piwik no script img

„Man kann die Heime nicht komplett alleine lassen“

Der Sozialverband Deutschland (SoVD) befürchtet, dass man im verzweifelten Kampf gegen das Coronavirus schon wieder die Einsamkeit und Isolation von alten Menschen in Kauf nimmt —und fordert trotzdem verbindliche Besuchsregeln für niedersächsische Pflegeheime

Interview Nadine Conti

taz: Frau Schrader, der Sozialverband Deutschland (SoVD) hat verbindliche Besuchsregelungen für Pflegeheime in Niedersachsen gefordert. Gleichzeitig häufen sich die Meldungen über Corona-Ausbrüche und Todesfälle in Einrichtungen. Was treibt Sie denn da?

Kathrin Schrader: Über unser Pflegenotruftelefon bekommen wir viele Rückmeldungen von verzweifelten Angehörigen. Die haben Angst, dass sie ihre alte Mutter oder ihren alten Vater nicht mehr lebend wiedersehen. Natürlich verstehen sie auch die Risiken – und möchten ihre Angehörigen ja auch auf gar keinen Fall anstecken. Gleichzeitig wollen sie sie aber eben auch nicht vollkommen alleine lassen. Und wir befürchten und beobachten eben, dass die Besuchsmöglichkeiten jetzt überall wieder stärker eingeschränkt werden, weil die Angst vor der zweiten Welle da ist.

Wie handhaben die Heime das denn jetzt?

Das läuft zum Beispiel so, dass nur alle zwei oder drei Wochen eine Stunde Besuchszeit eingeräumt wird. Wobei die Stunde dann eben die gesamte Zeit in der Einrichtung umfasst. Eine Anruferin schilderte mir, dass sie allein für das Desinfizieren und Anlegen der Schutzkleidung schon zwanzig Minuten braucht, weil sie eben auch schon älter ist. Wenn sie dann endlich bei ihrer Mutter im Zimmer sitzt, bleibt ihr noch eine halbe Stunde – und das auch nur alle zwei Wochen.

Gibt es noch andere Konzepte?

Manche Heime lassen auch gar keine Besuche mehr in der Einrichtung zu, sondern nur noch auf dem Außengelände oder ganz außerhalb der Einrichtung. Das war im Sommer natürlich kein Problem, da nahmen viele vielleicht sogar ganz gerne die Angehörigen im Rollstuhl auf einen Spaziergang mit. Nur bei diesen Temperaturen geht das natürlich nicht mehr. Da braucht man jetzt andere Regelungen und Konzepte, aber die gibt es nicht.

Aber sollte es denn jetzt nicht in allen Heimen diese Antigen-Schnelltests geben, damit Besuch gewährleistet und gleichzeitig ein Einschleppen des Virus verhindert werden kann?

Das ist sicher ein gut gemeinter Versuch, der wird es allein aber nicht richten. Die Testverordnung für die Pflegeheime funktioniert aktuell so, dass die Heime erst einmal ein Testkonzept erstellen und beim Gesundheitsamt einreichen müssen. Da braucht man einen Isolationsraum, in dem diese Schnelltests durchgeführt werden können, entsprechend geschultes Pflegepersonal, das dann anderswo fehlt – und so weiter.

Kathrin Schrader

ist stellvertretende Abteilungsleiterin Sozialpolitik beim SoVD Landesverband Niedersachsen.

Ein Problem für manche Heime?

Vor allem kleinere Einrichtungen können das häufig gar nicht leisten. Wir haben schon von welchen gehört, die sagen: „Nein, damit brauchen wir gar nicht erst anfangen. Wir reichen kein Konzept ein.“ Damit können aber auch die politischen Versprechungen – wenn wir mehr testen, kann es auch wieder mehr Besuche geben – nicht eingehalten werden.

Was wäre denn Ihre Vorstellung, wie es laufen soll?

Wir wünschen uns eben eine konkrete Regelung, die sowohl Heimleitungen als auch Angehörigen Sicherheit bietet. Bisher steht da drin: „Die Besuchsrechte dürfen nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden.“ Das ist natürlich schwer greifbar: Was ist denn nun verhältnismäßig und was nicht?

Aber kann Politik das wirklich regeln? Die Voraussetzungen in den Heimen sind doch extrem unterschiedlich. Ein Altersheim mit vergleichsweise rüstigen Bewohner*innen kann ja ganz anders agieren als ein Pflegeheim, in dem viele Demenzkranke leben.

Natürlich muss es abgestufte Regelungen geben, je nach Art der Einrichtung, der Einsichtsfähigkeit der Bewohner*innen, den räumlichen und personellen Voraussetzungen. Aber das gibt es zum Teil ja jetzt auch schon – wenn zum Beispiel eine dementiell erkrankte Person die Maske nicht aufbehält, kann man das ausgleichen, indem der Besucher oder die Besucherin mit einer FFP2-Maske für einen stärkeren Schutz sorgt. Aber man kann die Heime doch auch nicht komplett allein lassen mit diesen Entscheidungen.

Trotzdem: Muss der Schutz von so extrem anfälligen Gruppen nicht Vorrang haben vor allem anderen?

Natürlich gibt es auf der einen Seite eine Schutzpflicht der Behörden, die Ansteckungsgefahr für die Bewohner*innen zu minimieren. Auf der anderen Seite darf man aber die Grund- und Freiheitsrechte auch nicht zu weit einschränken. Es gibt ein aktuelles Rechtsgutachten im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso), das sich genau mit diesem Dilemma befasst.

Und was besagt das?

Darin wird zum Beispiel auch beschrieben, wie wichtig gerade bei Demenzkranken der Kontakt zur wichtigsten Bezugsperson ist – weil die Krankheit nämlich sonst schneller voranschreitet. Und man muss das an dieser Stelle vielleicht noch einmal ganz klar sagen: Wenn jemand alleine sterben muss, ist das eine Verletzung der Menschenwürde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen