„Das Ungleichheitsvirus heißt Neoliberalismus“

In der Coronakrise vertieft sich die Kluft zwischen Arm und Reich, sagt Christoph Butterwegge. Die Pandemie wirke wie ein Katalysator und wie ein Brennglas. Das Kardinalproblem liegt in der Vermögensverteilung, davon ist der Kölner Armutsforscher überzeugt.

Warteschlange in der Kälte anstatt Drive-in mit Porsche – hier bei einer Corona-Teststation in Wuppertal am 22. Oktober Foto: Caroline Seidel/dpa

Interview Pascal Beucker

taz: Herr Butterwegge, die zweite Coronawelle schwappt über die Bundesrepublik. Welche sozialen Auswirkungen wird das haben?

Christoph Butterwegge: Das hängt natürlich davon ab, wie hart sie uns trifft. Viel wird davon abhängen, ob das gesellschaftliche Leben wieder heruntergefahren werden muss. Auf jeden Fall zeigen die Erfahrungen mit der ersten Welle, dass die sozioökonomische Ungleichheit weiter zunehmen wird.

Woran machen Sie das fest?

Dass sich die Ungleichheit während des Lockdowns und des wirtschaftlichen Einbruchs verschärft hat, zeigt sich auf drei Ebenen. Da ist zunächst die gesundheitliche Ebene mit dem Infektionsgeschehen selbst: Vor dem Virus sind zwar vordergründig alle Menschen gleich, zwischen Einkommens- und Immunschwäche besteht aber ein Kausalzusammenhang. Arme sind einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt, weil ihre Arbeitsbedingungen in aller Regel schlechter und ihre Wohnverhältnisse hygienisch bedenklicher sind. Zudem leiden sie vielfach unter sozialbedingten Vorerkrankungen, was das Risiko erhöht, schwer an Covid-19 zu erkranken. Hinzu kommt die psychische Belastung: Wer eine große Wohnung hat, übersteht eine Quarantäne viel entspannter als eine Familie, deren Mitglieder keine eigenen Zimmer haben.

Und die zweite Ebene?

Das ist die ökonomische. Einschneidende Infektionsschutzmaßnahmen sind erforderlich, hinterlassen aber wirtschaftliche Kollateralschäden, die nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen treffen. Vielmehr hat die Coronakrise einige Menschen reicher und viele ärmer gemacht. Es gibt eine soziale Polarisierung zwischen denen, die wegen Erwerbsausfalls, Geschäftsaufgabe, Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlustes herbe finanzielle Verluste erleiden, und jenen, die ein Unternehmen oder einen Arbeitsplatz haben, dem die Rezession nichts anhaben kann. Manche Branchen wie der Onlinehandel, Logistikfirmen und Lieferdienste haben ihre Gewinne in der Krise ja sogar gesteigert.

Die Phase des Lockdowns im Frühjahr hat drastisch vor Augen geführt, dass ein großer Teil der in Deutschland lebenden Menschen kaum in der Lage ist, finanziell über die Runden zu kommen, wenn das reguläre Einkommen mal für ein paar Wochen ausfällt. Bis tief in die Mittelschicht hinein fehlt es schlicht an Rücklagen. Letztlich kommt es nicht auf das Einkommen, sondern auf das Vermögen an. Es ist hierzulande besonders ungleich verteilt und konzentriert sich bei 45 hyperreichen Familien, die mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung – über 40 Millionen Menschen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung hat kein nennenswertes Vermögen und ist daher nur eine Kündigung, eine schwere Krankheit oder einen neuerlichen Lockdown von der Armut entfernt.

Aber haben die Bundesregierung und die Landesregierungen durch ihre milliardenschweren Hilfsprogramme nicht schon viel abgefedert?

