„Du
musst deinen Partner permanent im
Blick
haben“

Die Grünen-Vorsitzenden im taz-Gespräch: Annalena Baerbock und Robert Habeck über das Miteinander an der Parteispitze, Momente des Genervtseins – und über die heikle K-Frage. Denn ganz oben ist nur Platz für eine Person

Annalena Baerbock und Robert Habeck in der Parteizentrale in Berlin-Mitte

Von Georg Löw
isch,Ulrich Schulte
(Interview) und Anja Weber (Fotos)

Die Grünen-Geschäftsstelle in Berlin-Mitte ist ein pastellgelber Altbau gleich hinter der Charité. Drinnen bereitet das Team das große Parteijubiläum vor, im dritten Stock steht ein schwerer Holztisch, grob abgeschliffen. Annalena Baerbock und Robert Habeck setzen sich an eine Längsseite. Ein Doppelinterview, das haben sie noch nicht so oft gemacht. Es soll auch um das Zusammenspiel der Grünen-Vorsitzenden gehen.

taz am wochenende: Frau Baerbock, die Grünen werden 40 Jahre alt. Joschka Fischer, Jürgen Trittin, Winfried Kretschmann. So richtig mächtig waren in der Geschichte der Partei vor allem Männer. Werden Sie die erste Frau bei den Grünen mit wirklicher Macht?

Baerbock: Sie haben vergessen: Petra Kelly. Claudia Roth. Renate Künast. Katrin Göring-Eckardt. So einseitig war die Geschichte der Grünen nicht.

Wir reden von Regierungsmacht. Die hatte Renate Künast, aber weder Petra Kelly noch Claudia Roth oder Katrin Göring-Eckardt.

Baerbock: Petra Kelly war die entscheidende Gründungsfigur unserer Partei. Und Katharina Fegebank in Hamburg könnte bald die zweite grüne Ministerpräsidentin werden.

Habeck: Die Gesellschaft schaut eher auf die Männer. Das zu brechen war immer der Anspruch der Grünen.

Warum kamen dann bei wichtigen Regierungsämtern vor allem Männer zum Zuge?

Baerbock: Wir sind auch nicht frei von den ­gesellschaftlichen Verhältnissen. Für Frauen gab es früher hohe Hürden, um in der Politik ­erfolgreich zu sein. Viele Frauen der ersten ­Generation, zumindest die aus Westdeutschland, hatten keine Kinder. Weil sich professionelle ­Politik und kleine Kinder kaum vereinbaren ließen.

Wann hat sich das geändert?

Baerbock: Schritt für Schritt. Erst in meiner Generation wurde es üblich, dass junge Frauen im Bundestag gesagt haben: „Ja, klar, ich will auch Kinder.“ Vor ein paar Jahren gab es Schlagzeilen: Babyboom bei den Grünen. An jeder Raststätte gibt es einen Wickeltisch, im Reichstagsgebäude bis vor Kurzem keinen. Wir müssen Strukturen so ändern, dass Kinder kein Manko mehr sind. Für niemanden.

Herr Habeck, Sie haben vier Söhne. Wie schaffen Sie es, Beruf und Familie zu vereinbaren?

Habeck: Meine Söhne sind quasi erwachsen, ­entweder im Studium oder kurz davor. Ich muss nicht mehr vorlesen oder Windeln wechseln. Vor zehn Jahren, als ich Fraktionschef in ­Schleswig-Holstein war, war es ein Balanceakt. Berufs­politik und Familie schließen sich eigentlich aus.

Weil es in Führungsverantwortung und in der Elternrolle jeweils Situationen gibt, in denen man einfach da sein muss?

Habeck: Genau. Annalena und ich sind ja vergleichsweise in privilegierten Verhältnissen unterwegs. Aber die Seele bleibt die gleiche. Es ist eine Familienfeier, kurz vor Heiligabend. Das Telefon klingelt, Verdacht auf Geflügelpest, schwupp, hängst du am Telefon.

Frau Baerbock, heute ist Mittwoch. Das ist der Tag, an dem Sie nachmittags bei Ihrer Familie in Potsdam sind, oder?

