Corona in Russland: Ganz locker an die Urne
In Moskau gibt es täglich mehr als 1.000 Infektionsfälle. Dennoch wurden die Kontaktbeschränkungen gelockert – pünktlich zur Verfassungsreform.
D ie Kunden des Salons „Moskwitschka“ (Moskauerin) am Rande des Zentrum der russischen Hauptstadt sind vorbildlich. Sie tragen Masken, Plastikhandschuhe und halten Abstand. Gelegentlich schaut die Eigentümerin vor die Tür und fragt, ob eine „Voranmeldung“ in der Schlange stehe.
Bei den Männern geht es wie am Fließband, fünf Minuten nimmt sich der Coiffeur aus Kirgisien für den Schopf. Er freut sich über jeden, der sich für Rasierer entscheidet. Chefin und Angestellte stecken in einer transparenten Kluft, die einem Regencape gleicht. Beim Eintritt muss sich jeder die Hände desinfizieren.
Die Moskauer:innen freuen sich über die Lockerungen. Noch am Montag früh teilte die Stadtverwaltung mit, das Regime der Selbstisolation gelte noch bis zum kommenden Sonntag.
Am Nachmittag kündigte der Bürgermeister in einer Rede an: Fast alle Beschränkungen entfielen schon am nächsten Tag, elektronische Passierscheine und organisierter Spaziergang würden überflüssig. Selbst die Risikogruppe 65+ darf sich wieder ins Getümmel stürzen.
Waschechter Beamter
Bürgermeister Sergei Sobjanin ist eher steif, er verkörpert einen waschechten Tschinownik – einen Beamten. Die Sprachmodulationen beim überraschenden TV-Auftritt teilten nicht die Freude vieler Moskauer. Macht sich der Stadtvorsteher Sorgen, ob die Lockerungen nicht doch der Genesung schaden?
Auch Einheimische bestätigen die Verunsicherung. „Ich war etwas irritiert“, meint eine ältere Dame, die sich Haare an den Beinen entfernen lässt. Bestimmt habe der Kreml Druck gemacht, glaubt sie.
Noch immer verzeichnet Moskau jeden Tag über 1.700 Neuinfizierte. Am Donnerstag stieß Russland mit 511.000 Infizierten in die Spitzengruppe vor. Am selben Tag erneuerte der „Mer“ – der Bürgermeister – die Warnung, keinesfalls leichtsinnig zu werden und an größeren Veranstaltungen teilzunehmen. Vieles ließe sich doch auch am TV verfolgen.
Er wagte es gar, den Hauptstädtern zu empfehlen, der vom 9. Mai auf den 24. Juni verschobenen Siegesparade anlässlich des Triumphs über den Hitlerfaschismus 1945 fernzubleiben.
Gefährlich penetrant
Für einen Befehlsempfänger des Systems klang dies gefährlich penetrant. Hat die Sorgfaltspflicht des Stadtvaters den Pandemiebeauftragten verändert?, fragt man sich in sozialen Medien.
„Rückkehr zum normalen Leben“, versprach Sobjanin, schien jedoch nicht richtig daran zu glauben. Im Präsidialbunker sorgt das für Unruhe. Dort soll sich der Kremlchef aufhalten. Manch einer vermutet jedoch, Wladimir Putin und Sobjanin spielten nur Good Cop, Bad Cop.
Nach der Parade am 25. Juni sind die Menschen aufgerufen, sich an der Verfassungsreform zu beteiligen. Sie können das fast eine Woche lang bis zum 1. Juli erledigen. Bequem, unabhängige Beobachter werden sich kaum einmischen.
Seit dem 15. Januar plant Putin, sich das Recht auf Amtsverlängerung ab 2024 bis 2036 zu sichern. Das ist der einzige Inhalt der Reform, die mehr als 200 Änderungen vorsieht.
Im Kleingedruckten
Für jeden etwas. Für Heteros die Ehe als Bund von Mann und Frau, für Rentner:innen die regelmäßige Anpassung der Renten und für Hobbyphilolog:innen die Pflege des Russischen. Der Passus, der die Wiederwahl des Präsidenten betrifft, verschwindet im Kleingedruckten. Er wird auch nirgends beworben. Wer sich für die Anpassung der Renten ausspricht, stimmt auch für den „ewigen Putin“.
Früher hätte der Kreml diesen Wunsch nicht offen angesprochen. Inzwischen trauen nur noch 25 Prozent dem Präsidenten laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums.
Die Verlängerung der Amtszeit ließ den Kremlchef auch den Ausbruch der Pandemie verschlafen – bis er zähneknirschend Parade und Abstimmung verschob.
Verfassungsgericht und Parlament stimmten den Veränderungen längst zu. „Er möchte von uns noch die Bestätigung erhalten“, meint die ältere Dame, die das Gesicht verzieht, als die Kosmetikerin das Enthaarungspflaster von den Beinen entfernt.
Mit Preisen in Höhe von umgerechnet 120 Millionen Euro lockt die Stadt Moskau die Wähler:innen übrigens an die Urnen. Doch das dürfte an der wachsenden Verachtung für Wladimir Putin nichts ändern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen