Parafaschismus in Belarus: Zum Präsidenten geboren

Der Lukaschenko-Clan duldet niemanden neben sich. Gesetze werden willkürlich erlassen. Janka Belarus über stürmische Zeiten in Minsk. Folge 102.

Lukaschenko in Uniform

Lukaschenko besucht eine Truppenübung von Russland und Belarus am 12.09.2021 Foto: BelTA/ap

In Belarus ist das Rechtssystem mittlerweile völlig zerstört. Ersetzt wurde es durch etwas, das charakteristische Merkmal des Faschismus trägt – die sozialdarwinistische Philosophie des „Führerprinzips“ (im Original Deutsch; Anm. d. Redaktion), wie es erstmals von Herman von Keyserling formuliert wurde.

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Aktuell geht es darum, dass „man zum Präsidenten geboren wird“: das Monopol auf Recht, Gesetz und Macht hat der Lukaschenko-Clan (und der ähnelt dem sizilianischen Mafia-Syndikat). Lukaschenko spricht gerade viel davon, dass er seinen außerehelichen 16-jährigen Sohn Nikolai als nächsten belarussischen Präsidenten sieht. Und solche Ideen werden auf der Grundlage der Aufteilung des Landes zwischen Angehörigen des Lukaschenko-Clans, des militärischen Flügels (Armee) und der Zivilbevölkerung formuliert.

Der Wille und die Interpretation von Gesetzen durch die Angehörigen der Machtvertikale und der Junta-Kämpfer auf allen staatlichen Ebenen wurden bereits über den Gesetzgebungsakt festgelegt. Das Gesetz selbst ist schon ein willkürlicher Zufallsakt. Seit der Installierung des parafaschistischen Regimes gibt es zehntausende Gesetzesvarianten in Belarus – und jede davon ist ein Resultat der willkürlichen Interpretation dessen, was Lukaschenko sagt, durch eben diese Vertreter der Machtvertikalen. Das hat nichts mit mehr mit gesetzlichem Standard zu tun – es zeigt die komplette Zerstörung des Rechtssystems.

Aus allem, was Lukaschenko irgendwann einmal äußert, werden systematisch Gesetze gemacht. Diese kommen dann auch bei unmittelbaren Konflikten mit Anforderungen an die Verfassung und andere normativ-rechtliche Akte zur Anwendung. Jeder kleine Beamte kann damit willkürlich Gesetze auslegen und diese Auslegung steht automatisch über jeder Rechtsnorm. So wird das Rechtssystem völlig unberechenbar.

Nach den Regeln des „Führerprinzips“ wird jeder noch so verbrecherische Befehl zu einem neuen Gesetz, faktisch zu einer Vertonung des Befehls. Daher können zum Beispiel Mordopfer nach dieser Ethik des eigenen gewaltsamen Todes für schuldig befunden werden, zumindest jedoch für das Verlassen ihres Lebens.

Nachdem es die Kämpfer Lukaschenkos übernommen haben, die Forderungen von Patruschew (=Putin) (Nikolai Platonowitsch Patruschew ist ein russischer Offizier. Er war von 9. August 1999 bis 12. Mai 2008 Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB, Anm. d. Redaktion) nach der vollständigen „Säuberung“ der belarussischen Zivilgesellschaft zu erfüllen, hat in unserem Land der Übergang zu einer neuen Form des Autoritarismus – dem Parafaschismus – begonnen. (Im Juli hatte Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin angekündigt, rigoros gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen. Zahlreiche NGOs wurden daraufhin verboten, Schrift­stel­le­r*in­nen und Medienschaffende verhaftet; Anm. der Redaktion).

Vom klassischen Faschismus, der bisher in Belarus existierte, unterscheidet er sich lediglich durch das Fehlen der kohärenten Ideologie eines „neuen“ nationalen Charakters, der Erziehung des „großen Belarussen der Zukunft“. In allem anderen ist Belarus schon ein faschistischer Staat, wie die Regime von Mussolini und Franko, die sich auf Führerschaft, Staatsterror und die Unterdrückung aller abweichenden Meinungen verließen.

Lukaschenko und seine Truppe stellen sich nicht nur nicht der Aufgabe, eine neue Gesellschaft aufzubauen oder den „Menschen der Zukunft“ zu gestalten. Sie haben einfach überhaupt keine stabile Ideologie. Die Ideologie des belarussischen Parafaschismus ist äußerst situativ: heute dient sich das Regime schmarotzend als Freund dem Kreml an, morgen verteidigt es seine Souveränität gegen die russischen Aggressionen. Es ist die Ideologie eines Chamäleons, das bereit ist, jede beliebige ideologische Färbung anzunehmen.

Welcher Platz bleibt in diesem System noch für die Bürger*innen? Im November 2020 (nach der faktischen Einführung des Kriegszustandes) wurde den belarussischen Bür­ge­r*in­nen das Recht auf friedliche Äußerung abweichender Meinungen in egal welcher Form genommen. Jetzt, im Spätsommer 2021, hat sich das Regime zur Aufgabe gemacht, jegliche Bürgerbeteiligung überhaupt komplett zu verbieten. Die Bür­ge­r*in­nen haben nicht mehr das Recht, irgendwas zu tun, das auch nur ansatzweise mit der Funktionsfähigkeit des kriminellen Clans konkurriert oder dessen Lebensfähigkeit in Frage stellt.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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ist 45 Jahre alt und lebt und arbeitet in Minsk. Das Lebensmotto: Ich mag es zu beobachten, zuzuhören, zu fühlen, zu berühren und zu riechen. Über Themen schreiben, die provozieren. Wegen der aktuellen Situation erscheinen Belarus' Beiträge unter Pseudonym.

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