Wie Corona Kunst und Kultur verändert: Theater im Wohnzimmer

Die einen lassen sich vom Virus inspirieren, anderen raubt es die Existenz. Das Coronavirus verändert die Gesellschaft und Kunstschaffende.

Illustration: Museumsbesucher bewundern eine Corona-Plastik unter Glas

Inwieweit wird Corona andere fiktionale Erzählungen, andere kulturelle Beiträge prägen? Illustration: Katja Gendikova

In „Grey’s Anatomy“ trägt man Maske. Die Mediziner*innen der Serie über ein fiktives Krankenhaus in Seattle sind aus der Staffelpause zurück – und müssen sich vor allem mit einem Problem herumschlagen: „In Manhattan führt ein Ärzteteam eine Covidstudie mit monoklonalen Antikörpern durch“, kündigt darum eine Fernsehdoktorin aufgeregt an, die mit einer Art Astronautenhelm in der mittlerweile siebzehnten Staffel die Intensivstation betritt, „und die haben noch Platz für genau zwei Patienten“.

Damit ist die erfolgreiche Serie, deren narrativer Kern eigentlich (anders als im „Emergency Room“) stets eher um die amourösen Verstrickungen ihrer Protagonist*innen kreiste, eine der ersten fiktionalen Erzählungen, die von der Realität eingeholt wurden: Das Virus und seine Auswirkungen bestimmen die Handlung.

Die Autor*innen konsultierten medizinische Berater*innen, die nach Stand der Dinge – geschrieben wurde im März und April 2020 – Auskunft gaben; für Dreh und Produktion wurden Cast und Crew durchgehend getestet und arbeiteten teilweise in geschlossenen Sets. Dazu kamen die echten Verluste in der echten Welt – der Bruder einer Produzentin war das dreitausendste US-amerikanische Covid-19-Opfer.

Die Totenzahlen sind mittlerweile auf über 315.000 gestiegen, die Antikörpertherapie ist eingesetzt worden – unter anderem bei Donald Trump. Dass Corona in einer aktuellen Krankenhausserie wüten muss, ist folgerichtig. Doch inwieweit wird Corona andere fiktionale Erzählungen, andere kulturelle Beiträge prägen? Wird man die Kunst, die Kultur irgendwann klar in „Prä-“ und „Post-“Corona einordnen können?

Dreharbeiten in geschlossenen Sets

Auf jeden Fall fräst sich das Virus, ähnlich wie bei den Erkrankten mit Langzeitschäden, durch sämtliche Narrative. Denn die Erfahrung mit der Pandemie ist global und kollektiv: Egal wo und was man ist, welche Art von Kunst man herstellt – das Virus wird eine Rolle gespielt haben. Welche – das scheint ebenso divers, wie die jetzige Erfahrung damit: Manche sind kaum betroffen, manche auf allen Ebenen. Manche machen Pleite, manche sind Krisengewinner*innen.

Corona kann für Familiendramen und wirtschaftliche Tragödien sorgen, es kann Solidarität bebildern oder Egomanie. Das Virus kann der Antrieb für einen Filmplot sein, für einen Romanhelden oder die Heldin eines Theaterstücks, für ein Trauma, für einen Songtext oder eine Skulptur. „Ich finde die kollektive Erfahrung inspirierend“, sagt die bildende Künstlerin Susanne Schirdewahn, die vor einer ihrer Skulpturen in einer Berliner Galerie steht.

Das Gebilde aus Schaumstoff, Sportmedaillen an Bändern, die das Material in eine Schweinekopfform zwingen, und Flitter hängt an der Wand wie ein spöttischer Abgesang auf das Hirschgeweih. Schirdewahn hat den beängstigenden, an „Herr der Fliegen“ und den Vierjahresplan der Nazis für Schweinezucht erinnernden Kunst(stoff)kopf während der Anfangszeit der Pandemie geschaffen, als das Thema Sicherheit sie stark umtrieb, so wie alle. Vielleicht ist ihre Skulptur darum auch von allen gut zu erspüren?

