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Die guten Menschen von Mostar

Seit dieser Woche ist der Deutsche Christian Schmidt Hoher Repräsentant in Bosnien und Herzegowina. Er kommt in ein Land, in dem sich die Zivilgesellschaft gegen die Herrschaft der korrupten nationalistischen Parteien wehrt

Aus Mostar Erich Rathfelder

Štefica Galić ist eine Ikone der Zivilgesellschaft in Bosnien und Herzegowina. Seit einigen Jahren wird sie mit Preisen geehrt, ihr Nachrichten- und Diskussionsportal Portal tacno.net gehört zu den meistgelesenen in der Region. Doch Štefica ist eine sehr bescheidene Person. Sie deutet auf das weite Tal unterhalb der Terrasse des Hauses. „Mein Land ist so schön und fruchtbar, liegt so friedlich und ruhig vor uns, dass man für einen Moment die ganze schreckliche Geschichte vergessen kann.“

Sie hat einige Früchte aus der Gegend auf den Tisch gestellt. Die Melone ist frisch aufgeschnitten und auch die Pfirsiche sind so saftig, als wären sie gerade vom Baum gepflückt. Die grünlich schimmernde Neretva kann man von hier zwar nicht sehen, nur ahnen, einige Baumreihen verraten ihren Lauf. In den Bergen südlich von Sarajevo entspringend, hat dieses klare Gewässer gewaltige Schluchten gegraben, bis es dann dieses vor uns liegende breitere Tal um Mostar durchläuft, um schließlich bei der kroatischen Stadt Ploče in der Adria zu münden. Am westlichen Ufer verschwimmen die Berge in dem Dunst dieses heißen Sommertages.

In die Freude über diesen Blick mischt sich Melancholie. Denn dort drüben in der Westherzegowina liegt ihre Heimatstadt Ljubuški, von Weinbergen umgeben, mit einer aus dem Mittelalter stammenden Burg­ruine. Das war die Festung des im 14. Jahrhundert mächtigen Herzogs Stjepan Vukčić Kosača, die dem Vormarsch der Osmanen trotzen sollte. Vergeblich.

Štefica lacht. „Wir haben eine reiche Geschichte.“ In der Westherzegowina konnte sich die katholische Bevölkerung auch unter den 400 Jahren osmanischer Herrschaft halten, in der Ostherzegowina die orthodoxe Bevölkerung, in der Stadt Mostar mischten sich Muslime, Katholiken, Orthodoxe und Juden zu einer kulturell produktiven Stadtkultur. Das änderte sich auch nicht, als die Habsburger ab 1878 Bosnien und Herzegowina verwalteten.

„Auch im Jugoslawien vor dem Krieg 1992 haben wir alle gut zusammengelebt.“ Der Region ging es gut. „Sieh da unten, dieses jetzt kaum genutzte Rollfeld ist der Flughafen“. In Mostar gab es moderne Industrien, Aluminium, Hubschrauber wurden hier hergestellt, auch Elektronik für Flugzeuge, der Wein der Region war ein Exportschlager. „Aber das alles wurde durch den Krieg der Nationalisten zerstört.“ Auch ihr Leben in der damals noch beschaulichen Provinzstadt.

Nach Ljubuški kann sie nicht mehr zurück. Dort herrscht wie in der ganzen Westherzegowina seit dem Kriege die extrem nationalistische Kroaten-Partei HDZ-BIH (Kroatische Demokratische Gemeinschaft). Das ist die Schwesterpartei der regierenden HDZ in Kroatien, die auch von dort mit Unterstützung rechnen kann. Štefica dagegen kann in ihre Heimat nicht mehr zurückkehren, denn in den Augen der kroatischen Nationalisten ist sie eine Verbrecherin. Gemeinsam mit ihrem Mann Nedeljko hat sie 1993 Hunderte muslimischer Nachbarn vor den Häschern der kroatisch-nationalistischen Radikalen gerettet. Damals hatten die kroatischen Extremisten den „Krieg im Kriege“ begonnen und versuchten, die von ihnen militärisch kontrollierten Gebiete ethnisch zu säubern, das heißt alle Nichtkroaten aus diesen Gebieten mit Gewalt zu vertreiben.

Das Ehepaar besaß ein Fotokopiergeschäft und fälschte Bescheinigungen, mit denen die Verfolgten an den Kontrollstellen der kroatisch-bosnischen Armee HVO durchgelassen wurden. Damit retteten sie Hunderten von Menschen das Leben. Sie selbst mussten 1994 ihre Heimatstadt verlassen und nach Schweden fliehen.

Nach ihrer Rückkehr von dort wurde die Familie angefeindet. Man wollte ihnen nicht verzeihen, dass sie gegen den Strom geschwommen war und weiterhin über die Verbrechen der kroatischen Seite, aber auch über die Korruption der nun Herrschenden offen sprach. Ihr Mann starb 2001.

Štefica wurde als „Volksverräterin“ abgestempelt und ihre Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, zu Unpersonen in ihrer Heimat. Sie bekamen keine Arbeit, das Fotokopiergeschäft wurde boykottiert, Štefica musste sich als Saisonarbeiterin in Italien verdingen, um zu überleben. Doch die Familie hielt zusammen. Štefica gründete 2010 die Internetzeitung tacno.net, ihre Kinder fanden gelegentlich Jobs als freischaffende Designer und Computerspezialisten. Die Anfeindungen zwangen sie, 2014 nach Mostar umzusiedeln. Ihre kompromisslose Haltung den Nationalisten gegenüber aber machte sie bei Intellektuellen, Journalisten und vielen Menschen bekannt. Inzwischen gehört ihr Portal zu den am meisten gelesenen in Bosnien und Herzegowina, Autoren aus allen Bevölkerungsgruppen diskutieren mit. Ihre Söhne haben das Land allerdings Richtung Istrien und Zagreb verlassen, ihre Tochter lebt in Sarajevo.

Manipulationen der Geschichte gehören zum Handwerkszeug aller Nationalisten und Rechtsradikalen. Als am 29. November 2017 das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Haag den Generalstabschef der kroatischen Streitkräfte HVO, Slobodan Praljak, mit fünf weiteren Angeklagten wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und wegen der Zerstörung der Altstadt Mostars und der berühmten Alten Brücke verurteilt werden sollte, schluckte er Gift und starb. Der ehemalige Schauspieler und Regisseur hatte – wie enge Weggefährten glauben – seinen theatralischen Abgang durchaus strategisch geplant, denn an diesem Tag berichtete weltweit niemand mehr über die Verbrechen der kroatischen Seite während des Bosnienkriegs. Nur über seinen Selbstmord.

Mehr noch: Vor allem in Kroatien führte seine Tat zu einer weiteren Solidarisierung mit den bosnisch-kroatischen Nationalisten. Im kroatischen Parlament wurden Trauerreden gehalten, in den Kirchen der Kriegshelden gedacht, es drehte sich die Stimmung zugunsten der Radikalen. Die Kroaten in Bosnien werden in Kroatien seither verstärkt als Opfer der Geschichte angesehen. Die Angeklagten und die kroatischen Kämpfer hätten damals nur die Kroaten Bosnien und Herzegowinas verteidigt, das ist der jetzt dominierende Tenor.

Für den 1964 geborenen Faruk Kajtaz ist so was immer noch ein bedrückender und verletzender Vorgang. Zur gleichen Zeit, als Štefica Papiere fälschte, durchlebte Faruk die Hölle, die kroatischen Nationalisten wollten Mostar zur Hauptstadt des von ihnen damals beherrschten Gebietes machen und die muslimische Bevölkerung aus der Stadt vertreiben. Mehr als 3.000 Menschen starben im Granatenhagel auf die Altstadt. Faruk war mittendrin und berichtete aus den Ruinen.

„Wir müssen von der Zivilgesellschaft aus eine neue Politik formulieren“

Irma Baralija, Menschenrechtsaktivistin

Wie Štefica gibt er heute ein Internetmagazin heraus, es heißt starmo.ba und ist mehr auf News spezialisiert. Er möchte korrekte, nicht ideologisch gefärbte Informationen verbreiten. Von seinem Büro mitten im Zentrum der Altstadt aus, kaum 100 Meter von der wiederaufgebauten alten Brücke entfernt, kann man mit einem Blick aus dem Fenster noch immer Spuren des Krieges zu entdecken.

Das aufgrund des Drucks der Amerikaner zustande gekommene Washingtoner Abkommen im März 1994 beendete den kroatisch-bosniakischen Krieg in der Herzegowina und führte zur Gründung der Föderation Bosnien und Herzegowina, die dann später im Friedensvertrag von Dayton neben der serbischen Republika Srpska zu einer der beiden Teilstaaten Bosnien und Herzegowinas wurde.

Doch die Wunden, vor allem bei der bosniakischen Bevölkerung, blieben in Mostar bis heute bestehen, sagt ­Faruk. Er resümiert die letzten Jahrzehnte, den Wiederaufbau durch Hans Koschnick, Ex-Bürgermeister von Bremen und Chef der nach dem Krieg eingesetzten EU-Administration, der auch das Geld für den Wiederaufbau der Alten Brücke in Mostar beschaffte. Er analysiert die langsame Annäherung der beiden Nationalparteien, der HDZ und der muslimischen SDA, Partei der demokratischen Aktion, die zu einer Aufteilung der Pfründen zwischen beiden Seiten führte. Im Westen herrschte die HDZ, im Osten die SDA in der ehemals 100.000 Einwohner zählenden Stadt, den Eliten beider Seiten ging es gut. Sie hatten die Macht und verteilten Jobs und Privilegien an ihre Parteigänger. Die normale Bevölkerung beider Seiten aber litt unter der Kleptokratie. „Demokratie brauchte man nicht.“ Seit 2008 gab es keine Kommunalwahlen mehr.

Das wollten 2014 vor allem jüngere Menschen nicht mehr hinnehmen. Wie in der ganzen Föderation verbündeten sich in Mostar junge Menschen von beiden Seiten und attackierten die Parteizentralen von HDZ und SDA. Doch die Bewegung wurde durch die große Flutkatastrophe, als große Teile des Landes unter Wasser standen, buchstäblich hinweggespült. Nach dem Aufstand konsolidierten die Eliten gemeinsam ihre Macht. Tausende junge Menschen verließen nach und nach die Stadt.

„Wir müssen von der Zivilgesellschaft aus eine neue Politik formulieren“, forderte daraufhin die Menschenrechtsaktivistin Irma Baralija. Als einzelne Bürgerin rief die Enddreißigerin 2018 den Gerichtshof in Straßburg an. 10 Jahre habe es keine Wahlen in Mostar gegeben, das sei gegen europäisches Recht. Sie gewann den Prozess zur Verwunderung der Eliten und auch der internationalen Gemeinschaft in der Stadt. So mussten im November 2020 Wahlen abgehalten werden.

Man kann also was erreichen, wenn man nur will, war die Erfahrung. Baralija ist jetzt als Vertreterin der nichtnationalistischen liberalen Partei Naša stranka Mitglied im Stadtrat. Ihre Hoffnung, bei den unter dem neuen Wahlgesetz stattfindenden Wahlen könnten die nationalen Grenzen überschritten werden, hat sich nur in bescheidenem Maße erfüllt. Immerhin ist mit dem Auftauchen kleinerer Parteien auch auf der kroatischen Seite etwas Bewegung in die politische Szenerie gekommen und ihr Parteienbündnis hat immerhin 7 Sitze im Stadtparlament gewonnen.

Amna Popovac ist eine sehr gebildete, aktive und umsichtige Frau, die nichts davon hält, immer wieder nur über den Krieg und die Vergangenheit zu sprechen. Sie stammt aus dem südlich von Mostar gelegenen Ort Čapljina, wo 1993 brutale ethnische Säuberungen gegen Serben und Muslime stattgefunden haben. Diese Vergangenheit will sie überwinden.

Sie glaubt, es ist Zeit, dass sich Menschen von allen Seiten zusammentun, um gemeinsam konkrete Probleme zu lösen. Popovac ist Ingenieurin und Unternehmerin, sie ist international vernetzt mit Organisationen und Menschen, die für Umweltschutz kämpfen, für Frauen- und Menschenrechte. Sie hat auch als Direktorin einer privaten Radiostation, gearbeitet und als Universitätslehrerin für Kommunikation im Unternehmensbereich. Von 1999 bis 2006 arbeitete sie im Büro des Hohen Repräsentanten. Jetzt will Amna Popovac eine grüne Partei gründen.

Sie war im letzten Jahr noch bei der „Plattform für Fortschritt“ engagiert, einer nichtnationalistischen Partei, doch innerparteiliche Querelen zwangen sie zum Austritt. Amna will die Menschen von unten nach oben organisieren, die überall im Lande existierenden Umweltgruppen, die auf lokaler Ebene durchaus erfolgreich, aber auf der Entitätsebene und der nationalen Ebene unterpräsentiert sind, zusammenzufügen. In dem nördlich von Mostar gelegenen mehrheitlich bosniakischen Dorf Vrapčići wurde eine Deponie angelegt, in dem vor allem der Müll der kroatischen Seite entsorgt wird. Es sei eine Deponie, die ungeheuren Gestank verbreite, die Abwässer hätten das Grundwasser vergiftet, vor allem bei Kindern mehren sich die Krankheiten, die Bevölkerung sei erbost und wehre sich, bisher ohne Erfolg. SDA und HDZ hätten sich auf Kosten der Bewohner geeinigt. „Wie viel Geld ist das geflossen?“, fragt sie. „Die Umweltbewegung muss auf allen Ebenen stärker werden“, und hofft auf Unterstützung von Umweltverbänden und Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland.

Es kann nicht mehr so weitergehen wie bisher. So viele junge Leute haben das Land verlassen, das bedauern Amna, Faruk und Štefica gleichermaßen. „Wer will schon in einem Land leben, wo die Polizei und die Gerichte auf der Seite von korrupten Nationalisten stehen“, sagt Štefica. Und sie ist traurig. Denn wer soll nach dem Abgang von fast 500.000 jungen Leuten seit 2014 den notwendigen Wandel in Bosnien mit jetzt nur noch 3,3 Millionen Einwohnern durchsetzen?

Immerhin habe der scheidende Hohe Repräsentant, Valentin Inzko, den Mut gehabt, die Verherrlichung von Kriegsverbrechen unter Strafe zu stellen. Und der neue Hohe Repräsentant, Christian Schmidt, könne weitere Weichen stellen, sagt Amna, sie ist froh, dass er ein Deutscher ist, denn der ganze Balkan setze Hoffnungen auf das demokratische Deutschland.

Für Štefica ist die Person Schmidt noch unklar, sie ist aber froh, dass es überhaupt einen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina gibt, der dem Treiben der Nationalisten Einhalt gebieten könne. Und alle hoffen, dass für die Jugend aus allen Volksgruppen bald eine Perspektive geschaffen wird, um dann hier bleiben zu können.

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