SPD-Abgeordnete zu Wahlkampf 2021: „Der neutrale Staat ist zentral“

Was will die Berliner SPD bildungspolitisch im Wahlkampf? SPD-Abgeordnete Maja Lasić über neoliberale Ideen und Identitätspolitik in der Kopftuchfrage.

Drei Mädchen, eins davon trägt Kopftuch, sitzen auf einem Matten-Berg in einer Sporthalle

Eine Hypothek für die nächste Legislatur: Wie umgehen mit dem Kopftuch an Schulen? Foto: Michael Trippel/laif

taz: Frau Lasić, bitte vervollständigen Sie diesen Satz: Seit 25 Jahren verantwortet die SPD das Bildungsressort in Berlin – und das sieht man daran, dass …

Maja Lasić: … dass bestimmte Veränderungen im Bildungssystem sich Bahn gebrochen haben, die sonst nicht so schnell gekommen wären.

Was heißt das genau?

Nehmen Sie den kontinuierlichen Ausbau der Ganztagsschule, da ist Berlin Vorreiter, und das liegt an der Kontinuität einer Regierung, die sich einig ist in der Zielsetzung. Oder die Einstufung der Grundschullehrkräfte in die gleiche Gehaltsgruppe wie die Lehrkräfte an weiterführenden Schulen, auch da ist Berlin Vorreiter.

Maja Lasić

41, geb. in Mostar/Bosnien und Herzegowina, promovierte Biologin, sitzt seit 2016 für die SPD im Abgeordnetenhaus. Sie ist bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion.

Das ist jetzt schon recht kleinteilig, ich dachte da eher an so eine große sozialdemokratische Linie, die Sie jetzt vielleicht skizzieren wollen.

Es geht bei beiden Themen um Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit. Und dann kann man an dieser Stelle als Drittes auch noch die Schulstrukturreform 2010 nennen, als der damalige Bildungssenator Jürgen Zöllner die Hauptschule in Berlin abgeschafft hat: Wir haben jetzt das Gymnasium und die Sekundarschule beziehungsweise die Gemeinschaftsschule als zwei gleichwertige Schulsäulen in Berlin.

Tatsächlich bezeichnet die SPD „Chancengerechtigkeit“ als das bildungspolitisch „zentrale Ziel“ in dem Entwurf des Wahlprogramms für die Abgeordnetenhauswahl im Herbst. Wie wollen Sie verhindern, dass das nicht weitere fünf Jahre eine Phrase bleibt?

Indem wir klarer der Segregation in unseren Schulen den Kampf ansagen. Wir führen da noch zu oft ausschließlich die Strukturdebatte. Da landen wir dann bei der Frage, warum die Gemeinschaftsschule die richtige Schulform ist. Die Aussage ist richtig, ist aber zu kurz gegriffen. Wir haben innerhalb der Säule der Integrierten Sekundarschule und Gemeinschaftsschule auch eine starke Segregation mit Schulen mit 10 bis 20 Prozent und Schulen mit 80 bis 90 Prozent benachteiligte Schüler und Schülerinnen. Die Segregation ist unser zentrales Problem, das wir angehen müssen, die Debatte muss sich vor allem um diese Frage drehen. Daher geht es natürlich auch um Ressourcen, um die Frage, wie wir Schulen in schwieriger Lage besser ausstatten

Aber das versucht die amtierende Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) doch auch schon seit Jahren.

Ja, das stimmt. Wenn etwas dazukommt – sei es mehr Sozialarbeit, mehr Gelder für das Bonusprogramm oder eine bessere Personalausstattung – fangen wir bei diesen Schulen an.

Die Erfolge sind dennoch nicht messbar. Die Schulabbrecherquote stagniert, die Leistungen in Vergleichstests werden nicht besser, die Herkunft bestimmt den Bildungserfolg.

Genau das ist der Punkt. Und über diese Tatsache machen wir uns als SPD seit Jahren Gedanken: Wir haben die richtige Struktur, wir geben die Ressourcen rein, und trotzdem macht das offenbar noch keine gute Schule.

#Herzenssache ist der 100-seitige Entwurf für das Wahlprogramm der SPD zu den Abgeordnetenhauswahlen überschrieben. Beschlossen hatte es Ende Januar der Landesvorstand mit den Vorsitzenden Franziska Giffey und Raed Saleh. Nach einer Diskussion in den Ortsvereinen soll das Programm im April verabschiedet werden. Berlin wählt am 26. September zeitgleich mit der Bundestagswahl.

