„Junge Welt“ im Verfassungsschutzbericht: Fehl am Platz
Laut Innenministerium verstößt Marximus gegen die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Da hat wohl jemand was falsch verstanden.
I st der marxistische Klassenbegriff verfassungsfeindlich? Wenn man dem CDU-Politiker Günter Krings, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, folgt, dann ist das so. Krings hat eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zur Nennung der Tageszeitung junge Welt (jW) im Verfassungsschutzbericht beantwortet. Dort bescheinigt er dem Marxismus, gegen die „Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zu verstoßen.
„Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ‚bloßen Objekt‘ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der Einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“
Mittels des Klassenbegriffs wird allerdings kein Mensch „einem Kollektiv untergeordnet“. Vielmehr wird jeder Mensch im Rahmen der Sozialstrukturanalyse einer (als „Klasse“ bezeichneten) Großgruppe zugeordnet. Das tun alle Soziologen, auch solche, die dem Klassen- den Schichtbegriff vorziehen.
hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ veröffentlicht.
Man muss übrigens kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Einer kleinen Minderheit der Bevölkerung gehören die Unternehmen, Banken und Versicherungen, während die große Mehrheit ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um gut leben zu können.
Auch klassenlose Gesellschaft wäre dann verfassungsfeindlich
Zudem ist Krings’ Antwort zu entnehmen, dass auch das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft verfassungsfeindlich ist – also die Beseitigung dessen, was doch der Menschenwürde widerspricht. Das „wesentliche Ziel“ einer „marxistischen Grundüberzeugung“ ist es laut Krings, „die freiheitliche Demokratie durch eine sozialistische/kommunistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen“.
Nicht die Demokratie soll jedoch durch eine andere Gesellschaftsordnung ersetzt werden, sondern das kapitalistische Wirtschaftssystem. Hier urteilt ein Jurist über den Marxismus, der ihn offenbar nicht versteht oder bösartig verdreht. Jemand wie er ist daher fehl am Platze.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl