Begehbares Freilichtmuseum des Terrors

Geschichtsstunde mit Smartphone: Ein Audiowalk zur Köpenicker Blutwoche von 1933

Köpenick, Juni 1933: Trauerzug für die während der Blutwoche erschossenen SA-Männer Foto: BPK

Von Gareth Joswig

Es ist sicher nicht der schönste Spaziergang, den man in Köpenick machen kann, wohl aber der historisch beeindruckendste: Der Audiowalk zur sogenannten Köpenicker Blutwoche führt schmerzlich die Allgegenwart rechten Terrors bereits kurz nach Beginn der NS-Herrschaft vor Augen.

Nur wenige Monate nach der Machtergreifung erreichte die Gewalt der paramilitärischen Organisationen der SA und der SS in den wenigen Tagen zwischen dem 21. und 26. Juni 1933 einen Höhepunkt. Bis zu 500 Personen, hauptsächlich politische Gegner, wurden von SA-Trupps in Sturmlokale verschleppt, gefoltert, teilweise ermordet und anschließend in die Dahme geworfen. Bekannt sind 24 Todesopfer. Vor allem tobte der Terror im Arbeiterviertel Elsengrund nordöstlich vom S-Bahnhof Köpenick.

Dort startet der vom Smartphone via App „Radio Aporee“ begleitete Audiowalk der wegen der Pandemie geschlossenen Gedenkstätte im ehemaligen Amtsgerichtsgefängnis Köpenick. Die dafür erforderliche, etwas wackelige Gratis-App funktioniert zwar eher so mittelmäßig, sodass während des historischen Rundgangs mehrere Neustarts erforderlich sind, aber irgendwie geht es schon.

Und so führt der Audiowalk durch einen kleinen Teil der Gartenvorstadtsiedlung, die ähnlich wie Hufeisensiedlung oder Siemensstadt für Arbeiter:innen zwischen 1918 und 1929 errichtet wurde, um die Wohnungsnot in Berlins Mietskasernen zu mindern.

Die Machtergreifung bereitete diesem mehrheitlich von der Arbeiterbewegung geprägten und sozialdemokratisch wählenden Arbeiteridyll in Köpenick ein jähes Ende. Und das ist beim Spaziergang in der Gegenwart mit dem historischen Kontext auf dem Ohr durchaus eindrucksvoll, weil die Wohnanlage dem Anschein nach weitgehend erhalten geblieben ist.

Am 21. Juni umstellte die SA-Köpenick unter Leitung von Herbert Gehrke die Arbeitersiedlung Elsengrund mit Listen politischer Gegner in der Hand. Sie durchsuchte Wohnungen, verhaftete Antifaschisten, Sozialdemokraten, Kommunisten sowie Gewerkschafter und brachte diese in SA-Sturmlokale in der Nähe, die Stützpunkte der paramilitärischen Terrororganisation. Einige der bekanntesten Mordopfer sind der Sozialdemokrat Richard Aßmann, der Vorsitzende der SPD in Köpenick Erwin Mante, der Gewerkschafter Paul von Essen sowie der SPD-Reichstagsabgeordnete Johannes Stelling. Sie wurden zusammen mit anderen antifaschistischen und organisierten Arbeiter:innen verschleppt, gefoltert und teilweise ermordet. Die Leichname der Opfer fand man größtenteils in der Dahme.

Der Audiowalk führt exakt vor die Wohnhäuser, an denen heute zu DDR-Zeiten aufgehängte Gedenkplaketten und später verlegte Stolpersteine an die NS- Opfer erinnern. So auch vor das Haus von Anton Schmaus, der während der Hausdurchsuchung in Notwehr drei SA-Männer erschoss und sich später im nahe gelegenen Wald in Hirschgarten versteckte, bis er sich schließlich der Polizei stellte. Obwohl er zum Schutz vor der SA auf die Wache am Alexanderplatz gebracht wurde, schoss SA-Führer Gehrke ihm tags darauf im Polizeigewahrsam in den Rücken, woraufhin Schmaus von der Mitte abwärts gelähmt im Polizeikrankenhaus in Mitte lag. Dort wurde er gut ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1934, von der SA angeblich zu einem Verhör abgeholt, währenddessen er ermordet wurde – sein Körper war von frischen Misshandlungen gezeichnet.