Baerbock: Deshalb müssen wir bis 14.15 Uhr mit dem Interview fertig sein. Damit ich den Zug um 14.41 Uhr bekomme und meine Töchter aus der Kita und der Schule abholen kann. Das ist mir heilig.

In der Politik gab es immer wieder berühmte Duos: Brandt und Schmidt, Schröder und Lafontaine, Kohl und Schäuble …

Baerbock: … und Dick und Doof.

Wir meinten: in der Politik.

Baerbock: Ah, das hab ich überhört.

… später dann noch Merkel und Schäuble. Ist es normal, dass Parteien einer bestimmten Größe zwei starke Figuren haben?

Habeck: Die Persönlichkeiten, die Sie genannt haben, passen nicht zur politischen Kultur, die wir zu leben versuchen.

Warum nicht?

Habeck: Diese historischen Duos teilten sich die Macht auf. Das kurze Arrangement von Lafontaine und Schröder war arithmetisch. Der eine Kanzleramt, der andere Riesenministerium. Der eine Genosse der Bosse, der andere Linker. Die Logik lautet: Wenn der eine gegen den anderen agiert, weiß man nicht, wer überlebt. So etwas hielt nie lange. Wir versuchen, es anders zu machen.

Baerbock: Wir akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind – und ziehen Stärke daraus.

Wie vermeiden Sie, dass Sie beim Highlander-Prinzip landen: Es kann nur einen geben?

Baerbock: Muss es ja nicht.

Habeck: Das wird ständig an uns herangetragen. Wir arbeiten in einer Welt voller Eifersucht. Die Wette ist aber, dass Kooperation stärker als Konkurrenz ist.

Sie haben auf dem Bielefelder Parteitag im November gesagt, dass Sie noch nie so sehr miteinander verglichen worden seien wie in den Tagen vor dem Parteitag. Wie gehen Sie damit um?

Habeck: Politiker sind Menschen. Du liest was über dich, was du falsch findest, ärgerst dich, musst abends zur Ruhe kommen und einschlafen. Politik ist permanent auf Vergleich ausgelegt.

Wie bleiben Sie mit sich und Ihrer Co-Chefin im Reinen?

Habeck: Wir passen auf, dass wir nichts in uns reinfressen. Dass wir uns mitteilen, wo wir uns nicht gesehen fühlen. Dass wir einander unsere Schwächen und Ängste eingestehen. Wenn man Groll lange aufbaut, wird Kleinscheiß gefährlich.

Klingt ein bisschen nach Paartherapie.

Habeck: Es ist so ähnlich wie in einer WG. Man ärgert sich ewig, dass der Mitbewohner die Milchtüte so in den Kühlschrank stellt, dass was rausschwappt, wenn die Tür zuklappt. Sagt aber nichts. Irgendwann explodiert alles wegen einer blöden Milchtüte.

40 Jahre West-Grüne: Die Partei Die Grünen gründete sich am 12. und 13. Januar 1980. Bei dem Kongress in der Stadthalle von Karlsruhe diskutierte eine wilde Mischung: Feministinnen, Spontis, Ökobewegte, Anthroposophen und rechtsnationale Biobauern. Anfangs verstanden sich die Grünen als „Anti-Parteien-Partei“.

30 Jahre Bündnis 90: Die Grünen feiern ein doppeltes Jubiläum: 1990 schlossen sich Bürgerrechtsgruppen der DDR zum Bündnis 90 in Potsdam zusammen, das sich später auch als Partei gründete. Beide Parteien vereinigten sich im Jahr 1993.

Heute: Die Grünen, geführt von Annalena Baerbock und Robert Habeck, regieren in elf Bundesländern mit und umwerben auch ehemalige CDU-WählerInnen. Das Ziel: Als „führende Kraft der linken Mitte“ die SPD ablösen und möglichst stark in die nächste Bundesregierung einziehen.

Baerbock: Wir versuchen es wie beim Doppel im Tennis. Du arbeitest nicht nur am eigenen Aufschlag oder Volley, sondern musst permanent deinen Partner mit im Blick haben. Deshalb ist Teamsport schwieriger, macht aber auch mehr Spaß.

