die gesellschaftskritik
: Wenn die Normalität das Problem ist

Wer eine neue Politik für Europa will, muss kriminelle Politiker bestrafen – das zeigt das Beispiel Lombardei

„Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem“, lautet ein in linken italienischen Kreisen derzeit beliebter Slogan. Ausgeliehen hat man ihn sich von der Protestbewegung in Chile, wo er schon in Vor-Corona-Zeiten populär war und die Verwüstungen der neoliberalen Politik anzeigte. Wie immer bei kulturellen Transfers ist die Sache nicht so einfach, denn der normale Linke in den reichen Ländern lässt sich gern vom revolutionären Pathos hochziehen ohne gleichzeitig jenes Maß an brutalster Polizeigewalt über sich ergehen lassen zu müssen, das in Chile den Alltag der Opposition prägt. Und ist es nicht so, dass sich auch viele Antikapitalisten gerade eben nach den Dienstleistungen und Vergnügungen einer funktionierenden Marktwirtschaft sehnen?

Das System soll funktionieren, und dazu muss es Lehren aus der Krise ziehen, insbesondere in der EU, insbesondere mit den Euro- oder Corona­bonds. Seit nun schon zehn Jahren bestreiten zuvörderst die deutschen Eliten, dass es nicht eine Währung, den Euro, aber 19 Staatsanleihen geben kann. Dass das weniger mit der allzu oft beschworen europäischen Solidarität als mit kaufmännischer Vernunft zu tun hat, lesen Sie bitte bei unserer Kollegin Ulrike Herrmann nach.

Auf einen anderen Aspekt hat der italienische Schriftsteller und Anti-Mafia-Aktivist Roberto Saviano hingewiesen: Dass nämlich auch ein Wandel in EU-Europa nicht zwangsläufig etwas an einer verkommenen Normalität ändert. In der Region Lombardei, global mit am stärksten von der Pandemie betroffen, regiert seit Jahrzehnten eine kriminelle Clique: „Die Lombardei gehört Silvio Berlusconi und wurde verwaltet von Lega-Ministerpräsident Roberto Formigoni, der wegen schwerer Korruption zu 5 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt wurde – eben wegen der Verquickung von Politik und privatisiertem Gesundheitswesen.“

Die Coronakatastrophe der Lombardei ist keine, für die man äußere Mächte verantwortlich machen könnte – in Italien sind die Regionen für das Gesundheitswesen verantwortlich und mit ihr eine lokale Elite, deren Versäumnisse gerichtlicher Klärung bedürfen. Eine neue Politik und die strafrechtliche Aufarbeitung der alten gehören zusammen: Nur dann wird die EU wirklich Lehren aus dieser Tragödie gezogen und den Weg zu einer neuen Normalität geebnet haben. Ambros Waibel