: Was ist der Westen – und wenn ja, wie viele?
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz wird deutlich, wie sehr die Definitionen des „Westens“ auseinanderdriften. Frankreich und Deutschland beschwören eine Wertegemeinschaft, die USA das gemeinsame Feindbild: China
Aus München Pascal Beucker und Barbara Junge
Auf dem Podium sitzen am Samstagnachmittag sieben Expert:innen in hellgrauen Sesseln. In der Mitte der US-amerikanische Senator Lindsey Graham, links die Chefin von Greenpeace International, Jennifer Morgan. Die sieben diskutieren im Hotel Bayerischer Hof über „Klimawandel und Sicherheit“. Im Publikum sitzen, nur wenig untertrieben, ungefähr genauso viele Zuhörer:innen. Staats- und Regierungschefs sind nicht auszumachen. Etwa 400 Plätze dürften leer geblieben sein. Immerhin habe Siko-Chef Wolfgang Ischinger das Thema Klimasicherheit auf die Agenda gesetzt, erkennt Jennifer Morgan an. Doch die Siko müsse noch viel mehr „ihre ganz besondere Stärke nutzen: Dass hier so viele internationale Entscheider zusammenkommen“, so Morgan gegenüber der taz.
Es ist 17.30 Uhr. Der Höhepunkt der MSC ist gelaufen, der französische Präsident Emmanuel Macron hat gesprochen, die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer geantwortet, der russische Außenminister Sergei Lawrow hat sein Programm abgespult, der chinesische Außenminister auch und davor schon die US-Amerikaner. Aber nicht alle Teilnehmer:innen und Beobachter:innen sind schon aufgebrochen. In den Gängen vor dem Saal summt es laut und hektisch, im ersten Stock haben es sich die internationalen Delegationen in den dunklen Polstern gemütlich gemacht. Die Barhocker rund um Falk’s Bar sind bis auf den letzten besetzt.
Die Klimadiskussion im Hauptsaal interessiert hier niemanden. Das große Thema der Gegenwart ist für die Mehrzahl der „über 500 hochrangigen internationalen Entscheidungsträger“, die laut Veranstalter:innenangaben an der Siko teilnehmen, nur ein Randaspekt. Ihnen geht es um andere Bedrohungen.
Zumindest was das Coronavirus angeht, muss sich die Welt keine Sorgen machen. Jedenfalls, wenn man dem chinesischen Außenminister Wang Yi Glauben schenken will. „Der Morgen naht und wir sehen das Licht“, formulierte er geradezu poesiealbumlyrisch. „Nach dem Sturm kommt immer ein Regenbogen.“ Der 66-jährige Karrierediplomat sagte bei seinem Auftritt am Samstagmittag auch noch: „Wir werden uns von keiner Macht auf dieser Welt aufhalten lassen.“ Das klang dann schon weniger beruhigend – und war auch nicht so gemeint. Denn dieser Satz bezog sich nicht auf die sich immer noch weiter ausdehnende Infektionskrankheit, sondern auf die scharfe Attacke der US-Repräsentant:innen zuvor.
Während Deutschland und Frankreich vor allem über die Krise des transatlantischen Bündnisses sprechen wollten, konzentrierte sich die US-Delegation darauf, die europäischen Staaten auf ihr neues Feindbild einzuschwören. Nicht mehr in erster Linie Russland, sondern China steht im Fokus: Die asiatische Großmacht verfolge „mit allen Mitteln und zu jedem Preis“ seine internationalen Ziele, sagte US-Verteidigungsminister Mark Esper. „Die chinesische Kommunistische Partei geht immer schneller und weiter in die falsche Richtung – mehr Unterdrückung im Inneren, rücksichtslosere Wirtschaftspraktiken, mehr Unbarmherzigkeit und, am meisten beunruhigend für mich, eine aggressivere militärische Haltung.“
Wie schon die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, am Freitag, forderten sowohl Esper als auch Außenminister Mike Pompeo die europäischen Verbündeten eindringlich auf, den chinesischen Technologiekonzern Huawei von den neuen 5G-Netzen auszuschließen. Firmen wie Huawei agierten als „trojanische Pferde“ des chinesischen Nachrichtendienstes, so Pompeo.
Die Reaktion von Wang Yi fiel ungewohnt harsch aus. „Grundsätzlich kann ich sagen, dass alle Vorwürfe gegen China Lügen sind“, erwiderte der chinesische Außenminister und sprach von einer „Schmierenkampagne“. Nur wenn man die Kritik auf die USA selbst anwende, „dann werden die Lügen vielleicht zu Tatsachen“. Er hoffe, dass die Supermacht nicht das Vertrauen in der Welt und „ihren gesunden Menschenverstand“ verliere.