Die Schulen bleiben in der Hauptstadt noch bis zum 22. Februar geschlossen. Zunächst dürfen die Klassen 1 bis 3 wieder im Wechselunterricht mit Abstand und Maske zurückkehren. Die Kitas dürfen dann wieder etwas mehr Kinder im Notbetrieb aufnehmen: 60 statt 50 Prozent der normalen Auslastung. (taz)

Also, was wollen Sie tun?

Das Neue ist: Wir wollen die Ressourcenzuweisung künftig an messbare Daten zur Schulentwicklung koppeln. Wir wollen gerade in schwieriger Lage gute Schulen mit scharfen Profilen, die für alle Familien attraktiv sind und damit der Segregation entgegenwirken.

Leistung wird belohnt?

Wir haben ja bereits seit einiger Zeit ein Indikatorenmodell an den Schulen …

das von Scheeres 2019 eingeführte Ampelsystem für Faktoren wie Schulabbrecherquote, Gewaltmeldungen und Schülerleistungen?

Genau. Zum Beispiel kann eine Grundschule jetzt sehen: Aha, bei den Vergleichsarbeiten in der dritten Klasse stehen wir auf „Rot“, also muss ich in den nächsten drei bis fünf Jahren massiv in die Sprachförderung investieren. Jede zusätzliche Ressource, die ich bekomme, werde ich in dieser Richtung einsetzen, und das muss in Schulverträgen festgehalten werden. Dieses Controlling, klingt zunächst sehr neoliberal.

In der Tat!

Das ermöglicht erst den nötigen Handlungsspielraum der Schulen. Wir können die Schulen nicht in die Eigenständigkeit entlassen, und wir wollen ja in Berlin die eigenverantwortliche Schule, ohne zu fragen: Was tun die Schulen mit ihrer Selbstständigkeit? Und das finde ich auch legitim: Berlin setzt nach Hamburg die meisten Mittel pro Schülerin und Schüler ein, ohne dass wir uns nennenswert von der Stelle bewegen. Das muss besser werden.

Und dann klappt es mit den „besten Schulen in schwieriger Lage“?

Natürlich sind wir auf die PädagogInnen vor Ort angewiesen, und die müssen mitziehen wollen. Deswegen bekennen wir uns auch zur Verbeamtung und zu Entlastungsstunden für mehr Teamarbeit. Das sind Maßnahmen, mit denen wir die PädagogInnen überzeugen wollen, dass sie die Kraft haben, Schulen wirklich besser machen zu können. Im Übrigen verweigere ich mich der Analyse, mehr Ressourcen seien der einzige Weg zu einer besseren Schule – da sind wir wieder bei der Steuerung, dem Controlling. Eine bessere Schule geht auch mit den vorhandenen Ressourcen, mit mehr Ressourcen geht es nur noch besser.

Die Lockdowns zeigen: Corona vergrößert die Chancenungerechtigkeit. War die Entscheidung, ab 22. Februar zunächst lediglich die Klassen 1–3 im Wechselbetrieb zurückzuholen, die richtige?

Die schwierige Abwägung besteht darin, wen man bei der schrittweisen Rückkehr priorisiert. Die Abwägung erfolgt dabei zwischen dem bildungspolitisch Sinnvollen, gesundheitspolitisch Angebrachten und gesellschaftlich Akzeptierbaren.

Und daraus folgt konkret was?

Es wäre gesellschaftlich nicht vermittelbar, wenn wir die Rückkehr zur Präsenz allein anhand des sozialen Hintergrunds entscheiden würden. Daher bleibt uns nur die Rückkehr nach Alterskohorten, und es gibt gute Gründe, mit den ersten Klassen zu beginnen. Ich stehe jedoch dazu, dass ich mir die Rückkehr zu teilweisem Präsenzunterricht für alle Klassen wünsche. Hoffentlich werden uns die Inzidenzzahlen dies ermöglichen.

Wie lange kann man im fortgesetzten Homeschooling noch am Abitur, überhaupt an Noten festhalten?

