Punk is not dead

Mit ihrem Grundsatzprogramm geben sich die Grünen auf ihrem Parteitag regierungsfähig. Doch beim bedingungslosen Grundeinkommen stellt sich die Basis gegen den Vorstand – und bewahrt der Partei einen utopistischen Charakter

Professionell und nostalgisch: der digitale Parteitag der Grünen zwischen Keynote­speakertum und braunem Samtsofa Foto: Jens Jeske

Aus dem Homeoffice Ulrich Schulte

Ganz kurz wird es richtig emotional auf dem Grünen-Parteitag, nämlich als Jürgen Trittin vor dem Rechner der Kragen platzt. Er hört sich bei seiner Rede zu Hause laut selbst mit Zeitverzögerung, haut wütend mit der Hand auf die Tastatur oder den Tisch (genau ist das nicht zu sehen) und ruft „Och, Mann!“ Der Bildschirm wackelt.

Es hat eben seien Tücken, einen dreitägigen Bundesparteitag wegen der Coronapandemie komplett ins Digitale zu verlegen. Die Grünen haben dieses Experiment am Sonntag im Großen und Ganzen erfolgreich beendet. Gleich mehrere Erkenntnisse ließen sich gewinnen: Die Grünen gehen äußerst geschlossen ins Wahljahr 2021, Realos und Regierungslinke kooperieren auf eine selten gesehene, sehr produktive Weise. Sie formulieren ihren Führungsanspruch für die ganze Republik so offensiv wie nie. Und sie vermeiden sorgsam alles, was den Erfolg bei der Bundestagswahl gefährden könnte.

Nun ja, fast alles. Doch dazu später.

Die Debatte über Volksentscheide auf Bundesebene am Sonntagmorgen, in der Trittin kurz die Contenance verliert, ist ein Elefantenrennen, mehrere Promis treten auf: Parteichef Robert Habeck und Trittin vertreten die Position des Bundesvorstands gegen Volksentscheide, Bundesgeschäftsführer Michael Kellner und Bayerns Fraktionschefin Katharina Schulze reden dafür. Am Ende gewinnt der Bundesvorstand knapp: Die Volksentscheide landen nicht im Programm. Die Grünen werben stattdessen für die von Habeck präferierten Bürgerräte. In ihnen sollen zufällig ausgewählte Menschen Vorschläge zu politischen Fragen erarbeiten, mit denen sich dann Regierungen und Parlament auseinandersetzen müssen, allerdings nicht bindend.

Die Volksentscheide hätten mehr Macht für BürgerInnen bedeutet. Aber Habeck warnte in seiner Rede davor, dass sie Populisten in die Karten spielen könnten. Angesichts der Polarisierung in sozialen Medien sei es ein „frommer Wunsch“, dass Abstimmungen von gut informierten BürgerInnen getroffen würden, auf Basis gelesener Gesetzestexte, sagte Habeck. Aber nicht nur inhaltliche, auch taktische Motive haben bei der Entscheidung eine Rolle gespielt. „Die Delegierten sind knapp davor zurückgeschreckt, ihrem Bundesvorsitzenden eine klare politische Niederlage zuzufügen“, twitterte der Europabgeordnete Reinhard Bütikofer, ein Befürworter von Volksentscheiden. Damit hatte er sicher recht.

Bütikofer und Trittin, einander in alter Feindschaft verbunden, beharkten sich danach auf Twitter. Nachdem Bütikofer über Trittins Redebeitrag gelästert hatte („Die Arroganz gegenüber der eigenen Basis platzt ihm aus allen Knopflöchern“), rieb ihm dieser öffentlich seinen Sieg unter die Nase. Man hätte in diesem Moment gerne gewusst, ob Annalena Baerbock angesichts dieser Gockelei mit den Augen rollte. Aber das lässt sich leider nicht recherchieren, wenn man nicht dabei ist.

Doch dieser kurze Kontrollverlust war der einzige. Ansonsten fügte sich alles in die sorgsam arrangierte Regie der Grünen-Spitze. Über 800 Delegierte verfolgten das Spektakel von zu Hause aus, es gab einen Livestream, einen Chat und einen Applausbutton, mit dem sie bunte Sonnenblumen und Herzchen über den Bildschirm fliegen lassen konnten. Das Parteitagsstudio im Berliner Tempodrom verströmte coolen Retro-Flair, zwei professionelle Moderatoren saßen in einer 70er-Jahre-Ecke mit braunem Samtsofa. Kellner erklärte die Formalia in einem dunkelgrün gehaltenen Studio – und erinnerte dabei etwas an den ARD-Wahlerklärer Jörg Schönenborn.

Ziemlich viel Neues also, technisch gesehen, aber die inhaltliche Haupt­bot­schaft hat man schon öfter gehört: Die Grünen wollen endlich, endlich regieren. Aber sie tragen ihren Führungsanspruch so offensiv vor wie noch nie. Habeck sagt in seiner Rede am Samstag: „Macht – das ist in unserem Kosmos oft ein Igitt-Begriff gewesen.“ Aber Macht, fügt er hinzu, komme von machen. Eine Gesellschaft werde geformt, gemacht. Die Grünen wollen die Partei sein, die das nach der Bundestagswahl 2021 übernimmt.

