Foto-Festival in Worpswede wird virtuell: Wenn Realitäten sich ändern

Das Fotofestival „RAW“ in Worpswede ist ins Internet umgezogen. Jetzt kann es jünger werden – und über die Künstlerkolonie hinausstrahlen.

Leere Schützenhalle mit Segelboot im Winterlager

Die Reihe „Glaube.Sitte.Heimat“ zeigt leere Schützenhallen, die zu Bootshallen werden Foto: Marvin Systermans/RAW-Festival

BREMEN taz | Festivalchef Jürgen Strasser klingt ein bisschen wie ein Trauerredner, wenn er zur Eröffnung sagt: „Unser Motto ‚Changing Realities‘ ist zum Programm geworden.“ Aber das täuscht. Es ist im Grunde nur die völlige Erschöpfung, die aus ihm spricht. Angesichts der grassierenden Corona-Pandemie hatten er und sein kleines Team ja nur ein paar Tage Zeit, um die große „Phototriennale“ im beschaulichen Worpswede komplett ins Internet zu verlegen.

„Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, um alles virtuell erlebbar zu machen“, sagt Strasser. In diesem Jahr findet das 2016 begründete Festival zum dritten Mal statt. Und erstmals sollten alle vier Häuser des Worpsweder Museumsverbundes miteinbezogen werden: Der Barkenhoff, die Große Kunstschau, das Haus im Schluh, die Worpsweder Kunsthalle und mehrere örtliche Galerien zeigen Werke 40 internationaler FotografInnen.

Eigentlich. Denn natürlich sind auch all diese Museen nun bis auf Weiteres zu. Aber einfach überall ein Schild hinzuhängen: „Geschlossen wegen Corona“ – das sei eben auch keine Alternative gewesen, sagt Strasser. Also werden die fertig aufgebauten Ausstellungen nun Schritt für Schritt auf Instagram und Youtube zu sehen sein, jeden Tag ein bisschen mehr. „RAW frei Haus“ nennt sich das neue Format, nun zu sehen auf www.raw-frei-haus.com. Neben den Rundgängen sollen auch die geplanten Künstlergespräche nun online stattfinden.

Schon die Vernissage des Festivals lief bei Youtube, ein Cellist der Bremer Kammerphilharmonie improvisierte zu Fotos, nur die fein gewandeten BesucherInnen mit Häppchen und Weingläsern in der Hand waren nicht da.

Fotografie wurde hier „nie gewürdigt“

Der klassische Worpswede-Gast fehlt dem Festival und seinen sieben Ausstellungen nun erst einmal. Andererseits kommt der üblicherweise auch nicht der Fotografie, sondern der Ölmalerei wegen. Er will Werke von Paula Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler sehen, solche von Otto Modersohn oder Fritz Mackensen. All jenen, meist großstädtischen KünstlerInnen eben, die im ausgehenden 19. Jahrhundert die Idylle des Teufelsmoores entdeckten, ein bis dato unbekanntes Dorf im Landkreis Osterholz, nordöstlich von Bremen gelegen.

Bis heute zehrt es davon, vor allem touristisch, und trägt ebenso selbstverständlich wie stolz den Beinamen „Künstlerdorf“. Und obwohl die Fotografie schon alt ist wie jene „Künstlerkolonie“, wurde sie ebenda „nie wirklich gewürdigt“, sagt Strasser. Seit vier Jahren versucht er tapfer, das zu ändern. Letztes Jahr kamen 10.000 Leute in vier Wochen – dieses Jahr sollten es bis zum 7. Juni gute 20.000 werden. Eigentlich. Nun sei das Festival aber auch für „deutlich jüngeres Publikum“ attraktiv, glaubt Strasser, und für jene, die eine gewisse Schwellenangst gegenüber bildungsbürgerlichen Kunstmuseen hindert, sie selbst mal aufzusuchen.