Wir zeigen in Berlin deutlich, dass uns der Zugang zu pädagogischen Bezugspersonen wichtiger ist als die Prüfungen. Daher weichen wir dort, wo wir allein entscheiden können, vom üblichen Vorgehen ab: Wir verzichten auf schriftliche MSA-Prüfungen, auf Vergleichsarbeiten, führen Erleichterungen beim Abitur ein. Überall dort jedoch, wo KMK-Konsens notwendig ist, beißen wir auf Granit. Wir können unseren SchülerInnen keine Schlechterstellung gegenüber anderen Ländern zumuten. Das ist bitter, zeigt aber auch deutlich die Unterschiede innerhalb des Föderalismus auf. Ich bin froh eine Berliner Politikerin zu sein.

Noch ein Thema, wo Berlin einen Sonderweg geht, ist das Kopftuchverbot im Schuldienst. Scheeres hat vergangene Woche gesagt, sie werde das jüngste Urteil des Bundesarbeitsgerichts – Berlin muss sein Neutralitätsgesetz überarbeiten – vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten. Eine einsame Entscheidung der Senatorin oder Konsens in der Partei?

Den Weg zum Verfassungsgericht geht die Bildungsverwaltung. Ein Bekenntnis zum Neutralitätsgesetz ist jedoch für die SPD zentral, und da sind wir uns bemerkenswert einig. Aber für mich ist ganz klar: Das Gesetz muss auf gesunde Füße gestellt werden, das wird die Aufgabe der nächsten Legislatur.

Wie könnte man es für den Alltagsgebrauch konkretisieren?

Das wäre Gegenstand einer juristischen und politischen Auseinandersetzung. Es ist für mich übrigens eine der spannendsten Fragen für eine linke Person in Berlin: Wie geht man in der Identitätspolitik mit dieser Spannung aus individuellem Recht und den Interessen des Allgemeinwohls um? Da hebt sich die SPD von Linken und Grünen ab. Wir opfern nicht jeden Funken Gemeinwohl für die Stärkung der individuellen Rechte. Auch wenn es nicht attraktiv ist, wird die SPD immer das Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellen.

Das heißt aber doch, Sie stellen das Gemeinwohl und das Kopftuch in Schulen gegeneinander – warum sollte das Kopftuch im Schuldienst dem Allgemeinwohl abträglich sein?

Die Verengung auf das Kopftuch machen gerade Sie, nicht ich. Und diese allgegenwärtige Verengung versperrt den Blick auf die Essenz des Neutralitätsgesetzes. In einer pluralen Gesellschaft wie Berlin hat man die Wahl, sich entweder auf das bloße Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe zu beschränken, oder man sucht die Klammer, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Und wenn man diese gemeinsame Klammer und unsere gemeinsamen Werte sucht, spielt ein neutraler Staat, der über allem schwebt und in seinem Agieren die gemeinsamen Werte verkörpert, eine zentrale Rolle. Dies mag für jemanden, der das hohe Gut der deutschen Freiheit immer schon genossen hat und nichts anderes kennt, abstrakt klingen. Für jemanden wie mich, die in meinem Herkunftsland die schrittweise voranschreitende Dominanz der Religiosität im staatlichen Wesen beobachten musste, inklusive der damit einhergehenden Zersplitterung der Gesellschaft, ist die Gefahr echt und allgegenwärtig und die Neutralität daher essenziell.

Wie Berlin mit dem Neutralitätsgesetz künftig umgeht, wird Scheeres nicht mitentscheiden, sie tritt nicht mehr an. Besonders hervorgetan hat sich in der SPD niemand für ihre Nachfolge. Will man das Ressort aktiv loswerden?

Ich glaube, dass man nach 25 Jahren nicht unbedingt danach schreit, weitermachen zu dürfen, ist klar.

Ist das so klar?

Zumindest ist es kein Automatismus. Natürlich werden wir als SPD weiterhin Bildungspolitik machen, und wir wollen auch weiterregieren. Und unabhängig von Themen, die gerade aktuell sind – momentan ist es Corona, davor waren es der Schulbau und der Fachkräftemangel, davor das Flüchtlingsthema –, müssen wir die großen Linien wieder in den Vordergrund spielen. Das ist für die SPD die Chancengerechtigkeit.

Das könnte man auch in Ressortverantwortung tun.

Das könnte man.

Sie haben sich am ehesten profiliert als Bildungspolitikerin.

Wer welche Posten bekleidet, ist eine Diskussion für den Herbst.

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