Zehn Jahre Arabischer Frühling: Der nächste Sturm zieht auf​

Vor zehn Jahren begann der Arabische Frühling, ein turbulentes Jahrzehnt in Nahost folgte. Diktatoren stürzten, doch alte Machthaber schlugen zurück.

In einer Wohnung sind eine gruppe Jugendliche am Tisch mit Laptops

Junge Ägypter verbreiten im Februar 2011 News der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo Foto: Ed Ou/NYT/Laif

KAIRO taz | Sie fuhren in einem Zug von der ägyptischen Hafenstadt Alexandria durch das Nildelta, Muhammad Eid und Ahmad Samir, zwei junge Straßenverkäufer. Muhammad bot normalerweise Malereien auf Holz oder Leder feil. Aber an diesem Tag hatte der Regen seine Objekte zerstört. Er hatte keine Einnahmen.

Als die beiden im Zug kontrolliert wurden, konnten sie keine Fahrkarten vorweisen. Der Schaffner nannte ihnen drei Optionen: Sie bezahlen das Ticket, er übergibt sie der Polizei oder sie springen aus dem fahrenden Zug. Da sie nicht genug Geld hatten und Angst, der Willkür der Polizei ausgeliefert zu sein, sprangen sie. Muhammad starb, als er neben den Gleisen aufschlug, Ahmad verlor ein Bein. Das Ticket hätte umgerechnet 4 Euro gekostet.

Diese Begebenheit vom Oktober vergangenen Jahres ist symptomatisch dafür, wo die arabische Welt heute, zehn Jahre nach Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings, steht. Die Selbstverbrennung des tunesischen Straßenhändlers Mohammed Bouazizi hatte damals, am 17. Dezember 2010, Aufstände in zahlreichen Ländern eingeläutet, in deren Folge der Diktator Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien stürzte, Husni Mubarak in Ägypten, Muammar al-Gaddafi in Libyen und Ali Abdullah Saleh in Jemen.

Die anfänglichen Hoffnungen sind enttäuscht worden, wirtschaftliche und soziale Fragen bleiben ungelöst, vielerorts sorgt nur ein brutaler Repressionsapparat für Ruhe. Und nun setzt sich auf das Ganze noch die Corona­krise, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen die Probleme noch verschärfen werden.

Es sind die Gefängnisse der Diktatoren, die den Terror schaffen

Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der Diktator gewonnen, der nun über einen Scherbenhaufen regiert. Libyen versinkt in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie Jemen.

Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je. Manche proklamieren da fast hämisch, dass nach dem Frühling der politische Winter eingezogen sei. Allein in Tunesien wurde eine demokratische Entwicklung eingeleitet.

Aber kann man politische Prozesse als Jahreszeiten erklären? Oder sind die vergangenen zehn Jahre nicht Teil eines langfristigen Prozesses, in dem das Rad aktuell zurückgedreht worden ist und arabische Autokraten sich zu einer unheiligen Allianz zusammengetan haben?

Eine Allianz, die aus dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, seinem Amtskollegen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Mohammed bin Zayed, und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi besteht. Gemeinsam versuchen sie, eine regionale Pax Autocratica durchzusetzen.

Von Europa hofiert

Als Garanten der Stabilität, als Antiterrorkämpfer und als Partner, um Flüchtlinge davon abzuhalten, über das Mittelmeer zu kommen, werden diese Autokraten auch von Europa hofiert. Derweil sind sie es, die keinerlei politischen Spielraum zulassen und deren Gefängnisse Brutstätten der Militanz sind, die Terror schneller schaffen, als sie ihn bekämpfen können.

Sie sind es, die mit ihren Konflikten einen guten Teil der Flüchtlinge produzieren. Europa hat nicht verstanden, dass die arabischen Autokraten nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind.

Aber die arabische Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Das antidemokratische Regieren, die Misswirtschaft und die Korruption werden in vielen Teilen der arabischen Welt infrage gestellt. Repression funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen.

Aber sie hat auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme vor allem der jüngeren Generation, die immerhin 60 Prozent der arabischen Bevölkerung ausmacht, nicht gelöst sind. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet, dass viele kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren Träumen nachgehen können.

Zeit des Übergangs

In seinem Film „Leiter nach Damaskus“ beschreibt der syrische Filmemacher Mohammed Malas das Leben einer WG in der syrischen Hauptstadt zu Beginn des Aufstands gegen Baschar al-Assad. Das 2013 produzierte Drama zeigt die Zeit des Übergangs, als die idealistischen jungen Bewohner realisieren, dass ihre Hoffnung auf friedlichen Wandel von Assads Kerkern und Folterkammern zunichte gemacht wird.

In der ersten Szene blickt ein junger Student in die Kamera und sagt: „Ich lebe in einem Land, das mir nichts gibt und das mir alles genommen hat.“ Es ist ein Satz, der mitten ins Herz einer ganzen Generation trifft und der auf die gesamte arabische Welt zutrifft.

Unsere arabische Nachbarschaft ist ein Unruheherd, aber woher kommt diese Instabilität? Ist der Islam schuld? Diese Sicht ist in Mode gekommen und hat eine ganze Reihe deutschsprachiger Bestseller hervorgebracht, die die arabische Welt mit Koranzitaten zu erklären suchen.

