piwik no script img

Kremlkritiker in russischem StraflagerSorge um Nawalny

Der Gesundheitszustand des inhaftierten Kremlkritikers verschlechtert sich zusehends. Wichtige Medikamente werden ihm vorenthalten.

Anastasia Wassiljewa, Nawalnys Augenärztin, wurde von der Lagerleitung nicht zu Nawalny gelassen Foto: Pavel Golovki/ap/dpa

Moskau taz | Sie brauchten mehrere Tage, doch dann klappte es endlich: Am Mittwoch ist es den Anwälten des inhaftierten Oppositionellen Alexei Nawalny gelungen, zu ihrem Mandanten im Straflager Pokrow IK-2 vorzudringen. „Er sieht schlecht aus und fühlt sich auch nicht gut“, meinte Nawalnys Rechtsbeistand Olga Michailowa nach dem Besuch des Lagers 100 Kilometer östlich von Moskau.

Der Widersacher von Präsident Wladimir Putin hatte vor acht Tagen aus Protest gegen die Haftbedingungen einen Hungerstreik begonnen. Die Lagerleitung verweigerte ihm eine angemessene medizinische Betreuung und war auch nicht bereit, auf Wunsch Nawalnys Ärzte zu ihm vorzulassen.

Nach einer Woche Hungerstreik soll Nawalny rund 13 Kilogramm abgenommen haben. Bei seiner Ankunft im Lager hatte der 189 Zentimeter große Kreml-Kritiker noch 93 Kilogramm auf die Waage gebracht. Sein Anwalt Wadim Kobsew geht von einem täglichen Gewichtsverlust von einem Kilogramm aus.

Nach wie vor klagt Nawalny über Taubheitsgefühle in beiden Beinen, auch die Hände sollen inzwischen betroffen sein. Zunächst hatte er über starke Schmerzen im Rücken und Husten geklagt. Zudem hatte er mit 38,1 auch erhöhte Temperatur. „Alexei kann zwar selbständig gehen, hat dabei aber Schmerzen“. Beunruhigend sei, dass die Sensibilität in Beinen, Handballen und Händen allmählich nachlasse.

Ängste der Lagerleitung

Michailowa hatte vorher darauf hingewiesen, dass die Lagerleitung befürchte, ein unabhängiger Facharzt von außen könnte betätigen, dass die minimale Behandlung vor Ort „zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes“ geführt haben könnte.

Ergebnisse einer Computertomographie teilte die Leitung dem Patienten bislang ebenfalls nicht mit. Dazu sei sie nicht verpflichtet, hieß es. Sie weigerte sich auch, dem Oppositionellen Medikamente zu übergeben, die im Lager für ihn abgegeben worden waren.

Auch gegen den Hungerstreik des Häftlings versucht die Lagerleitung vorzugehen. Auf Instagram ließ Nawalny mitteilen, dass sich in seinen Taschen plötzlich Süßigkeiten befänden. „Oh Alexei, was sind denn das hier für Bonbons?“, soll sich das Wachpersonal ironisch erkundigt haben.

Außerdem bestellte das Lager mehr als 1.200 Hühner für den schnellen Verzehr. In der Baracke werden auf einem extra aufgestellten Herd nun saftige „Broiler“ gebraten, die den Streikenden verführen sollen. „Das System glaubt nicht daran, dass sich jemand zwischen Ideen und Hähnchen für Ideen entscheiden kann“, hieß es auf Instagram.

Nachts wird er jede Stunde geweckt

Die Ärztegewerkschaft (Allianz der Ärzte) hatte bereits am Dienstag kritisiert, dass Nawalny keine ausreichende medizinische Hilfe erhalte. Außerdem würde er nachts jede Stunde vom Wachpersonal geweckt. Auch Schlafentzug gilt als Foltermethode. Die Vorsitzende der Allianz, Anastasia Wassiljewa, war nach Pokrow gereist, wurde aber von der Lagerleitung nicht zu Nawalny vorgelassen.

Auch die Vorgesetzten des Strafvollzugs befanden sich angeblich nicht vor Ort. Mehrere Gewerkschaftsmitglieder und Journalisten wurden am Dienstag festgenommen, in einen Gefangenentransporter verfrachtet, jedoch später wieder freigelassen. Anastasia Wassiljewa ist Nawalnys Augenärztin. Sie hatte ihn behandelt, nachdem Rechtsradikale ihm im Frühjahr 2017 eine ätzende Tinktur in die Augen gegossen hatten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Erstaunlich welche Informationsflut wir über einen Gefangenen Russen haben. Früher wäre das nicht möglich gewesen!



    Man weiß über den Zustand Nawalnys ja mehr als über Assange.

  • Was vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit Nawalny gemacht wird, ist einfach nur ungeheuerlich. Niemand im System der Strafvollzugsbehörde würde es wagen, aus eigenem Antrieb einen prominenten Gefangenen so zu behandeln. So wie Nawalny nicht wegen des russischen Strafgesetzbuches, sondern ausschließlich aufgrund Putins persönlicher Entscheidung am Flughafen gefangengenommen und nach zwei bizarren Schauprozessen weggesperrt wurde (juristische Begriffe wie „Verhaftung“ und „Urteil“ lasse bewusst ich weg, weil sie nicht adäquat sind), so hat Putin nun offenbar entschieden, seinem gefährlichsten politischen Gegner demonstrativ den Rest zu geben.

    Für Nawalny ist das eine schlimme Situation, weil er vielleicht sein Leben verliert. Die gute Nachricht ist, dass Putin, wenn er jetzt Rache nimmt, sich von jeglicher politischen Rationalität verabschiedet. Was sein Ende in greifbare Nähe rückt. Ein rationales Motiv könnten allenfalls sein, dass er hofft, Nawalny könnte sich, wenn er nur genug körperlich geschädigt wird, auf einen Deal einlassen und bspw. gegen Freilassung das Land verlassen.

    Aber das wird nicht passieren. Ebenso wenig wird die Opposition ohne Nawalny ihre Arbeit einstellen oder an Reichweite verlieren. Im Gegenteil.

    Wenn man die aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums anschaut, halten 18 % aller Befragten die Verurteilung Nawalnys vom Februar für Unrecht und finden, dass er freigelassen werden sollte. (29% halten das Urteil für Unrecht, und davon 61% sind für die Freilassung).

    Quelle: meduza.io/news/202...omu-nespravedlivym

    In absolute Zahlen umgesetzt sind das 19 Mio. Wahlbürger. Was sich nicht (sofort) in Protest umsetzt, und auch nicht in Nawalny-Wählerschaft. Aber dennoch: Meint Putin etwa, er könne diese Menschen mit seinem zynischen Gehabe wieder auf seine Seite ziehen? Oder hält er 19 Mio. für „wenig“ und „handhabbar“? Dann wird ihm der Laden bald um die Ohren fliegen.

  • Schnell umbringen hat nicht funktioniert, also versucht man es nun auf die langsame Tour.

  • Das alles erinnert in vieler Hinsicht an Julian Assange. Auch dort haben Ärzte Artikel bveröffentlicht, der UN Sonderbeauftragte für Folter setzt sich seit Jahren für ihn ein, Reporter ohne Grenzen, Amnesty, die EU Menschenrechtsbeauftragte, Journalistenverbände etc.



    Russland wird es so machen wie GB: alles ignorieren. Und im Westen kann man sich kaum beklagen darüber.