Damit kommen wir zur dritten Ebene. Ich bin weit davon entfernt, die staatlichen Hilfspakete, Rettungsschirme und Fördermaßnahmen in Gänze zu verdammen. Vieles davon war nötig. Aber auffällig und kritikwürdig ist ihre verteilungspolitische Schieflage. Es gibt ein deutliches Übergewicht zugunsten der großen Unternehmen, die selbst dann unterstützt werden, wenn das unnötig ist.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Nehmen Sie nur das Beispiel BMW. Ich bin ein Befürworter des Kurzarbeitergeldes, weil es Massenentlassungen verhindern kann. Aber ich halte es für einen Skandal, wenn die Bundesagentur für Arbeit durch Zahlung von Kurzarbeitergeld einen Großteil der Lohnkosten von BMW übernimmt, obwohl genug Geld da war, um den Aktionären eine satte Dividende von 1,64 Milliarden Euro zu zahlen. Davon hat das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, Susanne Klatten und Stefan Quandt, mehr als 750 Millionen Euro eingestrichen.

Dänemark und Frankreich binden Überbrückungshilfen an die Bedingung, dass ein Unternehmen keine Gewinne ausschüttet. Das würde ich mir für Deutschland auch wünschen. Auf der anderen Seite wurden die am meisten Bedürftigen von den Hilfsmaßnahmen viel zu wenig bedacht. Die Bereitschaft des Staates zu helfen ist je nach dem sozialen Status unterschiedlich stark ausgeprägt.

Der Bundestag hat allerdings auch zwei „Sozialschutzpakete“ verabschiedet.

Die waren auch dringend nötig. Bedacht wurden Menschen, die zum Beispiel als Soloselbstständige und Kleinunternehmer in Hartz IV fielen. Die Jobcenter gewähren ihnen bis zum Jahresende befristet Zugang, ohne das Vermögen sowie die Größe der Wohnung und die Miethöhe einer Prüfung zu unterziehen. Das greift aber zu kurz. Ein weniger bürokratischer Zugang sollte für jeden Antragsteller gelten, und zwar auf Dauer. Für höchst problematisch halte ich, dass die am härtesten von der Pandemie betroffenen Personengruppen höchstens am Rande berücksichtigt worden sind. Obdach- und Wohnungslose, Geflüchtete, Migranten ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdienerinnen, Kleinstrentner und Transferleistungsbezieherinnen gehören wohl kaum zu den Gewinnergruppen.

Wie hätte ihnen konkret geholfen werden sollen?

Nehmen wir nur einmal Alleinerziehende und Familien im Hartz-IV-Bezug: Die hatten größte Probleme, weil Schulen und Kitas geschlossen waren und das kostenlose Mittagessen wegfiel, das arme Kinder dort inzwischen bekommen. Da hätte der Staat umgehend und schnell helfen können und müssen. Warum wurde ihnen nicht im Frühjahr ein Aufschlag in Höhe von 100 Euro pro Monat für Lebensmittel, Schutzmasken und Desinfektionsmittel gewährt?

Inzwischen hat es immerhin einen Kinderbonus von 300 Euro pro Kind gegeben, der nicht mit dem Arbeitslosengeld II beziehungsweise dem Sozialgeld verrechnet wird.

Das hat den Betroffenen geholfen, gar keine Frage. Allerdings kommt die Einmalzahlung des Bundes in zwei Herbst-Raten verdammt spät. Außerdem ersetzt sie natürlich keine permanente Unterstützung. Mir kommt das eher wie ein Ablasshandel vor, mit dem sich die Regierung von der eigentlichen Verpflichtung zur kontinuierlichen Hilfe befreit. Fragwürdig ist überdies, dass die Eltern aus der Mittel- und Oberschicht den Kinderbonus gleichfalls bekommen und ihn erst mit der Steuererklärung zurückzahlen müssen.

Aber müssen Sie nicht anerkennen, dass Deutschland bislang ganz gut durch die Krise gekommen ist?

Verglichen mit anderen Ländern, in denen es viel mehr Covid-19-Tote zu beklagen gibt, ist die Bundesrepublik bisher relativ gut durch die Pandemie gegangen. Aber dies ändert nichts daran, dass die ohnehin erhebliche Ungleichheit in Deutschland während der pandemischen Ausnahmesituation weiter gewachsen ist und sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch mehr vertieft hat.

