debatte
: Unter dem Sperrfeuer

Zwischen Anspruch und Realität: Die grüne Partei muss
eine anschlussfähige Politik formulieren

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Ulrich Schulte

leitet das Parlaments­büro der taz. Und weil sich die Regierung derzeit ebenso wie die Op­po­­sition fast nur mit der Corona-Epidemie beschäftigt, tut er das ebenfalls.

Zwischen der „Fridays for Future“-Bewegung und den Grünen herrscht Sprachlosigkeit. Oder präziser: Man spricht sehr wohl mit- und überei­nander, aber der Ton ist abfällig, und alle reden aneinander vorbei. Während die jungen KlimaaktivistInnen von den Grünen eine radikale 1,5-Grad-Klimapolitik fordern, angelehnt an unerbittliche physikalische Tatsachen, fühlen sich diese zu Unrecht an den Pranger gestellt.

Und nun? Um diese Sprachlosigkeit zu verstehen, hilft es, sich die Rollen zu vergegenwärtigen. Eine Bewegung ist etwas anderes als eine Partei. Was Fridays for Future zu wenig sieht: Für Annalena Baerbock und Robert Habeck ist Mehrheitsfähigkeit eine zentrale Kategorie. Die Grünen, sagt Baerbock zu Recht, könnten eine sozialökologische Marktwirtschaft nicht allein bauen – „nicht mit 20 Prozent, auch nicht mit 30“.

Alles grüne Wirken zielt deshalb nicht nur auf Klimaschutz, sondern auch auf Mehrheiten. Ob es nun der offensiv vorgetragene Führungsanspruch ist, die instagramtaugliche Inszenierung oder die Mahnung, Institutionen und Rechtsstaat zu wahren: Baerbock und Habeck achten sorgfältig darauf, die Grünen attraktiv zu halten für das, was man gemeinhin die bürgerliche Mitte nennt. Nicht umsonst schreiben sie einen feierlichen Satzschnipsel aus der Verfassung über das grüne Grundsatzprogramm, nicht umsonst klingt Robert Habeck selbst in einer Parteitagsrede inzwischen wie Frank-Walter Steinmeier persönlich.

Aber daraus abzuleiten, Baerbock und Habeck setzten auf grün lackierten Konservatismus oder seien Verräter an der grünen Sache, wie viele AktivistInnen behaupten, wird der Gemengelage nicht gerecht. Unter Baerbock und Habeck sind die Grünen sozial- und wirtschaftspolitisch nach links gerückt. Im Grundsatzprogramm leuchtet ein modernes Staatsverständnis auf, das den Wert von Daseinsvorsorge neu definiert – und der Marktwirtschaft klare Leitplanken setzt.

Die sanktionsfreie Grundsicherung mit höheren Regelsätzen würde die Situation von Millio­nen Hartz-IV-BezieherInnen verbessern. Auch die Sätze zur haarsträubend ungerechten Reichtumsverteilung in Deutschland im Grundsatzprogramm sind recht klar, ebenso die ordnungspolitischen Eingriffe zugunsten vorn mehr Ökologie. Baerbock und Habeck verbinden das Ganze mit einer versöhnlichen Sprache und Demutsgesten, die manchmal zu offensichtlich sind, um authentisch zu wirken.

Entscheidend aber ist die Botschaft, die sie über ihr Grundsatzprogramm geschrieben haben: „Veränderung schafft Halt.“ Dieser Satz ist sehr klug, weil er das Sicherheitsbedürfnis der Deutschen adressiert, aber auch Reformwillen ausdrückt. Es ist ja – aus grüner Sicht – leider so, dass die meisten Deutschen ganz gut lebten im fossilen Zeitalter, also nur begrenzt Lust auf Veränderung haben.

Sven Giegold hat den grünen Mix kürzlich in der taz „eine einladende linke Politik“ genannt. Das trifft es ganz gut, wobei Baerbock und Habeck das Wort „links“ natürlich nicht in den Mund nehmen würden, weil: siehe oben. Eine solche strategische Aufstellung hat, blickt man wieder auf Mehrheiten, mehrere Vorteile.

Sie würde – konsequent durchdekliniert – einiges verändern in Deutschland. Sie schafft die habituelle Anschlussfähigkeit an die CDU, die die Grünen brauchen, weil man auf Grün-Rot-Rot leider nicht setzen kann. Und, nicht zu unterschätzen, sie macht weniger angreifbar. Die Grünen tauchen mit ihrem gut gelaunten Ökorepublikanismus wie ein U-Boot unter dem zu erwartenden Sperrfeuer liberalkonservativer MeinungsmacherInnen hindurch.

Anders gesagt: Wenn Christian Lindner ruft, die Grünen wollten den Deutschen das Schnitzel verbieten, glauben ihm das nicht mal mehr modern tickende Liberale. Das alles, zugegeben, sind polittaktische Argumente. Fridays for Future hat in der Sache in vielem recht. Selbstverständlich machte die Dramatik der Klimakrise eine radikalere Politik nötig.

Ja, die grüne Linie reicht wahrscheinlich nicht, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Dafür müsste man den Deutschen eine bittere Schrumpfkur zumuten, die sehr wahrscheinlich zu sozialen Verwerfungen führen würde.

Das ist unehrlich, aber erfolgversprechend. Selbstverständlich müsste man den Fleischkonsum unserer Gesellschaft grundsätzlich infrage stellen. Man müsste den Flugverkehr drastisch reduzieren, weil die klimaschädlichen Effekte auch dann riesig sind, wenn Jets irgendwann mit synthetischen Kraftstoffen aus erneuerbaren Energien fliegen. Auch die Vorstellung, dass die Deutschen weiter Auto fahren können wie bisher, nur eben elektrisch, ist naiv, wird aber gern bemüht.

Unter Baerbock und Habeck sind die Grünen sozial- und wirtschaftspolitisch nach links gerückt

Es mag von einer Möchtegernregierungspartei zu viel verlangt sein, Vorstellungskraft jenseits von Realpolitik zu entwickeln. Die Verständnislosigkeit, mit der hessische Grüne auf die Kids im Dannenröder Wald blicken, die fordern, verdammt noch mal das angeblich Unmögliche möglich zu machen, spricht dafür.

Der Soziologe Niklas Luhmann hat eine überwölbende Gesellschaftstheorie entwickelt. Er nimmt an, dass sich die Gesellschaft in diverse Teilsysteme ausdifferenziert, die Wirtschaft, die Politik, die Medien. Jedes System funktioniert nach seiner eigenen Logik. In der Wirtschaft zählt Gewinnmaximierung, in den Medien Nachrichtenwert, in der Politik Macht.

Ein Problem wird in allen Systemen unterschiedlich wahrgenommen. Entsprechend skeptisch sah Luhmann die Chancen von Gesellschaften, ökologische Gefährdungen adäquat zu bearbeiten. Folgt man seiner Theorie, können die Grünen gar nicht so visionär-realistisch denken, wie es Fridays for Future fordert.

Sicher, Luhmann entschuldigt nicht alles. Aber sollte man den Versuch verdammen, den Mainstream einen Schritt nach vorne zu bringen?