: Der Druck für Lockerungen wächst
Öffnungsschritte sollte es eigentlich erst unter einem Inzidenzwert von 35 geben, nun schon bei 100
Von Felix Lee
Noch bei der letzten Bund-Länder-Runde hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gewarnt, mögliche Lockerungen der Coronaregeln auf keinen Fall an einem Inzidenzwert von 50 zu orientieren, sondern erst, wenn der Wert auf unter 35 gesunken ist. Bei einer 7-Tage-Inzidenz von 50 pro 100.000 Einwohner*innen seien die Krankenhäuser rasch überfüllt, mahnte sie.
Seitdem hat es kein Bundesland geschafft die Inzidenz über einen längeren Zeitraum auf unter 50 zu drücken. Sie lag am Mittwoch bundesweit bei 64. Trotzdem waren Kanzlerin und die Ministerpräsident*innen der Länder laut Beschlussvorlage drauf und dran, diese Grenze massiv aufzuweichen und weitere Öffnungsschritte auch unter einer 7-Tage-Inzidenz von 100 zu ermöglichen. Ein endgültiges Ergebnis der mehrstündigen Beratung am Mittwoch lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor.
Diese Regelung sei ergänzend zu der bisher vorgesehenen Inzidenz von 35 vorgesehen, heißt es in dem der taz vorliegenden Entwurf von Mittwochvormittag. Sie könnte frühere Öffnungen etwa von Einzelhandel und Außengastronomie möglich machen. Sie seien aber an Auflagen, wie etwa Voranmeldungen und vermehrtes Testen, geknüpft. Die Schwelle von 100 soll zugleich eine „Notbremse“ sein, heißt es zudem. Wenn die Neuinfektionszahlen darüber steigen, soll die für den 8. März vorgesehene Lockerung der Kontaktbeschränkungen wieder zurückgenommen werden müssen.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hielt es für eine gefährliche Entscheidung, sollte es am Mittwochnachmittag tatsächlich zu einer solchen Einigung gekommen sein. „Die Inzidenz 100 wird man Anfang April erreicht haben, und dann kommen wieder stärkere Einschränkungen“, warnte er. Bis dahin seien dann „ein paar tausend Menschen zusätzlich gestorben“. Ähnlich sah es der stellvertretende Unions-Fraktionschef Thorsten Frei (CDU). Öffnungen schon bei einem Inzidenzwert von 100 dürfe es nicht geben, warnte auch er. „100 ist eindeutig zu viel“, sagte er auf RTL/ntv. Dann sei eine individuelle Nachverfolgbarkeit nicht mehr möglich.
Sollten die Coronamaßnahmen wirklich erst ab einem Grenzwert von 100 verschärft werden, könnte das Infektionsgeschehen rasch wieder außer Kontrolle geraten. Schon die in der zweiten Februarhälfte erfolgten Lockerungen gerade im Schulbereich führten dazu, dass der im Januar noch zu beobachtende Abwärtstrend bei den Coronapatient*innen auf den Intensivstationen stark abgeschwächt ist. In einigen Regionen steigen die Zahlen auch schon wieder. Zwar gehen die meisten Experten davon aus, dass die Sterbezahl zunächst einmal zurückgehen wird, weil die meisten Hochbetagten geimpft sind; sie waren die am meisten gefährdete Gruppe. Doch bislang schreiten die Impfungen nicht so schnell voran, wie es mit den vorhandenen Impfdosen eigentlich möglich wäre. Zur Risikogruppe werden bundesweit zudem mehr als 30 Millionen Menschen gezählt. Es wird also noch Monate dauern, bis sie alle geimpft sind.
Mit Lockerungen bei einer Inzidenz von bereits unter 100 droht rasch wieder ein exponentieller Anstieg. Deutschland wäre damit an einem Punkt angelangt, an dem eine Durchseuchung entgegen der Zusicherung der Bundesregierung in Kauf genommen wird. Infiziert werden dann zwar vor allem Jüngere, von denen in absoluten Zahlen aber ebenfalls viele schwer erkranken können.
Auch die nationale Teststrategie könnte nicht mehr ganz so ambitioniert ausgefallen sein wie noch im ersten Entwurf am Dienstag vorgesehen war. Statt zwei kostenlose Schnelltests für alle Schüler*innen, Lehrer*innen und Erzieher*innen pro Präsenzwoche sah der aktuellste Entwurf nur noch einen kostenlosen Test vor.
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