeit wird in der Regel an schlecht bezahlte Subunternehmen "outgesourct". Griechen, Italiener, Spanier, neuerdings auch eben Polen dürfen die Pushbacks vollziehen; durch gezielte Entsolidarisierungsmechanismen (z.B. Dublin) werden sie hungrig genug gehalten, dass sie auch diese Drecksarbeit (fast) machen müssen.

    Die populistischen Bewegungen in diesen Ländern kommen dieser Strategie so gelegen, dass ich mich sehr wundern würde, dass sie nicht von den Konservativen strategisch gefördert würden.

    Noch besser ist es natürlich, wenn man das Outsourcing auch "weiter draussen" (Türkei, Libyen) auch "einkaufen" kann: Diversifizierung der Quellen.

    Und Polen? Das kam alles überraschend?

    Schaut Euch diesen Prachbau [1] an. Darin sitzt Frontex. Das Ding steht in Warschau.

    Als das in Planung und Ausschreibung ging war Lukaschenko zwar an der Macht, aber auf dem Radar der meisten von uns nur ein ganz kleiner Fleck.

    Die Toten an den Grenzen sind Kollateralschäden einer zynischen Strategie.

    [1] upload.wikimedia.o...d_22_June_2016.jpg

    • @tomás zerolo:

      Von Outsourcing kann keine Rede sein.

      Deutschland hat 2021, bis Oktober



      130 000,



      Italien nur 30 000 Migranten aufgenommen.

  • @ARNULF MAINZER: ich weiss nicht, ob ich Ihren Beitrag unter "zynisch", "ahnungslos" oder "troll" kategorisieren soll. Oder unter "misslungener Ironie".

    Im Internet gilt nach wie vor Poes Law [1].

    [1] en.wikipedia.org/wiki/Poe%27s_law

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Man muss schon äußerst verzweifelt sein, wenn man sich mit Frau und Kleinkind auf den Weg ins Ungewisse macht. Ich kann das nicht nachvollziehen.

    Jüngstes Beispiel ist der Sudan. Man schaut einfach zu, wie das Militär wieder die Macht übernimmt!

    Zugegeben, im Sudan ist nicht viel zu holen aber wenn man dort einschreiten würde, wäre das abschreckend für all die anderen machtgeilen Militärs. UN Mandat?

    Allein militärisch zu handeln, würde nur kurzfristig etwas bringen.



    Was das Land braucht sind internationale Projekte und Jobs, die dadurch entstehen und das Land voran bringen.



    Das mit dem Asyl würde sich vielfach ganz alleine erledigen, wenn die Diktatoren weggefegt würden und man im Land eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben hätte. Die oftmals unbeliebten Chinesen sind ja auch bereits im Lande, wie fast überall in Afrika. Warum nicht die EU?



    Ich vermute mal, bei stabilen Verhältnissen, würden auch einige Sudanesen in ihr Heimatland zurückkehren.

  • Gestern hat die Polizei bei uns im Nachbardorf die erste Gruppe von 30 "unidentifzierten" Personen festgesetzt. Dabei wurde auch gleich die erste tote Person aufgefunden die nicht mehr wiederbelebt werden konnte. Ich kann nur an alle appellieren, eine Lösung für diese Route zu finden bevor in Polen der vorhergesagte Rekordwinter so richtig anfängt. Der Weg von Weißrussland bis nach Deutschland ist im Winter nicht mit der Balkanroute zu vergleichen. Hier bahnt sich eine echte Tragödie an.

  • "Die Katastrophe hätte also verhindert werden können, hätte die EU Pläne für den Ernstfall entwickelt, die die Würde der Menschen wahren."

    Nein, niemals hätte dies EU solche Pläne entwickelt. Und wie hätten diese Pläne auch aussehen sollen? Polen war "großzügig" bei der Aufnahme von Geflüchteten aus Belarus und der Ukraine weil es für Polen politisch opportun war. Jetzt ist es das nicht. Nie ging es um Würde, immer nur um geostrategische Interessen und Ökonomie. Nun werden an der EU-Außengrenze Trumpsche Mauern hoch gezogen. Einige hundert Menschen reichen schon aus, die EU zu einem solchen Schritt zu verleiten. Ja, ja Lukaschenko ist Schuld, nicht die Kriege, nicht das Elend in den Ländern aus denen die Menschen fliehen. Würde ich unbedingt nach Europa fliehen müssen, wäre ich froh über Lukaschenko, der mir wenigsten den Hauch einer Chance gibt sicher an die EU-Grenze zu kommen. Lieber fliege ich mit einem weißrussischen Flugzeug nach Minsk und fahre mit der Bahn an die Polnische Grenze, als dass ich mich durch libysche Lager auf ein Schlauchboot kämpfen muss und dann vor Lampedusa kentere.

  • Oh, jetzt wird's ernst: Immer wenn von "Humanitärer Katastrophe" die Rede ist, steht Krieg in der Luft, zumindest ein paar Bomben oder Raketen von der NATO zur Warnung an den jeweiligen Diktator, Machthaber, das Regime oder wie auch immer der Sprachgebrauch vom Narrativ vorgeschrieben ist.

    Auf die Tatsache, dass die Geflüchteten fast ausschließlich aus Ländern kommen, in denen der Westen schon vor teilweise über 20 Jahren interveniert hat, um eine "Humanitäre Katastrophe" zu verhindern (und durchweg nur "Failed States" hinterlassen hat) wird natürlich nicht so gerne eingegangen.

    Die Menschen kommen über die Wege, die ihnen am erfolgversprechendsten erscheinen und bis zum Errichten der polnischen Grenzmauer war es eine bessere Möglichkeit als im Mittelmeer zu ersaufen oder auf unbestimmte Zeit unter Plastikplanen auf griechischen Inseln oder dem Balkan zu verharren.

    Wenn das Asylrecht in der Praxis nicht faktisch ausgehebelt worden wäre, würde doch kein Mensch solche lebensgefährlichen Strapazen auf sich nehmen. Es ist mehr als wohlfeil, auf Lukaschenko als Alleinschuldigen einzudreschen und verfängt obendrein kaum. Die teuren ThinkTanks in den USA hätten bessere Strategien abliefern sollen. Abgesehen davon hat es sich längst herumgesprochen, dass Polen inzwischen dicht ist und es versuchen kaum noch Leute über diese Route.

    Leider werden von Politik und Medien die Geflüchteten nur als politische und propagandistische Manövriermasse gesehen und entsprechend benutzt und verwaltet. Kaum jemand macht sich die Mühe, mit diesen Menschen wirklich zu reden. Ich bin beruflich in der Flüchtlingsbetreuung tätig und gewinne durch viele tägliche Gespräche ganz andere Eindrücke als diejenigen, die in den Medien und aus Politikermund regelmäßig kolportiert werden.

  • Ohne kontrollierte, sichere Aussengrenzen kein Schengen nach innen!

    Griechenland hat seine Grenzen und damit einen militanten Angriff auf seine staatliche



    Souveränität erfolgreich abgewehrt.



    Erdogans Erpressungspotential ist seither erheblich gemindert

    Auch Lukaschenko wird bei robuster Gegenwehr, mit dieser Strategie bald scheitern.