Im Gegensatz zum Weltwirtschaftsforum Mitte Januar in Davos ließ US-Präsident Donald Trump auch diesmal wieder die Sicherheitskonferenz in München links liegen. An seiner Stelle präsentierte Außenminister Pompeo die Weltsicht der derzeitigen US-Regierung – in der Tonlage jovial, aber in der Substanz knallhart.
Entschieden wies Pompeo jene von den Organisator:innen der Siko als „Westlessness“ bezeichnete Zustandsbeschreibung zurück, nach der in einer Welt, die immer weniger westlich geprägt werde, der Westen im Begriff sei, immer weniger westlich zu sein. Der 56-jährige Ex-CIA-Direktor hält das eine wie das andere für Unsinn. „Es hat immer Leute gegeben, die alles schwarz gesehen haben“, ätzte Pompeo. „Ich bin glücklich, Ihnen mitzuteilen, dass der Tod des transatlantischen Bündnisses eine krasse Übertreibung ist“, fügte er süffisant hinzu. „Der Westen wird gewinnen – und wir werden das zusammen tun.“ Dass er ergänzte, dabei gehe es „nicht darum, dass Europa den USA folgt, wir wollen Partner sein“, war nicht mehr als eine höfliche Floskel.
Ohne ihn namentlich zu erwähnen, mokierte sich Pompeo auch über den Vorwurf von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der der US-Regierung in seiner Eröffnungsrede am Freitag vorgehalten hatte, „der Idee einer internationalen Gemeinschaft eine Absage“ zu erteilen. Das entspreche nicht der Realität. Die USA verweigerten sich keineswegs der Zusammenarbeit. Als Beleg verwies Pompeo auf eine Reihe außenpolitischer, vor allem jedoch militärischer Initiativen Washingtons. Organisationen wie die UNO oder die WTO kamen in seiner Rede aber nicht vor.
Dass die Trump-Administration nichts von einer Krise des Westens wissen will, verwundert nicht, ist doch ihre Definition schlicht eine andere. Während es ihr um bloße Machtpolitik geht, rekurrieren die kerneuropäischen Staaten wie Frankreich oder Deutschland nicht nur auf äußere Gefährdungslagen, sondern auch auf die vermeintlich gemeinsamen Werte, die sie durch eine innere Erosion bedroht sehen.
Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer brachte das auf den Punkt, als sie davon sprach, dass der Westen „mehr als eine Himmelsrichtung“ sei, nämlich „die Idee der freiheitlichen Gesellschaft, der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Gewaltenteilung“.
Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident
Dass das immer schon mehr Anspruch als Wirklichkeit war, darauf wies der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar hin, als er an jene Zeit erinnerte, zu der das demokratische Indien westlich und östlich von zwei Militärdiktaturen umgeben war: Während die Diktatur in Myanmar damals mit Sanktionen belegt wurde, wurde die in Pakistan zu einem wichtigen Bündnispartner der Nato – Freedom hin, Democracy her.
Was sich allerdings mit der Präsidentschaft Donald Trumps geändert hat: Die viel beschworene westliche Wertegemeinschaft wird von seinem Zentrum heraus in Frage gestellt, inklusive der Abkehr vom Multilateralismus. Die Folge ist ein Entfremdungsprozess Europas von den USA. Hinzukommen noch die Entwicklungen in Post-Warschauer-Pakt-Staaten wie Ungarn und Polen, deren derzeitige Regierungen ebenfalls nur wenig mit den im „alten“ Europa hochgehaltenen Idealen anfangen können.
Noch vor 15 Jahren habe man gedacht, „unsere Werte“ seien universell und würden die Welt für immer regieren, sagte Frankreichs Präsident Macron. Doch inzwischen sei eine „gewisse Schwächung des Westens“ eingetreten. Eine „Krise der europäischen Demokratien“ konstatierte der 42-Jährige. „Wir sind dabei, ein Kontinent zu werden, der nicht an seine Zukunft glaubt.“ Seine Antwort: Die EU müsse sich zu einer eigenständigen „strategisch-politischen Macht“ entwickeln – worunter er vor allem eine militärische Stärkung versteht. Das sei aber „kein Projekt gegen die Nato oder eine Alternative zur Nato“, versicherte Macron.
Dass der Aufbau einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion das gemeinsame Ziel ist, daran ließen auch der deutsche Außenminister Heiko Maas und Kramp-Karrenbauer in München keinen Zweifel. „Ich möchte, dass wir unseren eigenen Interessen folgen können und unseren eigenen Kurs halten, wenn der Wind um uns rauer wird“, sagte die Noch-CDU-Vorsitzende.
So gab es in München eine große Gemeinsamkeit, die den „Westen“ noch verbindet: Die bereits jetzt schon exorbitant hohen Militärausgaben sollen weiter steigen. Darin sind sich Frankreich und Deutschland mit den USA einig. Für das eine wie das andere Weltklima ist das keine gute Nachricht.
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