Schirdewahn spricht von der Idee der „sozialen Plastik“, ein Begriff für Kunst, die gestaltend auf die Gesellschaft einwirkt, sie verändert – man würde damit nicht nur in eine Richtung arbeiten, also die Realität (Corona) die Kunst beeinflussen lassen, sondern auch umgekehrt. Es könnte eine Wechselwirkung sein – das Virus verändert die Gesellschaft, die kunstschaffenden Mitglieder der veränderten Gesellschaft produzieren Kunst, und diese Kunst verändert die Gesellschaft ein weiteres Mal.

Mehr Medienkonsum im Lockdown

Quantitativ war diese Veränderung messbar: Weil der Bedarf an Kultur (oder „Abwechslung“) während der Pandemie stieg, waren mehr Inhalte gefragt. (Das durften durchaus alte sein: Der Lockdown fesselte nicht nur ans Haus, sondern auch an die alten Bücher, die alten Filme, für die man nie Zeit hatte.) Eine Umfrage des Wirtschaftsunternehmens Deloitte weist im Jahr 2020 eine um zwischen 38 und 55 Prozent erhöhte Mediennutzung nach – bei Mediatheken, Spielen, VoD bis hin zu linearem Fernsehen. #

Doch auch qualitative Auswirkungen erlebte man: Nie bekamen unkompliziert und schnell produzierte, und ohne großen Vorlauf ausgestrahlte, kurze (Web-)Serien, die aktuelle, nahe Geschichten erzählten („Drinnen“, „Für umme“, „#heuldoch“), so viel Aufmerksamkeit wie während der Krise. Gewiss liegt das auch am Trend zu kurzen Formaten, den unkende Kulturforscher*innen schon lange mit einem abnehmenden Konzentrationsvermögen in Verbindung bringen.

Wird man also in der Post-Corona-Zukunft wieder andere, eskapistischere Themen erleben, Kunst und Kultur wieder als Möglichkeit für die Flucht an einen Ort ohne Corona nutzen? Und wird es diese Orte noch geben? „Man muss ein bisschen aufpassen“, sagt Frank Spilker, Musiker, Autor und Kopf der Band Die Sterne, „dass nicht in jedem Roman, auf jeder Platte Corona ein Thema sein wird.“

Es gab in diesem Jahr eine Menge Lockdown-Platten, von Miley Cyrus’ Selbstbespiegelung über Paul McCartney, der aus reiner Langeweile überzeugend an alten Skizzen herumgedudelt hat, bis hin zu den persönlichen Befindlichkeitssongs von AnnenMayKantereit. In den nächsten Jahren werden zudem haufenweise Lockdown-Romane den eh tendenziell dichten Büchermarkt überschwemmen – natürlich hoffentlich nicht nur mit Pandemiegeschichten.

Doch jegliche Kunst, die das Jetzt spiegelt, hat das immer noch nicht überstandene Trauma über- und erlebt. Auch Spilker glaubt, dass „die Erfahrungen dieses Jahres in meinem Schaffensprozess eine Rolle spielen werden“. Auf seiner aktuellen Platte, die im letzten Jahr geschrieben wurde, ist das noch nicht so. Die Tour dazu wurde zum größten Teil abgesagt, Spilker arbeitet momentan an einem Hörspiel, das eigentlich im April hätte produziert werden sollen. Die Krise hat sich also bislang nur wirtschaftlich ausgewirkt.

Jede Menge Lockdown-Platten

Einiges kann nachgeholt werden, aber Spilker glaubt, dass die Leute auch mit Impfstoff nur zögernd wieder zu Livekonzerten gehen werden. Dennoch hofft er, dass nach der Krise die Wertschätzung für Kultur steigt: „Dass das, was sonst selbstverständlich da war, tatsächlich hergestellt werden muss – das wird Menschen gerade bewusster.“ Und eine Livesituation hat, ob vor, während oder nach Corona, zudem nach wie vor eine soziale Bedeutung:

Menschen müssen zusammenkommen – der Sexualtrieb ist, wenn man Freuds Triebtheorie der endogenen Grundbedürfnisse Glauben schenkt, im Zweifelsfall stärker als der Selbsterhaltungstrieb. Substitutionsveranstaltungen wie gestreamte Theaterstücke, Filme oder Konzerte werden darum Notlösungen bleiben. Ausnahmen wie das bezaubernde Gesamtpaket der Multitude Hans Unstern, die mit dem Theaterkonzertevent „Diven“ im Juni zeigte, wie vielfältig es im Stream zugehen kann, wird es immer geben.

Aber ein solches Konzept passt nicht auf jede Art von Kultur. Das erkennt man auch am Unwillen vieler Kultur-Festivalmacher*innen, ihre Veranstaltungen virtuell durchzuziehen: Zwar werden die Klickzahlen danach trotzig in jeder Pressemitteilung als Erfolg gefeiert. Doch die private Zu-Hause-Rezeption eines Stücks Kultur, auf die entweder gar nichts, oder ein Chatgespräch folgt, ist nicht das Gleiche wie eine Premierenparty. Das digitale Know-how wird bleiben – die Lust auf Videoveranstaltungen eher abnehmen.

Kunst und Kultur sind Teil der Gesellschaft, sie sind heilend, sogar lebensnotwendig – in Stefan Zweigs „Schachnovelle“, die soeben von Philipp Stölzl neu für die Leinwand adaptiert wurde, zerbricht ein kulturell gebildeter Mann fast an einer Folter, die ihm jede Form des geistigen Inputs versagt. Wobei die Situation nicht mit der momentanen zu vergleichen ist: Außer Gefangenen in illegalen Isolationsgefängnissen nutzt jeder Mensch Kultur, selbst wenn gerade keine neue entsteht.

Zweigs „Schachnovelle“ zufällig aktuell

Denn er kann Vorhandenes konsumieren, er kann sie, zur Not, selbst herstellen, kann singen, tanzen, malen. Die „Schachnovelle“ sollte eigentlich längst in die Kinos kommen, der Start wurde – natürlich – mehrfach verschoben. Barbara Schmidt und Marten Schumacher haben den Film in ihrer Filmpresseage,tur betreut, und immer wieder neue Daten losgeschickt. „Es war ein bisschen wie,`Und täglich grüßt das Murmeltier'“, sagt Schmidt. „Diese extreme Planungsunsicherheit hat es sehr unangenehm gemacht.“

Es sei schon erstaunlich, so Schumacher, dass „das Wirtschaftsministerium teilweise gar nicht weiß, wie die Wirtschaft funktioniert“. Die beiden glauben nicht an eine höhere Wertschätzung nach Corona – sie erleben seit Jahren, wie sich Arthouse-Kino immer schwerer behaupten kann, wie der Wille sinkt, für „Unterhaltung“ eine Gegenleistung zu erbringen. „Die konsumistische Einstellung wird sich verstärken“, sagt Schumacher, „die Filmsprache wird zunehmend eine Geschichte für die Eliten.“

Man hätte nicht erst die Lockdown-Zeit, sondern auch schon die Jahrzehnte vorher für eine bessere Kulturbildung und -vermittlung nutzen sollen – Film kommt zum Beispiel gar nicht in den Schulen vor, bemängelt Schmidt. Filme wie „Die Schachnovelle“, Theaterstücke wie Clemens Schönborns und Sophie Rois’ Fassung von Marlen Haushofers Isolationsstück „Die Wand“, das im Januar 2020 im Deutschen Theater in Berlin Premiere hatte und danach monatelang pausierte, passen zum Thema – aber das ist (noch) Zufall.

In einer hoffentlich nicht fernen, coronafreien Zukunft, in der sich die Produktionsbedingungen normalisiert haben, wird man auch wieder und erst recht andere Post-Corona-Geschichten hören wollen – vielleicht wird, ähnlich wie in der deutschen Nachkriegszeit, sogar die Lust am Eskapismus gestiegen sein: Wenn die Realität hart ist, verschließt man davor gern die Augen und öffnet sie für eine Fantasiewelt mit Superheld*innen, blendend aussehenden Stars oder blauen Hippie-Humanoiden.

Klar ist aber, dass Post-Corona viele Kulturschaffende verschwunden sein werden – und damit ihre Stimmen, Ideen und Visionen. Dabei bedeutet das lateinische Wort „cultura“ Bearbeitung und Bebauung. Kultur muss man nämlich nicht nur tüchtig pflegen, sondern auch tüchtig pflügen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jenni Zylka

ist Kulturjournalistin und Kuratorin, findet Charlie Watts den best­an­gezogenen Stone, aber steht dennoch auf Mick Jaggers Stimme.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.