Oder hat die Unruhe vielmehr ihre Wurzeln in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Araberinnen und Araber lebt, oder in der Art, wie sie regiert werden?

Neue Protestwelle

Statt des Korans sollte das unselige arabische Dreigespann analysiert werden, das Zusammenspiel von Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit, das Menschen zu stillschweigenden Besiegten, brutalen Terroristen oder verzweifelten Flüchtlingen macht – oder sie, wie in letzter Zeit wieder vermehrt, voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen lässt: Im Jahr 2019 brachten Massenproteste in Sudan und in Algerien die Diktatoren Omar al-Baschir und Abdelaziz Bouteflika zu Fall, während in Libanon und Irak eine neue Protestwelle begann.

In ihrem Arab Multidimensional Poverty Report 2017 hat die Unescwa, eine UN-Organisation, zehn bevölkerungsreiche arabische Länder untersucht, ausgenommen die ölreichen Golfstaaten. Demnach lebt ein Viertel der Bevölkerung in multidimensionaler Armut.

Aber die Studie geht noch weiter und stuft weitere 41 Prozent als „verwundbar“ ein. Vier von zehn Menschen in diesen Ländern sind also in Gefahr, in Armut abzustürzen. Eine Familie wird als verwundbar und armutsbedroht charakterisiert, wenn ihr Einkommen gerade einmal die grundlegendsten Dinge des Lebens finanzieren kann und jeder Einschnitt im Einkommen oder jede Erhöhung von Preisen sie in Armut stürzen kann. In Summe bedeutet das, dass zwei Drittel der Bevölkerung entweder in Armut leben oder Gefahr laufen, in diese abzugleiten.

Die Massenarmut hat auch zur Folge, dass der Nahe Osten weltweit die Region mit der größten Ungleichheit ist. Das hat das sogenannte World Inequality Lab 2018 in einer Studie festgestellt, in der zum ersten Mal Daten von Einkommen und Reichtum der Bevölkerung für die Jahre 1990 bis 2016 gesammelt und ausgewertet wurden. Um George Orwells berühmtes Zitat auf den Kopf zu stellen: Weltweit sind alle ungleich, aber manche sind ungleicher – und der Nahe Osten schlägt hier alle Rekorde.

Einfache Rechnung

Dieses massenhafte Ausge­schlossen­sein ist einer der wichtigsten Faktoren für die Instabilität des Nahen Ostens. Milizen und Terrororganisationen rekrutierten in den letzten Jahrzehnten mithilfe des sozialen Unfriedens Anhänger. Die Rechnung ist einfach: Je mehr Menschen am wirtschaftlichen Wachstum teilnehmen, desto stabiler und friedlicher ist eine Gesellschaft. Der Nahe Osten ist der Umkehrschluss dieser These.

Adel Abdellatif, der Hauptautor des UN Arab Human Development Report, fasste es gegenüber der taz in einem einzigen Satz zusammen: „Fortschritt ist, wie viele Menschen du in dein Zelt hinein nehmen kannst. Wenn zu viele draußen stehen, zerstören sie dein Zelt.“ Kein Wunder also, dass auf die erste Protestwelle 2010/2011 im vergangenen Jahr eine weitere folgte.

Die Autokraten befinden sich langfristig in der Defensive. Je stärker sie die repressiven Schrauben anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von dem System und suchen nach einem Raum, ihren Ärger loszuwerden. Die entscheidende Frage lautet: Wer lernt schneller: die Repression oder die Rebellion?

Mitten in diesem Wettlauf ist nun die Pandemie ausgebrochen, die alle Ursachen, die die Menschen vorher schon auf die Straße getrieben haben, noch verschärft. Vielen Araberinnen und Arabern wird sie endgültig die Luft zum Atmen nehmen, nicht nur als Krankheit, sondern noch mehr wegen der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen.

Keine Hinnahme des Status quo

George Floyds Hilferuf „I can’t breathe“ ist eine tägliche arabische Erfahrung der Repression, aber auch der sozialen Machtlosigkeit. Die Explosion im Hafen von Libanons Hauptstadt Beirut am 4. August war hier ein Kulminationspunkt. Staatliche Fahrlässigkeit und Inkompetenz hinterlassen die Menschen fassungslos. Die Katastrophe ist ein Sinnbild für die Krise der gesamten Region.

Der Nahe Osten ist eine Ansammlung gescheiterter Staaten und ungelöster Krisen. Die politischen Systeme stehen mit der Coronakrise auf noch tönerneren Füßen als zuvor. Es ist eine Zeit, die viele Fragen aufwirft. Eines aber ist sicher: Waren die zehn Jahre nach der ersten Arabellion eine turbulente Zeit, werden die nächsten Jahre in der Region stürmisch werden.

Vor allem die jüngere Generation wird den Status quo nicht widerstandslos hinnehmen. Der Wettlauf zwischen Repression und Rebellion wird weitergehen, brutal und leidenschaftlich, rücksichtslos und stur. Die einen haben ihre Macht, die anderen fast nichts mehr zu verlieren.

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Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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