Live um jeden Preis

Wien in der Nacht zum Dienstag war eine typische Großnachrichtenlage. Das heißt: hochrelevant, aber weitgehend unklar. Medien wollen rasch informieren und missachten dabei oft ethische Grenzen. Auch dieses Mal wieder

Polizeiab­sperrung vor der Staatsoper in Wien Foto: Joe Klamar/afp

Von Volkan Ağar
, Xenia Balzereit
, Denis Giessler
, Carolina Schwarz
und Peter Weissenburger

Welche Regeln gelten?

In einer Großnachrichtenlage wie Montagnacht in Wien müssen sich Redaktionen schnell entscheiden. Die Situation ist von höchstmöglicher Relevanz, aber gleichzeitig unklar. Während Journalist*innen Rechercheansätze abwägen, verbreiten sich längst Gerüchte im Netz. Sollten Medien also möglichst früh berichten, auch wenn sie kaum etwas wissen? Sollten TV-Sender ihr laufendes Programm unterbrechen? Wer sofort auf Sendung geht, läuft Gefahr, stundenlang sagen zu müssen, dass man nichts weiß. Oder schlimmer: Spekulationen und Fakes zu verbreiten. Wer hingegen abwartet, riskiert, sein Publikum an die Gerüchteküche der sozialen Netzwerke zu verlieren.

Spätestens seit einigen entscheidenden Ereignissen im Jahr 2016 gibt es eine medienethische Debatte über die Rolle von journalistischen Medien in Gefährdungssituationen im digitalen Zeitalter. Der Anschlag von Nizza, der Amoklauf in München, der Angriff auf den Berliner Weihnachtsmarkt zeigten: Redaktionen wetteifern mit den sozialen Netzwerken. Entweder, weil ihnen an sorgfältig recherchierten Informationen gelegen ist – oder einfach aus Sensationsgier.

Trotzdem gelten Sorgfaltspflichten und medienethische Regeln. Was nicht aus zwei unabhängigen Quellen bekannt ist, gilt nicht als Fakt. Auch nicht, wenn es die Polizei oder ein Ministerium meldet. Bei Bildern und Namensnennungen ist das öffentliche Interesse gegen den Persönlichkeitsschutz der Opfer abzuwägen. Die Bevölkerung vor Ort muss schnell informiert werden, damit sie weiß, wie sie sich sicher verhalten kann. Das ist hier vorwiegend für österreichische Medien relevant, weniger für die deutschen. Aufnahmen von konkreten Gewalttaten und unverpixelte Bilder von Opfern können für die Zuschauenden traumatisierend sein und sind in der Regel nicht entscheidend für die öffentliche Sicherheit, weshalb hier gilt: Opfer sind nicht sensationalistisch auszustellen.

Was relativ neu ist: der Versuch, die Täter möglichst wenig in den Mittelpunkt zu stellen, weil vieles dafür spricht, dass dies Nachahmer motiviert.

„Österreich“ und „Krone“

Die österreichischen Nachrichtenportale Oe24.at und krone.at haben in der Nacht auf Dienstag Videoaufnahmen gezeigt, auf denen zu sehen war, wie auf Menschen geschossen wird. Beide Medien stehen seitdem in Kritik.

Der österreichische Presserat hatte bereits eineinhalb Stunden nach den ersten Meldungen via Twitter auf den Persönlichkeitsschutz der Opfer hingewiesen. Die Selbstkontrolleinrichtung der österreichischen Medien hat einen journalistischen Ehrenkodex formuliert, dessen Anerkennung allerdings freiwillig ist. Laut Angaben des Presserats hat sich oe24.de zur Einhaltung des Kodex verpflichtet, krone.at hingegen nicht. Bereits über 1.000 Beschwerden seien eingegangen, gab Alexander Warzilek, Geschäftsführer des österreichischen Presserats, gegenüber der taz am Dienstagmittag an. Das sei ein Rekord.

Laut Warzilek beklagen die Beschwerden verletzte Persönlichkeitsrechte und medienethische Grundsätze, aber auch Pietätlosigkeit. „Eine Rolle spielt natürlich auch, dass die Terroristen damit rechnen, dass das Material verbreitetet wird. Deshalb müssen klassische Medien auf ihre Filterfunktion achten und überlegen, ob das Gezeigte von öffentlichem Interesse ist“, sagt Warzilek. Einer der drei unabhängigen Senate des Presserats werde sich nun im Dezember mit dem Fall beschäftigen und im Januar 2021 entscheiden.

Am Dienstagvormittag sagten Krone-Chefredakteur Klaus Herrmann sowie Oe24- und Österreich-Herausgeber Wolfgang Fellner gegenüber der Tageszeitung Standard, sie hätten die Videos von den Websites genommen. Eine Entscheidung des Presserats hat derweil nur Mahncharakter, Strafen kann das Organ nicht erteilen.

„Unser schärfstes Mittel ist das Publikmachen eines Ethikverstoßes. So können wir einen Diskurs in der Branche anregen. Das kann wehtun und ist nicht zu unterschätzen“, sagt Warzilek. Der österreichische Presserat fordert, dass die Mitgliedschaft im Presserat zum Qualitätskriterium für die öffentliche Presseförderung wird.

