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Blümchen für die Damen,Tierfell für die Herren

Die ödeste Zurichtung eines Ödön-von-Horvath-Stücks seit Langem im Norden: Am Hamburger Schauspielhaus zeigt Heike Marianne Goetze „Geschichten aus dem Wiener Wald“ im Premieren-Stream als plakativen Austausch von Brutalitäten verhüllter Alptraummonster

Von Jens Fischer

Geschlossen sind wieder einmal die Theater, jede Aufführung vor Publikum ist verboten. Aber im Gegensatz zum ersten Shutdown dürfen zumindest die Arbeiten für anstehende Premieren weiterlaufen. Viele Häuser führen sie bis zur Generalprobe fort und lagern die unerlöste Produktion dann ein, um sie irgendwann oder nimmer mehr in den Spielplan zu heben. Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg versucht einen anderen Weg, gönnt seinen Schauspielern und Zuschauern auch eine November-Premiere – öffentlich wahrzunehmen wenigstens im Internet. Leibhaftiger Applaus ist aus dem leeren Parkett natürlich nicht zu ernten, aber online zumindest Aufmerksamkeit und Mundpropaganda zu generieren für Heike Marianne Goetzes schonungslose Art, die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth zu erzählen. Kostenlos konnten sich Interessierte dafür anmelden, 2.000 von ihnen bekamen laut Intendantin Karin Beier einen Link zum Live-Stream zugemailt.

So wie herbstlich trostlose Bäume verkehrt herum auf der Bühne hängen, stellt die Regie eine im Stadttheater gern reproduzierte Volksstück-Ästhetik auf den Kopf, mit der verborgenes Denken und verdrängtes Fühlen subtil herausgearbeitet wird aus Horváths Kleine-Leute-Dramen, die zwischen ökonomischer Abstiegsangst und tröstend sich aufplusterndem Nationalsozialismus spielen in der Weltwirtschaftskrise.

Mal traurig ausweglos, mal aufrüttelnd verzweifelt wird das Strampeln für ein selbstbestimmtes Leben gern inszeniert und die Aktualität betont für eine Zeit, in der politisch extreme Positionen bei verunsicherten und verführbaren Kleinbürgern an Anhängerschaft gewinnen.

Goetze scheint sich für all das kaum, sondern nur für eine Regung zu interessieren: Furcht gebietende Abscheu. Die 90 Aufführungsminuten lacht ständig jemand dreckig oder höhnisch, auf alle Fälle: hässlich. Maschinentuckern wird derweil mit Beats mal knarzend, mal gluckernd zu einer bedrohlich wellenden Klangkulisse abgemischt. Dazwischen platziert sind Wiener-Walzer-Karikaturen.

Schweinhälften schleppt das Ensemble an die Rampe, geht doch eine der Hauptfiguren dem Metzgerhandwerk nach. Frauen waschen sich, rasieren Achselhaare, stolzieren wie auf einem Laufsteg herum, streichen sich Aufmerksamkeit heischend über den Oberschenkel oder befingern Kacke ihres Lebensgefährten. Männer sitzen derweil herum, entbieten den Hitler-Gruß, prahlen machistisch, onanieren Frauen an oder befummeln sie einfach. Kurz gesagt: Frauen sind hilflos doof und gefügig, Männer einfach nur widerlich. Alle zusammen: grauenhaft plakativ.

Zudem reduziert Goetze die dialektale Kunstsprache der Vorlage auf Passagen, die Beleidigungen, Verachtung, Hohn, Hass oder Gewaltfantasien ausdrücken. Entwicklung von Handlung oder Charakteren findet nicht statt, alle wirken isoliert, alles wirkt dekontextualisiert. Auch die Artikulation changiert nicht zwischen Verbergen, Mitteilen und Entgrenzen. Betont antinaturalistisch wird in ständig wechselnden grellen Tonfällen gesprochen – mal geblökt, geschrien, geblafft, gekeift, gegrölt, mal harsch betonungslos Text aufgesagt, mal rasend herausgekaspert, opernhaft gesungen oder albern tiriliert. Die bei Horváth wichtige Regieanweisung „Stille“ kommt in Hamburg nur als chorisch skandiertes Stichwort auf die Bühne.

Wenn Protagonistin Marianne (Eva Maria Nikolaus) ihren aufgezwungenen Liebhaber Oskar verlässt und Hallodri Alfred kennenlernt, ergehen sich beide schlabbrig in rhythmischer Sportgymnastik. Die Anmerkung „Von dir möchte ich ein Kind“ wirkt da ziemlich absurd. Und so schneidet die Bildregie auf eine der anwesenden Schweinehälften. Denn so wird das Kind dieser Liaison enden: tot.