Sie haben einen gemeinsamen Büroleiter eingestellt, Ihre Schreibtische aneinandergerückt. Wie oft sitzen Sie sich da gegenüber?

Baerbock: Selten. Vor Weihnachten, wenn wir Weihnachtskarten schreiben. Wir arbeiten ja de facto nicht am Schreibtisch, sondern sind die ganze Zeit unterwegs.

Trotzdem funktioniert das Bild mit den Schreibtischen. Sie konnten es in vielen Porträts als Beweis für die grüne Harmonie platzieren.

Baerbock: Die Tische sind ein Symbol für das, was dahintersteht. Früher gab es zwei Vorsitzende. Mit zwei Teams und zwei Büroleitern. Durch das Haus lief eine unsichtbare Wand.

Sie sprechen von Cem Özdemir und Simone ­Peter.

Baerbock: Nein, von allen. Die Strukturen in unserer Parteizentrale waren jahrzehntelang so. Wir haben das Prinzip der Doppelspitze neu gedacht. Ich könnte gar nicht zu unserem Büroleiter gehen und sagen: „Du, ich will in der Sozialpolitik dies oder jenes setzen“, ohne dass er zurückfragt: „Hast du schon mit Robert gesprochen?“ Strategische Fragen werden automatisch zusammengeführt.

Schon bei Ihrem Start gab es Gerangel. Herr Habeck, wir hatten im Dezember 2017 ein Interview geführt, in dem Sie Ihre Kandidatur für den Parteivorsitz erklären wollten. Es sollte an einem Montag erscheinen. Am Samstag, Sie saßen mit Ihrer Familie beim Adventskaffee, rief Annalena Baerbock Sie an und sagte: „Du, ich hab mir überlegt, ich kandidiere auch. Morgen läuft es bei dpa.“ Hat Sie das geärgert?

Habeck: Ich war ein bisschen genervt …

Baerbock: Natürlich hast du dich geärgert.

Habeck: Ich wollte einen ruhigen Samstag mit der Familie machen. Dann das, da rufen natürlich alle an. Da habe ich meiner Frau und meinen Söhnen gesagt: O. k., viel Spaß beim Siedler-Spielen, ich geh jetzt ein paar Stunden telefonieren. Aber in der Sache dachte ich: Was für ein Move. Das ist stark.

Das müssen Sie jetzt sagen.

Habeck: Nein, das hab ich Annalena damals gleich gesagt. Annalena hat nicht das Okay von irgendwelchen Gremien abgewartet, von den Altvorderen oder Landesvorsitzenden. Sie ist einfach nach vorne gegangen. Hätte sie gewartet, bis meine Kandidatur öffentlich gewesen wäre, wäre das sofort eingepreist worden: Passt sie zu ihm? Ist sie ihm gewachsen? Ich war ja viel bekannter als sie.

Frau Baerbock, wollten Sie Robert Habeck zuvorkommen, um nicht hinterherzuklappern?

Baerbock: Na ja, ich habe mir ja nicht an jenem Samstag spontan gedacht: „Hey, jetzt werd ich mal Parteichefin.“ Ich war im Gespräch mit mehreren jüngeren Frauen, und es kristallisierte sich heraus, dass keine es machen wollte. Uns war aber wichtig, dass eine neue, selbstbewusste Generation eine Stimme bekommt. Als sich abzeichnete, dass die alten Muster griffen, dass sich wieder die Parteiflügel absprachen, da reichte es mir. In bestimmten Momenten muss man auf seinen Bauch hören und springen.

Habeck: Siehst du, wir sind gar nicht so verschieden.

Baerbock: Ich wusste, dass sich Robert bald erklären würde. Dann wäre es nur noch darum gegangen: „Welche Frau passt an seine Seite?“ Also bin ich vor ihm mit der Nachricht rausgegangen.

Gehören zu einem Duo solche Momente des Gedrängels?

Habeck: Anfangs dachte ich: „Die drängelt ja ganz schön.“ Aber Annalenas Kraft ist ein Vorwärtsdrang. Auf dem Parteitag Anfang 2018 hat Annalena eine bombastische Rede gehalten. Es war eine offene Situation. Die Grünen waren führungslos. Cem und Simone gingen, die Jamaika-Sondierungen waren gescheitert. Alles hätte im Chaos enden können. Annalena hat ein Segel für die Energie im Saal aufgespannt.

Dürfen Sie sich loben? Anfangs hieß es ja: „Jetzt lobt er sie gönnerhaft, wie der Chef seine Mitarbeiterin.“

Habeck: Das ist mit den Rollenbildern nicht ganz einfach. Das Gesagte wird stets anders gedeutet. Entweder ist es paternalistisch, oder es wird als Schwäche ausgelegt.

Baerbock: Da hat sich in den zwei Jahren viel geändert. Anfangs musste Robert sich sicher zurücknehmen. Ich hatte das Gefühl, mich beweisen zu müssen. Da gab es Momente der Gereiztheit. In der Politik ist ja Aufmerksamkeit die Währung.

Was hat Ihnen geholfen, die Gereiztheit zu überwinden?

Baerbock: Wir haben uns in Momenten der Schwäche erlebt und kennengelernt. Im Herbst 2017 während der Jamaika-Sondierung kannten wir uns noch nicht so. Die Nerven lagen oft blank. Einmal dachte ich: „Jetzt geht ja gar nichts mehr“, und hab Robert um Hilfe in den Verhandlungen gebeten. Danach mussten wir uns nicht mehr zeigen, wie cool wir waren – sondern konnten uns um Unterstützung bitten.

Wie ist das Vertrauen ineinander gewachsen?

Habeck: Im August hatten wir einen Auftritt in Dresden. Abschluss des Landtagswahlkampfes, große Bühne, toller Park, super Stimmung. Beide Spitzenkandidaten und wir in einer eineinhalbstündigen Session. Die örtlichen Grünen wünschten sich, dass Annalena den thematischen Höhepunkt in der Mitte machte – und ich den Abschluss. Die Rede am Schluss wirkt immer wuchtiger. In der Mitte redest du fachlich über den Umbau einer Kohleregion, am Ende rufst du: „Das ist unser Moment, los geht’s“. Bäm, dann explodiert der Park. Annalena erduldete, dass ich ihr die Show stahl. Umgekehrt erdulde ich, wenn sie auf dem Parteitag in Bielefeld die bessere Rede hält. Dann ist das ihr Tag.

Haben Sie absichtlich in Bielefeld unterperformt, um sie besser aussehen zu lassen?

Habeck: „Unterperformt“ würd ich nicht sagen.

Sie schöpften Ihre Redezeit nicht aus, kamen schwer in die Gänge, kriegten den Saal nicht recht.

„Annalena erduldete, dass ich ihr die Show stahl. Umgekehrt erdulde ich, wenn sie die bessere Rede hält“

Robert Habeck

Habeck: An Annalenas Rede wäre ich eh nicht rangekommen. Ich habe gesagt, was ich noch sagen wollte – und gut war.

Baerbock: Als Berufspolitikerin musst du performen. Wir sind wochenlang getrennt voneinander unterwegs, dann kommt ein gemeinsamer Auftritt. Da kann es clashen. Im Park in Dresden kann es eben doch nur einen geben. Das auszuhalten ist nicht einfach. Aber zwischen uns ist etwas gewachsen, und deshalb können wir darüber hier auch mal öffentlich sprechen.

Herr Habeck, Annalena Baerbock hat bei ihrer Wiederwahl in Bielefeld 7 Prozentpunkte mehr bekommen als Sie. Spielt das eine Rolle, wenn es darum geht, wer Kanzlerkandidat wird?

Habeck und Baerbock: Nein.

Wie ist der Stand? Sagen Sie: „Ja, die Grünen werden einen Kanzlerkandidaten haben“?

Habeck: Wir haben nicht vor, wie in Österreich als Juniorpartner eingepreist zu werden. Wir wollen die nächste Bundesregierung definieren. Aber heute ist nicht der Moment zu entscheiden, wie die personelle Aufstellung für die Bundestagswahl wird.

