Neue Coronavirus-Entwicklungen: Gesundheitsämter überlastet

Wieder gibt es in Deutschland über 11.000 Neuinfektionen an einem Tag. Die USA lassen Remdesivir zu. Spanien rechnet mit drei Millionen Infizierten.

Ein medizinischer Mitarbeiter hält einen Körbchen mit rund 50 Corona-Tests in der Hand und trägt dabei grüne Schutzhandschuhe

Coronatests von Fußballfans vor einem Spiel des FC Bayern München Ende September in München Foto: ActionPictures/imago

BERLIN/MADRID/WASHINGTON dpa/reuters/afp | In mehreren deutschen Städten sind die Gesundheitsämter wegen der steigenden Corona-Infektionszahlen überlastet. Sie könnten in einer ganzen Reihe von Städten nicht leisten, was anzustreben sei, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. Sie könnten daher nicht in jedem Fall die Kontakte der Betroffenen nachvollziehen. Auch in Teilen Berlins sei das zu erleben.

Seibert mahnte die Bevölkerung zu strenger Einhaltung des Infektionsschutzes: „Wir sind nicht machtlos, wir haben es in der Hand, diesen Trend zunächst einmal zu stoppen und umzukehren.“

Warnungen vor 20.000 Neuinfektionen pro Tag und einer außer Kontrolle geratenden Lage wollte sich die Bundesregierung nicht anschließen. Seibert wies darauf hin, „dass man die Sache sicher auch regional und lokal betrachten muss“.

Quarantäne in Berlin auch ohne ärztliche Anordnung Pflicht

Weil die Gesundheitsämter zunehmend überlastet sind, gilt für Infizierte und Kontaktpersonen in Berlin künftig bereits ohne individuelle amtsärztliche Anordnung eine Pflicht zur Selbstisolation und Selbstquarantäne. Das gab Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) am Freitag nach Beratungen mit allen Bezirken über ein einheitliches Vorgehen bekannt. Alle Bezirke haben demnach eine entsprechende Allgemeinverfügung erlassen oder tun dies umgehend.

Demnach sind Betroffene bereits ab Kenntnis einer Infektion oder eines möglichen Kontakts mit einem Infizierten rechtlich dazu verpflichtet, sich selbst in Quarantäne zu begeben. Damit soll sichergestellt werden, dass trotz zeitlicher Verzögerungen bei der Information und Kontaktnachverfolgung durch die Ämter die nötigen Eindämmungsmaßnahmen erfolgen.

Bei der Kontaktnachverfolgung würden sich die Gesundheitsämter ab sofort schwerpunktmäßig um Ausbrüche im Umfeld von besonders gefährdeten Risikogruppen etwa in Altenheimen und Krankenhäusern konzentrierten, kündigte Kalayci an. Alle anderen Bürger müssten nun mehr Eigenverantwortung zeigen.

Labore und Corona-Warn-App

Noch immer sind nicht alle Labore, die Coronatests auswerten, an die Warn-App angeschlossen. Mittlerweile sind nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert 148 von bundesweit 165 Test-Laboren an die Corona-Warn-App angeschlossen. Rund 90 Prozent der Labore könnten damit App-Nutzern das Testergebnis digital übermitteln. Die App sei inzwischen 20,4 Millionen Mal von möglichen Nutzern heruntergeladen worden.

EU-Minister wollen Grenzen offen halten

Trotz der steigenden Zahl von Corona-Infektionen wollen die für Wettbewerbsfähigkeit zuständigen EU-Minister*innen die Grenzen offen halten. „Unter keinen Umständen werden wir die Grenzen wieder schließen“, sagte der für Binnenmarktfragen zuständige EU-Kommissar Thierry Breton am Freitag nach einer informellen Videokonferenz. „Da waren wir uns alle einig.“ Der gemeinsame europäische Binnenmarkt sei „eine Säule der Widerstandsfähigkeit Europas“.

