piwik no script img

Lesewelten prallen aufeinander

Eine Studie der Uni Hildesheim belegt: Lektürewünsche von Jugendlichen spielen im Schulunterricht kaum eine Rolle. Schülerinnen und Schüler lieben Fantasy und Science-Fiction, doch diese Literaturformen sind aus der Schule so gut wie verbannt. Auch Comics könnten Leseanreize schaffen

Von Joachim Göres

Was lesen Jugendliche der 8. und 9. Klasse in der Schule? Was würden sie gern im Unterricht lesen? Was lesen sie in ihrer Freizeit? Das Ergebnis einer neuen Studie zeigt: Die Lesevorlieben der jungen Leute und die schulische Lektüre haben nur wenig miteinander zu tun.

WissenschaftlerInnen der Universitäten Hildesheim und Basel haben in Niedersachsen und der deutschsprachigen Schweiz im Schuljahr 2016/17 jeweils rund 1.100 Acht- und Neuntklässler verschiedener Schularten mit einem Fragebogen zu ihrer privaten und schulischen Lektüre befragt. Außerdem wurde mit ihren Lehrerinnen und Lehrern gesprochen. Die Ergebnisse der noch unveröffentlichten Studie Tamoli (Texte, Aktivitäten und Motivationen im Literaturunterricht der Sekundarstufe I) wurden Ende vergangenen Jahres auf der Herbsttagung der Akademie für Leseförderung Niedersachsen in Hannover vorgestellt.

In der Freizeit lesen Schülerinnen und Schüler danach am liebsten Science-Fiction und Fantasy (42 Prozent), gefolgt von Abenteuergeschichten (38), Krimis und Spionagethrillern (36), Horror- und Gruselgeschichten (35) sowie Comics (35). In der Schule würden sie am liebsten Science-Fiction, Krimis, Comics und Horrorgeschichten lesen. Tatsächlich stehen im Deutschunterricht politische und gesellschaftskritische Texte (84 Prozent) an der Spitze, danach kommen Bücher über Probleme von Jugendlichen (36), moderne Romane (28), klassische Literatur (27) und historische Stoffe (25) – alles Inhalte, die bei der Freizeitlektüre nicht mal von jedem fünften Befragten genannt werden. Umgekehrt kommen die Lieblingsstoffe der Jugendlichen mit Ausnahme der Abenteuergeschichten im Unterricht kaum (Science-Fiction, Krimis) oder gar nicht (Horror, Comics) vor.

Allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die befragten Jungen würden in der Schule am liebsten über die Lektüre sprechen, der sie auch zu Hause die meiste Zeit widmen: vor allem Comics, gefolgt von Science-Fiction und Fantasy. Mädchen lesen in ihrer Freizeit in erster Linie Science-Fiction und Fantasy sowie Liebesgeschichten. Im Unterricht steht bei ihren Wünschen Science-Fiction und Fantasy an der Spitze, während sie dort keinesfalls Liebesromane behandeln möchten, sondern politische und gesellschaftskritische Stoffe als ihre Nummer zwei angeben.

Bei den Titeln gehören unter den niedersächsischen Schülerinnen und Schülern – in dieser Reihenfolge – „Harry Potter“, „Gregs Tagebuch“, „Tschick“ und „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ zu den Favoriten. Bei den Altersgenossen in der Schweiz stehen die ersten beiden Titel ebenfalls an der Spitze. In der Schule wird in Niedersachsen in dieser Altersstufe vor allem der Jugendroman „Tschick“ gelesen, gefolgt von „Die Welle“, „Löcher“, „Der unvergessene Mantel“, „Abby Lynn“ und „Das Tagebuch der Anne Frank“. In den Schweizer Schulen gibt es folgende Rangfolge: „Die Welle“, „Tschick“, gefolgt von den Werken des Eidgenossen Friedrich Dürrenmatt, „Der Besuch der alten Dame“ und „Der Richter und sein Henker“.

