Angekündigte Neuwahlen im Libanon: Das System muss reformiert werden

Das Narrativ, der Libanon würde ohne die Aufteilung der Macht zerfallen, ist die Lebensader der Eliten. Tatsächlich muss genau dieses System enden.

Auf einer Mauer steht "My government did this" - im Bezug auf die verheerende Explosion in Beirut

Die Libanesen haben längst durschaut, wo das Problem liegt Foto: dpa

Die Ankündigung möglicher Neuwahlen bedeutet keinen politischen Wandel im Libanon. Ein neues Parlament und Kabinett allein würden nur die Weiterführung des religiös-konfessionellen Systems bedeuten, bei dem eine kleine Elite die Macht unter sich aufteilt. Dieses oligarchische System müsste durch einen Staat ersetzt werden, dessen politische Führung das Gemeinwohl im Blick hat.

Seit Jahren wird im Libanon über politische Reformen gesprochen: Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro auf; die Staatsschulden betragen mehr als 80 Milliarden Euro. Reformen des öffentlichen Sektors aber bringen die Parteien nicht zustande, denn sie wären politischer Selbstmord.

Das Narrativ, der Libanon würde ohne die Aufteilung der politischen Macht anhand sektiererischer Linien zerfallen, ist die Lebensader der Machthabenden. Seit dem Ende des Bürgerkriegs vor 30 Jahren ziehen ehemalige Warlords die Strippen im Land. Statt einen kollektiven Heilungsprozess anzustoßen, erließen sie eine kollektive Amnestie für Kriegsverbrecher. Es fand keine Aufarbeitung statt, und die Erinnerungen an Gewalt, Krieg und Märtyrer sind essenziell für die politisch-religiösen Parteien und die Identitätsbildung innerhalb ihrer Community.

Seit 1990 hat die konfessionell-politische Elite die Ressourcen, Finanzen und Institutionen des Staates genutzt, um sich zu bereichern und in kleineren Teilen an ihre Klientel zu verteilen. Die wiederum hängt an ihrem Tropf. Die Parteien versprechen Schutz vor den „anderen“ Konfessionen, schachern ihren Anhänger*innen Jobs zu oder bezahlen für Wahlstimmen. Das System funktio­niert, weil der Staat nicht funktioniert. Weil es kaum Arbeitsplätze gibt, kein Nahverkehrssystem, keine öffentlichen Plätze, kein sauberes Trinkwasser oder keinen durchgehend Strom. Der Staat nimmt die Steuern, die über Korruption in den Taschen weniger landen. Und so glauben einige noch immer daran, dass nur die politischen Vertreter*innen ihrer Konfession ihnen beim Überleben helfen.

Erst die Abwertung der Währung, Privatisierungen oder ein ausgeglichener Haushalt würden den Eliten den Nährboden entziehen

Wohl auch deshalb wurde der französische Präsident Macron am Donnerstag von den Menschen auf der Straße bejubelt: Die Menschen wünschen sich Politiker*innen, die für sie einstehen.

Aber auch Neuwahlen können diese Politi­ker*in­nen nicht hervorbringen. Sie sind keine Bedrohung für die politischen Eliten. Eine Bedrohung sind die Reformen, die nicht nur Macron, sondern auch der IWF bei Verhandlungen um ein Rettungspaket fordern: Die Abwertung der Währung, Privatisierungen oder ein ausgeglichener Haushalt würden den Eliten den Nährboden entziehen.

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Auslandskorrespondentin für Westasien mit Sitz in Beirut. Hat 2013/14 bei der taz volontiert, Journalismus sowie Geschichte und Soziologie des Vorderen Orients studiert. Sie berichtet aus dem Libanon, Syrien, Iran und Irak, vor allem über Kultur und Gesellschaft, Gender und Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Für das taz Wasserprojekt recherchiert sie im Libanon, Jordanien und Ägypten zu Entwicklungsgeldern.

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