Ist Corona ein Ungleichheitsvirus?

Nein, das eigentliche Ungleichheitsvirus ist der Neoliberalismus. ­Corona wirkt da nur als Katalysator. In der Pandemie hat sich die Ungleichheit aufgrund der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und einer Politik verschärft, die den „Wirtschaftsstandort“ vergöttert, Interessen der Finanz­investoren bedient und daher sozial polarisierend statt egalisierend wirkt. Das Kardinalproblem unserer Gesellschaft ist die bestehende Verteilungsschieflage.

Foto: imago

Christoph Butterwegge, geboren 1951, erforscht seit Jahrzehnten wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Bis 2016 lehrte der Politikwissenschaftler als Professor an der Universität Köln. Von 1970 bis 1975 sowie von 1987 bis 2005 war er Mitglied der SPD. Auf Vorschlag der Linken kandidierte er 2017 als Parteiloser für das Amt des Bundespräsidenten. Gerade ist sein neuestes Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ im PapyRossa Verlag erschienen.

Können Sie das konkretisieren?

Nach den Kriterien der Europäischen Union sind heute 13,3 Millionen Menschen in Deutschland arm oder zumindest armutsgefährdet – ein Rekordwert. Sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung – das sind für einen Alleinstehenden 1.074 Euro monatlich. Gleichzeitig entfallen laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung inzwischen 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel, 35 Prozent konzentrieren sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent.

Das bedeutet, dass sogar unter den Reichen selbst sich der Großteil des Vermögens bei den Hyperreichen zusammenballt. Der reichste Mann der Bundesrepublik, Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, besaß vor der Pandemie schon 41,5 Milliarden Euro an Privatvermögen. Das hat sich jetzt noch mal um 300 Millionen Euro vermehrt.

Nicht nur als Konsequenz aus der gegenwärtigen Coronakrise fordern Sie in Ihrem neuen Buch, „das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem“ müsse grundlegend verändert“ werden. Das klingt ziemlich weit weg von der gesellschaftlichen Realität.

Man muss kein Marxist sein, um zu erkennen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft mit wachsender sozioökonomischer Ungleichheit ist, deren Hauptgrund im fortbestehenden Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit besteht. Wer Armut wirksam bekämpfen will, muss den privaten Reichtum antasten. Der pandemische Ausnahmezustand hat den Wert der Solidarität vielen Menschen wieder vor Augen geführt. Sie merken, dass ihnen die Fixierung auf den Markt und die Konkurrenz in einer solchen Situation wenig nützt. Dazu zählt auch die Erkenntnis, dass eine weitere Ökonomisierung, Finanzialisierung und Privatisierung vor allem des Gesundheitswesens ein Irrweg wäre.

Skepsis gegenüber den Verheißungen des Neoliberalismus ist die Grundvoraussetzung für ein kritisches Gesellschaftsbewusstsein. Das ist ebenso positiv wie die Erkenntnis, welche beruflichen Tätigkeiten „systemrelevant“ sind – allerdings nicht entsprechend gut bezahlt werden. Ob es um einen ordentlichen Tariflohn geht, um eine Anhebung des Mindestlohns auf mindestens 12 Euro, um die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung oder um eine Kurskorrektur in der Steuerpolitik – es bleibt noch viel zu tun, wenn sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter vertiefen soll.

Sie gelten als bekanntester Armutsforscher Deutschlands. Seit Jahrzehnten analysieren Sie nun schon das bestehende Elend. Ist das nicht zutiefst frustrierend?

Nein, keineswegs. Denn ich beschäftige mich zwar mit der Armut, ihren Ursachen und Erscheinungsformen, aber auch mit dem riesigen Reichtum. Die kritische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung kann entmutigen. Trotzdem ist mein Wille ungebrochen, die bestehenden Verhältnisse in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit zu verändern. Davon lasse ich mich auch durch manche Rückschläge und Rechtstendenzen nicht abbringen.