Jede der künstlerisch äußerst verschiedenen und inhaltlich breit gefächerten Ausstellungen des RAW-Festivals hat einen anderen Fokus, die Palette reicht von „Mensch“ über „Landschaft“ bis hin zu „Zeitenwende“ – und soll zugleich einen Bogen zu dem jeweiligen Ort schlagen, an dem sie stattfindet. In dem einstigen Wohn- und Atelierhaus des Malers, Grafikers und Architekten Heinrich Vogeler beispielsweise, dem als Zentrum der Künstlerkolonie und „Gesamtkunstwerk des Jugendstils“ gefeierten Barkenhoff, liegt der Fokus auf dem zwiespältigen Begriff „Heimat“.

Lia Darjes arrangiert dort nach dem Vorbild holländischer Meister die Angebote alter Menschen aus dem russischen Kaliningrad, die mit dem Verkauf von selbst angebautem Obst und Gemüse ihre kärglichen Renten aufzubessern suchen. Darjes fotografierte ihre Marktstände 2016 direkt am Straßenrand – dennoch erzählen die Fotos höchstens in Andeutungen von den sozialen Problemen. Ihre museal-weltentfremdeten, aber handwerklich eindrucksvollen Stillleben wirken so künstlich arrangiert wie deren Referenzen eben auch.

Nebenan dokumentiert Martin Rosswog in einer Art ethnografischer Feldforschung die untergehende Lebenswelt der Siebenbürger Sachsen in Rumänien – eine Fotoserie, die allerdings bereits vor knapp 20 Jahren entstand. Und Marvin Systermans’ Serie „Glaube. Sitte. Heimat“ versucht, am Beispiel der südwestfälischen Stadt Arnsberg den viel zitierten „Strukturwandel“ zu illustrieren und sich an Begriffen wie „Modernität“ und „Tradition“ abzuarbeiten. Aber weniger, um sie mit Leben zu füllen. Hier wird in streng durchkomponierten Fotos in klinisch reinen Farben und mit großer Schärfe die Faszination völlig intakter, allerdings menschenleerer Kegelbahnen oder verwaister Schützenhallen gefeiert, in denen nun Segelboote oder Wohnwagen unterstehen.

„RAW“-Festival: bis 19. 4., Ausstellungen bis 7. 6. im Internet auf www.raw-frei-haus.com

All dies kann man heutzutage in Fotostrecken, Videos und Rundgängen mit 360-Grad-Blick quasi verlustfrei auch im Netz zeigen, auch wenn Strasser natürlich auf das „haptische Erlebnis“ beharrt. Der erhoffte Synergieeffekt aus zeitgenössischer Fotografie und historischer Bildkunst geht natürlich zunächst verloren. Andererseits besteht der Mehrwert dieses Festivals für das Museumsdorf Worpswede aber vielleicht auch vor allem darin, es überhaupt mit aktueller Fotokunst zu konfrontieren.

Doch „RAW“ ist ja nicht nur ein Ausstellungsevent, für das man sich nicht bewerben kann, sondern zu dem man eingeladen werden muss. Und es ist auch ein Ort des Austausches, an dem immer wieder Gespräche entwickelt, Kontakte entstehen und gepflegt werden sollen. „Das kann ein virtueller Raum in dieser Form nicht ersetzen“, sagt Strasser. Dennoch sei er „nicht traurig“, dass sein Festival nun auf Bildschirme verbannt wurde. Der Festivalleiter weigert sich, einfach in Resignation zu verfallen. „Das ist kein Unglück, das über Worpswede hereingebrochen ist“.

Auch finanziell nicht: Das das Festival vorerst nur als „RAW frei Haus“ existiert, sei aus finanzieller Sicht „nicht ganz so dramatisch“, sagt Strasser – „der Verlust an Einnahmen hält sich in Grenzen“. Aber natürlich hoffen sie in Worpswede alle, dass die Fotos am Ende doch auch alle noch ganz traditionell und offline zu sehen sein werden.

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