Habeck greift zu dem Trick, seinen Machtanspruch demütig klingen zu lassen. In etwa: Die Grünen würden die Bürde auf sich nehmen zu führen, weil die Zeit eben so sei. Das ist natürlich Unfug, aber gleichzeitig sehr modern. Ein Herzenswunsch, der im Tonfall großer Bescheidenheit vorgetragen wird, kommt besser an. Ruhig spricht Habeck, staatstragend, nicht leidenschaftlich wie auf einer Bühne mit echten Menschen davor – auch das ist ein Zugeständnis an das seltsame Format.

Die Delegierten folgen der Linie des Vorstands in den allermeisten Fragen, nicht nur bei den Volksentscheiden. Ein wachstumskritischer Antrag wird routiniert weggestimmt, der Europaabgeordnete Rasmus Andresen scheitert damit, die gesetzliche Verankerung der Schuldentragungsfähigkeit streichen zu lassen. Bestes Beispiel für den grünen Willen, den Mainstream nicht zu verschrecken, ist die Einigung in der Klimapolitik. Annalena Baerbock entschärfte einen Streit über das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens rechtzeitig, sodass eine für den Vorstand riskante Abstimmung vermieden wurde.

Teile der Basis hatten gefordert, das Ziel, die Erderhitzung auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, zur „Maßgabe“ grüner Politik zu machen. Nach intensivsten Bemühungen der Parteispitze, das heikle Thema abzuräumen, landete ein Kompromiss im Programm. Nun ist nur noch davon die Rede, dass es „notwendig“ sei, „auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.“ Diese softe Formulierung lässt der Grünen-Spitze Spielräume für künftige Koalitionen. Dennoch schienen die AktivistInnen von Fridays for Future zufrieden. Luisa Neubauer schrieb auf Twitter: „Die Grünen haben auf Druck von breiten gesellschaftlichen Bündnissen heute einen wichtigen Schritt gemacht. Who’s next?“

Alles schien also wie immer, die grüne Maschine schnurrte leise vor sich hin. Doch dann, am Sonntagnachmittag, platzt eine kleine Bombe. Es geht um das Kapitel Solidarität, in dem die grüne Garantiesicherung beschrieben wird. Sie wäre eine tief greifende Reform des Hartz-IV-Systems: Die Sanktionen für säumige Arbeitslose würden abgeschafft, der Regelsatz für Erwachsene soll von 432 auf 603 Euro im Monat steigen. Arbeitslose dürften mehr von ihrem Vermögen behalten als bisher und auch mehr Geld d­azuverdienen.

Doch Teilen der Basis reicht das nicht – mehrere Anträge forderten im Vorfeld ein bedingungsloses Grundeinkommen. Der Unterschied: Bei der Garantiesicherung würden Behörden den Bedarf prüfen. Ein Grundeinkommen würde bedingungslos an alle Menschen ausgezahlt.

Sven Lehmann, sozialpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion, will einen entscheidenden Satz durchsetzen: „Dabei orientieren wir uns an der Leitidee eines Bedingungslosen Grundeinkommen.“ Der Vorstand bietet alles auf, was er hat, um das zu verhindern. Er fürchtet, dass diese Vision – selbst wenn sie nur weich formuliert im Grundsatzprogramm seht – die Grünen im Bundestagswahlkampf als realitätsfremde Träumer dastehen lässt.

Annalena Baerbock redet persönlich dagegen. Sie klingt fast flehentlich. Der Satz sei ein „Sowohl als auch“, das vielleicht in der Parteitagslogik mit seinen Formelkompromissen funktioniere. Aber die Menschen, die darauf hofften, dass die Grünen Hartz IV überwänden, bräuchten eine klares Modell. Es ist die pragmatische Argumentation – Baerbock weiß, wie schwer es ist, komplexe Botschaften in einer aufgeregten Mediengesellschaft zu erklären. Frank Bsirske, Gewerkschafter und Grünen-Mitglied, haut in dieselbe Kerbe und rechnet den Delegierten die immensen Kosten vor. Er kommt auf eine Billion Euro pro Jahr, eine utopische Summe.

Lehmanns UnterstützerInnen halten dagegen. Claudia Roth argumentiert mit Blick auf eine starke gesellschaftliche Strömung, die das Grundeinkommen will – und auf die innerparteilichen Fans. Der Antrag sei „ein Versöhnungsangebot“, sagt sie. Und: „Wir brauchen eine Gesellschaft, in der auch kulturelle Schaffenskraft ohne Existenzangst und Hürden möglich ist.“ Das zielt auch auf die Coronapandemie, die KünsterInnen und Soloselbstständige in Existenzkrisen stürzte.

Am Ende gibt es eine Überraschung: Eine klare Mehrheit der Delegierten entscheidet sich für die Leitidee des Grundeinkommens – und gegen den Vorstandskurs. Für die reale Politik der Grünen oder mögliche Koalitionsverhandlungen 2021 wird das wenig Folgen haben, die Garantiesicherung steht im Mittelpunkt, nicht die Vision im Grundsatzprogramm. Aber dennoch: Das Ganze ist auch ein Beleg dafür, dass der utopistische Esprit der Grünen-Basis nicht erloschen ist, allem Machtwillen zum Trotz.

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