„Bild“ und „heute journal“

Die Bild-Zeitung ignorierte die Aufforderung der Wiener Polizei, keine Videos von der Tat oder den mutmaßlichen Tätern zu teilen. Die Redaktion veröffentlichte auf seinem Nachrichtenportal Bild.de einen Beitrag, der vermutlich eine liegende Person in einer Blutlache vor einem Restaurant zeigt, unterlegt mit roter Schrift: „Erste Videos aus der Terror-Nacht in Wien“. Ein Beitrag im Videokanal Bild Live war zeitweise sogar mit falschen Bildmaterial unterlegt. Dort war eine Szene mit Polizisten auf Motorrädern zu sehen, die von Vermummten angegriffen werden. Das Bildmaterial trägt bei zur bedrohlichen Stimmung des Beitrags – es stammt aber nicht aus Wien, sondern zeigt Ausschreitungen in Barcelona.

In anderen Beiträgen wurde spekuliert. „Angriff auf Synagoge in Wien“, urteilte die Bild-Zeitung. Noch bis zum Redaktionsschluss dieses Textes am Dienstagnachmittag war unklar, ob die Synagoge bei dem Ereignis überhaupt eine Rolle spielt. Das österreichischen Behörden wollte einen solchen Angriff nicht bestätigen. Auch ein von der Bild-Zeitung identifizierter angeblicher Sprengstoffgürtel erwies sich im Nachhinein als Attrappe.

Aber auch das „heute journal“ um 21.45 Uhr im ZDF verhielt sich fragwürdig. Weniger als eine Stunde nach den ersten Meldungen war dort ein Video von einer der Schießereien zu sehen, wacklig und von oben gefilmt. Zu diesem Zeitpunkt war der Polizeieinsatz noch in vollem Gange.

Die Wiener Polizei hatte deutlich darum gebeten, Videos während des laufenden Einsatzes nicht zu verbreiten, sondern in einem Upload-Portal den Er­mitt­le­r*innen zu Verfügung zu stellen. Auch das „heute journal“ hatte darauf hingewiesen. Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass eine Redaktion wie die des „heute journals“ zumindest die Echtheit des Videos zuvor geprüft hatte. Dennoch ist zweifelhaft, inwieweit solche Videos, mehrfach wiederholt, der Information dienen – oder ob sie nicht genau das tun, wovor auch der ZDF-Terrorismusexperte warnt: Angst schüren.

Merklich vorsichtiger dagegen waren Montagnacht Zeit Online und Spiegel.de. Diese Redaktionen verzichteten auf Videos und zählten nüchtern und transparent Fakten auf. Beide bedienten sich des etablierten Formats „Was wir wissen / Was wir nicht wissen“, das 2016 aufkam. Textmedien haben gegenüber dem Rundfunk ohnehin den Vorteil, dass sie nicht unter Druck stehen, Bewegtbilder vom Geschehen liefern zu müssen.

Bilderflut in sozialen Medien

Dass die Wiener Polizei dazu aufrief, keine Videos und Bilder ihrer Einsätze in sozialen Medien zu teilen, hat vor allem mit der Sicherheit der Wiener:innen zu tun. In erster Linie ging es darum, die polizeilichen Maßnahmen und damit den Schutz der Bürger:innen nicht zu gefährden. Die Bitte wurde von vielen Nutze­r:in­nen geteilt. Und dennoch waren die sozialen Netzwerke in der Nacht auf Dienstag voll mit privatem Bildmaterial mit teils gewaltvollen und expliziten Szenen. Darunter waren Einsätze der Polizei, Opfer, die in Blutlachen liegen, und auch explizite Bilder, wie ein Täter auf Passant:innen schießt.

Ein Beispiel ist hierbei das Crisis Response Tool bei Facebook, auf dem Be­woh­ner:in­nen Wiens sich in Sicherheit markieren können. Auf der dazugehörigen Seite fanden sich Infos zur aktuellen Lage, Angebote für sichere Unterkünfte, aber auch Dutzende gewaltvolle Videos. Einige als „sensible Inhalte“ markiert, andere waren jedoch auch ohne Warnhinweis ansehbar.

Obwohl Terrorpropaganda und solch explizite Gewaltinhalte gegen die jeweiligen Nutzungsbedingungen der Plattformen verstoßen, waren auch am Dienstag noch zig Videos bei Youtube, Twitter, Face­book und Tiktok zu finden.

Um diese Videos zu erkennen und zu löschen, setzen die Plattformen auf Uploadfilter. Clips werden dabei auf spezifische Inhalte hin analysiert, also „gehasht“. Diese Hashs werden dann mit neuen Uploads verglichen und bei Übereinstimmung automatisch gesperrt. Doch es gibt zahlreiche Möglichkeiten, diese Filter zu umgehen – etwa, indem man Videos spiegelt oder abfilmt. Deshalb – und auch um die Gefahr der Zensur zu umgehen, setzen Facebook und Co Mitarbeiter:innen ein, die diese Videos einzeln sichten und löschen. Sprecher:innen von Facebook und TikTok sagten auf Anfrage der taz, Moderationsteams seien seit Montagabend mit dieser Arbeit beschäftigt. Wie viele Videos konkret gelöscht wurden, konnten oder wollten die Plattformen noch nicht mitteilen.

Es ist bekannt, dass soziale Medien eine elementare Rolle für die Verbreitung von Terror spielen. Die bisherige Arbeit der Plattformen und das Appellieren an die Vernunft von Nutzer:innen scheint offenbar nicht auszureichen, wenn mehr als 12 Stunden später noch immer Videos online stehen. Uploadfilter könnten technisch verbessert und Moderationsteams ausgebaut werden, aber das ist ebenfalls umstritten, etwa wegen Overblocking-Gefahr.