„Die Vielzahl der von den Lehrern angegebenen Titel ist heute viel größer als früher. Ein festgelegter Kanon von Büchern, den alle kennen müssen, ist heute nicht mehr so wichtig“, sagt Irene Pieper, Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik der Uni Hildesheim. Nach welchen Kriterien aber bestimmen Lehrkräfte, was im Literaturunterricht gelesen wird? An den niedersächsischen Gymnasien sind der Lehrplan und die Ratschläge von Kollegen entscheidend, auch das vermutete Interesse der Schüler ist von größerer Bedeutung. Darauf wird an Hauptschulen am meisten Wert gelegt, aber auch die Begeisterung der Lehrkraft für ein bestimmtes Buch oder gute Erfahrungen mit einem Stoff im Unterricht werden häufig genannt. Vorschläge von Jugendlichen spielen bei der Auswahl von Autoren und Titeln an allen Schularten so gut wie keine Rolle.

„Wir fragen uns, warum an vielen Schulen die Leseanimation nur selten Thema ist“, sagt Andrea Bertschi-Kaufmann, Privatdozentin an der Uni Basel für Deutsche Philologie. Damit meint sie, dass Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler zu wenig ermuntern, sich gegenseitig Bücher zu empfehlen und sie ihnen auch nur selten individuelle Lektürevorschläge machen. Vielleicht auch kein Wunder, denn die Lehrerinnen und Lehrer wissen oft nicht, was die Jugendlichen ihrer Klasse zu Hause lesen.

Die Lesevorlieben junger Leute und die schulische Lektüre haben nur wenig miteinander zu tun

Es geht auch anders – davon ist die Grundschullehrerin und Literaturdidaktikerin Annette Wagner überzeugt. Sie leitete auf der Tagung den Workshop „(Bild-)Lesekompetenz und literarisches Lernen“. Wagner sieht die aus dem Unterricht weitgehend verbannten Comics und Graphic Novels als eigene Kunstform an, die zahlreiche Zugänge zu Themen wie Lesekompetenz, literarische Kompetenz, Medienkompetenz, ästhetische Bildung sowie kommunikative und soziale Kompetenz ermöglichen. „Die visuellen Informationen unterstützen das Textverstehen und das Lesen. Es wird die Angst vor großen Textumfängen genommen und die große Motivation trägt dazu bei, dass Leseabbrüche verhindert werden“, sagt Wagner und fügt hinzu: „Buchferne Kinder und Jugendliche können durch ihre Erfahrung mit Zeichentrickfilmen besser erreicht werden.“

Sie hat zahlreiche Ideen zusammengetragen und im Unterricht erprobt, wie Schülerinnen und Schüler von den Bildbänden „drüben!“ (Simon Schwartz), „Lotta-Leben“ (Alice Pantermüller/Daniela Krahl), „Gregs Tagebuch“ (Jeff Kinnley), „Der Traum von Olympia“ (Reinhard Kleist), „Emil und die Detektive als Comic“ (Isabel Kreitz) und „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (Flix) nicht nur beim Leseverständnis profitieren können. Zudem können sie unter Anleitung selber zum Comiczeichnen ermutigt werden.

Simone Gollek ist Lehrerin für Deutsch und Religion an der IGS Langenhagen. Sie weiß, dass Fantasy-Titel wie „Der Herr der Ringe“ (allein die deutsche Auflage liegt bei über zehn Millionen Exemplare), „Harry Potter“, Twilight“ oder „Die Tribute von Panem“ in ihren Klassen auf großes Interesse stoßen. „‚Die Tribute von Panem‘ lesen wir ab der 9. Klasse. Viele kennen es zumindest vom Titel und die Motivation ist groß, sich damit zu beschäftigen“, sagt Gollek. Sie betont, dass es dabei nicht darum geht herauszufinden, wer die besten Nerven hat: „Wir lesen das nicht des Gruselns wegen, sondern um darüber zu sprechen, wie man Angst aushalten und überwinden kann.“

Für den Mediendidaktiker Volker Pietsch von der Uni Hildesheim geht die Beschäftigung mit Science-Fiction und Fantasy im Unterricht über die Frage der Motivation hinaus: „Beim Lesen und Hören entwickeln Schüler ein Gefühl für die Wirkung solcher Texte. Sie können erkennen, mit welchen Techniken Spannung erzeugt wird und dies beim Schreiben selber anwenden, wobei sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen.“

Näheres auf www.literaturunterricht-tamoli.de.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen