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Kommentar von Patricia HechtDie Sache groß machen

Sie schreibt grüne Geschichte: Annalena Baerbock ist die erste grüne Kanzlerkandidatin und die jüngste aller KandidatInnen, die sich hierzulande je zur Wahl gestellt hat. Am Montag um 11 Uhr lüftete ihr Co-Chef Robert Habeck das in den vergangenen Monaten bestgehütete Geheimnis der Partei. Es beginne „ein neues Kapitel für unsere Partei und, wenn wir es gut machen, auch für unser Land“, sagte Baerbock in ihrer ersten Rede als frisch erklärte Kanzlerkandidatin.

Eine andere als diese Entscheidung in der K-Frage wäre für die Grünen, die seit ihrer Gründung auf die Frauenfrage pochen und dennoch vor allem ihre Macker pushten, frauenpolitisch vernichtend gewesen. Robert Habeck, der sich als Feminist präsentiert – und wenn es darauf ankommt, doch nach vorn prescht und gönnerhaft Stellvertreterinnen benennt? Nahezu unvorstellbar.

Und trotzdem: Die sicherere Bank wäre er wohl gewesen. Armin Laschet, Markus Söder, Olaf Scholz und ein wandelnder Schwiegermuttertraum dazu, fertig ist das Immergleiche. Eine Frau hingegen, eine junge noch dazu, gilt in der bundesdeutschen Politik noch immer als Wagnis. Die Referenzgröße ist der Mann, Abweichungen müssen erklärt werden.

Das weiß Baerbock – und so hielt sie ihre Rede am Montag. Sie präsentierte sich als Kandidatin für die Breite der Gesellschaft. Sie betonte ihre Rolle als Mutter, gar als künftige Großmutter. Sie gab sich als mittige Versöhnerin und Reala, die „Angebote“ machen will und auf Klima, Kitas, Schule, Pflege, starke Wirtschaft und sozialen Zusammenhalt setzt. Frauenpolitik? Fehlanzeige. Zu provokant, zu nischig scheint das, was die Hälfte der Gesellschaft betrifft, an einer solchen prominenten Stelle wie der Rede zur Kanzlerinnenkandidatur noch immer zu sein.

Dabei sind die Zeiten in dieser Hinsicht für Annalena Baerbock besser, als sie es noch für Angela Merkel waren, das ja. Aber noch immer müssen sich Frauen gegen misogyne Muster wehren, noch immer wird es für manche so aussehen, als ob sich da eine nehmen will, was ihr qua Geschlecht nicht zusteht: Macht. Doch darin liegt auch eine Chance. Möglich, dass die Völkerrechtlerin, Klima- und Umweltexpertin Baerbock nicht die mittelmäßige Nummer sicher ist, die Habeck gewesen wäre. Baerbock kann untergehen, klar – aber sie kann die Sache auch groß machen.

Aus feministischer Perspektive ist dabei nun entscheidend, wie der Wahlkampf aussieht, wie ihre Politik aussehen wird. Wen holt sie, wie spricht sie, wie führt sie, wo setzt sie Schwerpunkte? Welche Rolle spielen Parité, Gewaltschutz, Equal Pay, Equal Pension, der Abtreibungsparagraf 219a? Alles das sind Themen, zu denen sich Baerbock zumindest in der Vergangenheit klar positioniert hatte.

Angela Merkel hat Frauenfragen erst gegen Ende ihrer Zeit als Kanzlerin angesprochen, und auch da nur punktuell. Als Vertreterin einer neuen und jungen Generation von Frauen, als Feministin, als die sich Baerbock bisher recht glaubhaft inszenierte, muss die neue potenzielle Kanzlerin das anders halten.

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