Der Tod der SA-Leute hingegen wurde von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet: Sie bekamen als „Märtyrer der nationalsozialistischen Idee“ ein Staatsbegräbnis, bei dem Propagandaminister Goebbels eine Rede hielt.

Noch während der Köpenicker Blutwoche wurde Johann Schmaus, der damals 54-jährige Vater von Anton Schmaus, von der SA misshandelt und im Schuppen des Nutzgartens seines Hauses aufgehängt. Die SA stellte den Mord als Suizid dar. Die Mutter, Margarethe, wurde ebenfalls verschleppt und misshandelt, ebenso die 13-jährige Tochter und ein Schwager von Anton Schmaus. Angehörige verloren ihre Arbeit, das Haus wurde enteignet. Um die Opfer weiter zu demütigen, wurde die Straße im Elsengrund nach den getöteten SA-Männern benannt.

Mittlerweile ist das Haus wieder im Familienbesitz und die Straße nach Johann und Anton Schmaus benannt.

Weder Polizei noch Bevölkerung schritten bei den fünftägigen Terroraktionen ein. Die Polizei saß im heutigen Finanzamt in der Seelenbinderstraße, wo der Audiowalk nach dem für die Verhaftungen reaktivierten Amtsgefängnis und einem ehemaligen SA-Sturmlokal – heute ein Kindergarten – hinführt. Dort erfährt man, dass die von Hermann Göring aufgestellte Hilfspolizei zwar nicht die SA umfasste, diese sich aber dennoch als Angehörige des neuen Staatsapparats fühlte, woraufhin ein völlig entgrenzter Terror einsetzte. 100.000 Menschen wurden reichsweit verhaftet.

Die Hinterbliebene Liddy Kilian des Kommunisten Götz Kilian erklärt in einem Original-Tondokument (wohl aus der Nachkriegszeit) ihre Machtlosigkeit, als sie versuchte, die Polizei einzuschalten: „Der Polizeihauptmann erklärte uns, dass er nicht in der Lage sei einzugreifen, weil der Polizei jede Macht zum Schutz der Bevölkerung genommen sei. Die Aktion selbst sei von Hermann Göring geführt und befohlen.“

Der Historiker Stefan Hördler ordnet ein: „Die Köpenicker Blutwoche war Experimentierfeld für Gewalt des Nationalsozialismus. Das Nichtreagieren von Polizei, Justiz und Bevölkerung zeigt, wie stark dieses System schon gefestigt war – wahrscheinlich auch viel stärker, als es selbst erwartet hatte.“ Die stattfindenden Polizeiermittlungen nach den SA-Morden wurden per Erlass von Göring kurz darauf im Juli 1933 eingestellt.

In der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurden nach dem Krieg zwischen 1947 und 1951 in mehreren Verfahren 15 beteiligte SA-Männer zu Tode, 13 zu lebenslanger Haft und weitere zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. Tonaufzeichnungen des Gerichtsprozesses, in der App nachzuhören, zeugen von der Unverfrorenheit der Täter, während man vor dem Park an der Alten Spree steht, wo heute ein DDR-Denkmal an die Köpenicker Blutwoche erinnert.

Der Hauptangeklagte, ein SA-Mann Plönzke, verleugnete die Gewalttaten beharrlich, Schlaginstrumente in den Sturmlokalen seien etwa Staubwedel gewesen. Die Empörung im Gerichtssaal ist beim Hören des historischen Tondokuments quasi greifbar. Aber auch Opfer wie der durch die Misshandlungen fast vollständig erblindete Erwin Mante sagten aus und belasteten Plönzke und andere – er hätte neben anderen mit Fußtritten, Fahnenstangen, Gummiknüppeln, Rohrstöcken und alten Militärsäbeln auf die Gefangenen eingeschlagen.

Die Prozesse überschatteten damals im Übrigen bereits den aufkommenden Kalten Krieg. Einer der Vorwürfe gegenüber dem Westen allerdings stimmt laut Audiowalk: Von der DDR gestellte Auslieferungsersuche für am Terror beteiligte SA-Männer, die sich im Westen aufhielten, wurden fast allesamt abgelehnt.