Das ist es dann aber auch schon mit den positiven Effekten der filmischen Elemente. Häufig irren die Kamerablicke aus ihren fixen Perspektiven über die Bühne auf der Suche nach relevantem Geschehen, die Totale als Bezugspunkt der vereinzelten Aktionen wird zu selten orientierungsfördernd eingesetzt, dafür mit Überblendungsspielereien die Inszenierung konterkariert. Bei Dialogen ist nicht selten nur ein Sprechender ins Bild gesetzt, Nazi Erich aber aus nachvollziehbarem Ekel so gut wie nie.

Erschwerend kommt hinzu, dass häufig nicht auszumachen ist, wer überhaupt spricht, bedingt durch Goetzes Regie-Clou: Alle Schauspielenden stecken in Ganzkörperkostümen. Ein wildes Sammelsurium aus Stofffetzen, mit Blümchen für die Frauen, etwas Tierfelligem für die Herren. Kopftuch und auch eine Verhüllung des Antlitzes sind zudem Pflicht, sodass sich Nahaufnahmen mimischen Spiels sowieso erübrigen. Es drängt sich die Frage auf: Was soll das?

Goetze hat im Norden schon am Schauspiel Hannover ähnlich gearbeitet. Sie verzichtet auf Psychologisierung, entindividualisiert das Bühnenpersonal, sieht in allen und jedem Alptraummonster, die soziale Stereotype abbilden und für eine Angstatmosphäre auf der Bühne sorgen sollen.

Von Beginn an sind nur gesichtslose Menschen zu sehen, hinter deren anonymen Masken sich nichts verbirgt außer Brutalität

In Hamburg wird daher nicht Szene für Szene trügerisches Verhalten ans Licht gebracht, sondern von Beginn an sind nur gesichtslose Menschen zu sehen, hinter deren anonymen Masken sich nichts verbirgt außer Brutalität. Nur diese Motivation scheint sie sprechen zu lassen, also entsprechende Fragmente öffentlichen Redens rauszuhauen. Sprache als selbstbewusst genutztes Kommunikationsmittel steht niemandem zur Verfügung.

Das ist grotesk, aber keineswegs verstörend, weil die bösartigen Horrorzombies nicht zu bedauern, zu verurteilen, zu lieben sind. Sie werden den Zuschauenden kein bisschen nahegebracht, sondern nur denunziert als affektgesteuert, hirntot und verkommen. Dass im Programmheft dazu literaturwissenschaftliche Expertisen, moderne Sprachtheorie, Lacansche Psychoanalyse und sprachanalytische Philosophie herangezogen werden, hilft keineswegs, da keine theatralen Mittel für eine differenzierte Analyse zum Einsatz kommen.

Nachdem sich Marianne an der grausamen Arroganz und dem allseitigen Missbrauch der patriarchalen Gesellschaft vollends abgearbeitet hat, kommt doch noch etwas Leben ins Spiel. Das gesamte Ensemble entlädt seine Energien in einer langen Partyszene, dank des Handkamera-Einsatzes wackelt die Szenerie, alles zuckt, alle tanzen. Und Marianne ist sogar demaskiert bei demütigender Stripshow-Arbeit zu sehen. Endlich ein Mensch?

Keine Chance. Schon erstarren alle wieder und breiten nochmals emotionslos ihre Frauen- und Männerklischees aus, während Marianne in ein Hochzeitskleid zu schlüpfen und eine Babypuppe mit einem Blut spritzenden Dolch zu bedrohen hat. Das Kind muss weg, denn mit ihm halten Männer sie für nicht heiratsfähig und sie selbst kann es sich finanziell sowieso nicht leisten. Der finale Satz lautet: „So ganz ohne Kind, man stirbt aus, schade.“

Das sagt einer dieser dösigen Kerle und suggeriert damit: Laut Goetze wäre das vielleicht die Lösung – lieber aussterben als in so einer eiskalten Welt der Männertiere zu leben. Aber die gnadenlos blutleere Exaltation solcher Thesen macht nicht widerständig Mut, sondern nur müde. Goetzes Inszenierung ist wohl die ödeste Zurichtung eines Horváth-Stücks seit Langem im Norden. Wer sich live eine eigene Meinung bilden möchte, der kann sich über die Ankündigung des Schauspielhauses freuen, in den kommenden Monaten eine zweite Premiere vor Publikum anbieten zu wollen.

„Geschichten aus dem Wiener Wald“: Schauspielhaus Hamburg. Die Premiere im Theater findet zu einem späteren Zeitpunkt nach dem Lockdown statt

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