Ähnlich äußerte sich Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. „Wir sind alle sehr besorgt aufgrund der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Coronapandemie“, sagte der CDU-Politiker. Man wolle Grenzschließungen vermeiden. Ähnlich hatte sich zuvor das Auswärtige Amt geäßert. Das Frühjahr habe gezeigt, dass Grenzschließungen „nicht in unser aller Sinn“ seien, sagt eine Sprecherin. Sie verwies auf Störungen beim Warenverkehr und des Verkehrsflusses.

Drei Millionen – hohe Dunkelziffer in Spanien

In Spanien gibt es nach Angaben von Ministerpräsident Pedro Sanchez voraussichtlich dreimal so viele Corona-Infektionen wie offiziell gemeldet. Aus einer Hochrechnung einer landesweiten Antikörper-Studie gehe hervor, dass die eigentliche Gesamtzahl bei drei Millionen liege, sagte Sanchez bei einer Pressekonferenz am Freitag. Am Mittwoch hatte Spanien als erstes europäisches Land auf Basis offizieller Daten des Gesundheitsministeriums die Schwelle von einer Million Infektionen überschritten. Am Donnerstag wurden 20.986 neue Fälle gemeldet, die Gesamtzahl lag bei 1.026.281.

USA lassen Remdesivir zu

Die US-Arzneimittelbehörde hat das Medikament Remdesivir zur Behandlung von Covid-19-Erkankungen zugelassen. Das geht aus einer am Donnerstag (Ortszeit) veröffentlichten Mitteilung hervor. Seit Mai hatte das Mittel des US-Herstellers Gilead Sciences in den USA bereits eine Notfallzulassung, nun ist es dort das erste offiziell zur Behandlung von Covid-19-Patienten zugelassene Medikament. Die FDA sprach von einem „Meilenstein in der Pandemie“.

Das Mittel sei geeignet für Menschen, die mindestens 12 Jahre alt und mindestens 40 Kilogramm schwer seien, und solle nur bei schwereren Verläufen und von medizinischen Experten verabreicht werden, teilte der Hersteller mit.

In Europa hatte das Mittel im Juli als erstes Medikament eine Zulassung unter Auflagen zur spezifischen Behandlung von bestimmten Covid-19-Patienten erhalten.

11.242 Corona-Infektionen

Die Gesundheitsämter in Deutschland haben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts vom frühen Freitagmorgen 11.242 Coronaneuinfektionen binnen eines Tages gemeldet. Die Zahl ist vergleichbar mit dem Höchstwert von 11.287 Fällen vom Vortag und liegt deutlich über den 7.334 gemeldeten Neuinfektionen vom Freitag Mitte Oktober.

Die jetzigen Werte liegen damit über denen vom Frühjahr, sind aber nur bedingt vergleichbar, weil mittlerweile wesentlich mehr getestet wird – und damit auch mehr Infektionen entdeckt werden. Expert*innen zufolge sind die neu gemeldeten Infektionen wegen der Zeit zwischen Ansteckung, Test, Ergebnis und Meldung ein Hinweis darauf, wie stark das Virus vor etwa einer Woche in der Gesellschaft unterwegs war. Deshalb dauere es auch, bis sich politische Maßnahmen in den Meldezahlen niederschlagen könnten.

Seit Beginn der Coronakrise haben sich nach RKI-Angaben mindestens 403.291 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert (Stand: 23.10., 0.00 Uhr). Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion lag demnach bei 9.954. Das waren 49 mehr als am Vortag. Nach Schätzungen des RKI gibt es inzwischen etwa 310.200 Genesene.

Die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen in einer Woche lag nach RKI-Angaben vom Freitag im bundesweiten Durchschnitt bei 60,3. Zwei Tage zuvor betrug diese Inzidenz noch 51,3.

Infektionszahlen weiterhin sehr hoch

Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag in Deutschland laut RKI-Lagebericht vom Donnerstag bei 1,11 (Vortag: 1,09). Das bedeutet, dass zehn Infizierte etwa elf weitere Menschen anstecken. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.

Zudem gibt das RKI in seinem Lagebericht ein sogenanntes Sieben-Tage-R an. Der Wert bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen liegt dieser Wert nun bei 1,23 (Vortag: 1,17). Er zeigt das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen.

Die Stadt Hamburg gilt ab sofort offiziell als Coronarisikogebiet. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts lag der Sieben-Tage-Wert am Freitag bei 52,8 und kletterte damit über den kritischen Wert von 50. Die Hamburger Gesundheitsbehörde hatte am Donnerstag 276 neue Fälle gemeldet – so viele Coronaneuinfektionen wie noch nie seit Ausbruch der Pandemie. Der von der Stadt berechnete Sieben-Tage-Wert kletterte auf 64,6 Infektionen je 100.000 Einwohner*innen.

Das RKI hatte diesen in rechtlicher Hinsicht maßgeblichen Wert am Donnerstag für Hamburg mit 46,5 angegeben. Laut Gesundheitsbehörde liegt die Abweichung vor allem in einer verzögerten Erfassung der Daten begründet.

Hamburg berät über neue Maßnahmen

Hamburgs rot-grüner Senat kommt an diesem Freitag zu einer Sondersitzung zusammen, um über weitere Maßnahmen im Kampf gegen die Coronapandemie zu beraten. Es dürfte dabei unter anderem um eine Beschränkung der Zahl von Personen gehen, die bei privaten Feiern im eigenen Wohnraum zusammenkommen dürfen.

Währenddessen steigt die Zahl der Coronapatienten in den Krankenhäusern im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen stark an. Nach Zahlen der Landesregierung vom Freitag werden aktuell rund 1.420 Patienten mit Covid-19 stationär behandelt – vor einer Woche waren es noch 950, vor einem Monat rund 320. 275 Patient*innen lägen aktuell auf der Intensivstation, 148 von ihnen müssten beatmet werden.

Die Kliniken sind den Angaben zufolge allerdings noch weit entfernt von ihrer Kapazitätsgrenze. Aktuell gebe es rund 5.640 Intensivbetten, in denen die Patienten auch beatmet werden könnten, 1.320 davon seien im Moment nicht belegt. Beim bisherigen Höhepunkt der Pandemie Mitte April waren in den NRW-Krankenhäusern mehr als 2.100 Patient*innen gleichzeitig behandelt worden, knapp 600 mussten in der Spitze beatmet werden.

Die Coronavirus-Infektionen in Europa haben sich einer Reuters-Zählung zufolge in den vergangenen zehn Tagen mehr als verdoppelt. Am Donnerstag stieg die Zahl der neuen Fälle in Europa erstmals über die Marke von 200.000. Am 12. Oktober war erstmals die Marke von 100.000 Fällen überschritten worden. Laut der Zählung beläuft sich die Zahl der Infektionen in Europa insgesamt auf 7,8 Millionen und 247.000 Tote.

Infektionen in Europa verdoppelt

In Polen stehen zudem offenbar neue Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus bevor. Restaurants sollten etwa Speisen nur noch außer Haus anbieten, sagte ein Regierungssprecher. Die Regierung könne zudem empfehlen, dass ältere Menschen ab 70 Jahre zu Hause bleiben sollten.

Nach einem Monat des zweiten Lockdowns sinken die Neuinfektionen in Israel auf 895 am Donnerstag, wie das Gesundheitsministerium am Freitag mitteilte. Am Sonntag waren erste Lockerungen in Kraft getreten. Kindergärten und Vorschulen öffneten für Hunderttausende Kinder im Alter bis zu sechs Jahren. Auch Einrichtungen ohne Publikumsverkehr durften ihre Arbeit wieder aufnehmen. Die Auflage, dass Bürger*innen sich nicht weiter als einen Kilometer von ihrem Zuhause entfernen dürfen, wurde aufgehoben, auch der Besuch des Strands ist wieder erlaubt.

Indien verzeichnet 54.366 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Damit haben sich insgesamt knapp 7,8 Millionen Menschen in dem zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde nachweislich mit dem neuartigen Coronavirus angesteckt, wie das Gesundheitsministerium mitteilt. Das ist weltweit nach den USA, die rund 8,3 Millionen Fälle zählen, der höchste Wert. Die Zahl der registrierten täglichen Neuinfektionen in Indien bleibt damit seit dem Höhepunkt im September rückläufig. Die Zahl der Menschen, die mit oder an dem Virus starben, erhöhte sich um 690 auf 117.306.

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