In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht, dass es nur einen Kanzler gibt …

Habeck: … ja, ja.

Baerbock: Natürlich wird es auch nach der nächsten Wahl nur einen Kanzler oder eine Kanzlerin geben.

Wann ist der richtige Zeitpunkt, um Klartext zu reden?

Baerbock: Wenn wir vor der Bundestagswahl so gut dastehen, dass wir eine Chance haben, das Land zu führen, werden wir alles Relevante regeln.

Herr Habeck?

Habeck: So ist es. Rechtzeitig vor der Bundestagswahl.

Sie formulieren doch glasklar einen politischen Führungsanspruch. Warum sagen Sie nicht: Sie oder er soll Kanzlerin oder Kanzler werden?

Baerbock: Die Zeiten ändern sich rasant. Deshalb werden wir einen Teufel tun, mehr als eineinhalb Jahre vor der nächsten Wahl die Kanzlerkandidatur auszurufen. Den gestalterischen Führungsanspruch fürs Land, den haben wir, na klar.

Fischer, Trittin, Kretschmann. Habeck? Was wäre es für ein Signal, wenn eine feministische Partei den Mann aufstellen würde?

Baerbock: Ihre These von den männerdominierten Grünen wird nicht richtiger, wenn Sie sie wiederholen.

Frau Baerbock, Sie durften im Juni beim vom BDI ausgerichteten Tag der Deutschen Industrie sprechen. Sie haben viel Applaus bekommen. Werden Sie die grüne Genossin der Bosse?

Baerbock: Ich war ein Jahr vorher auch schon da. Da waren aber viele noch irritiert, dass nicht der Mann kommt, sondern die Frau, dazu im bunten Kleid statt Hosenanzug. Jetzt haben einige gemerkt, dass wir tief in Wirtschaftsfragen eingestiegen sind. Dass wir uns Widerspruch zumuten und umgekehrt der Industrie Positionen zumuten, die sie nicht teilt.

So groß war die Zumutung nicht. Es ging hauptsächlich um den europäischen Binnenmarkt. Nichts, was den BDI auf die Palme bringt.

Baerbock: Ich habe gesagt: „Wir müssen in Europa selbst starke Standards setzen.“ Viele wollen die doch senken mit dem Argument, nur so mit den USA und China mithalten zu können.

Na ja, viele relevante Unternehmen hätten gern harte Standards in Europa, die sie vor der Konkurrenz aus China schützen.

Baerbock: Vor Dumpingpreisen. Nach Sozialstandards und Öko-Regeln rufen nicht alle. Aber immer mehr Unternehmen setzen auf Nachhaltigkeit. Die Sicht in der Wirtschaft verändert sich, ist doch gut.

Wie würden Sie Ihre Herangehensweise beschreiben? Wollen Sie die Wirtschaft ins postfossile Zeitalter coachen oder eine andere Richtung vorgeben?

Habeck: Es ist kein Entweder-oder. Es braucht die klare politische Ansage, wo es hingeht: sauberes, CO2-freies Wirtschaften. Noch 2017 sind wir für den Beschluss, ab 2030 nur noch abgasfreie Autos zuzulassen, verprügelt worden. Da hieß es, die wollen Autofahren verbieten. Inzwischen wollen Volkswagen, Daimler und andere 2030 in Deutschland und Westeuropa überwiegend Elektroautos verkaufen.

Und?

Habeck: Die erwarten von der Politik, den Wandel zu gestalten. Die erneuerbaren Energien entsprechend auszubauen. Wer findet schon Elektromobilität cool, die auf Kohlestrom basiert? Niemand. Die Industrie erwartet eine Ladesäulen-Infrastruktur. Jemand muss die Bürgersteige aufmachen und die Kabel legen. Dazu brauchen wir klares Ordnungsrecht, schnellere Planungen und Anreize wie Kaufprämien und gezielte Steuerpolitik.

Das würde Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ganz ähnlich sagen.

Habeck: Nein. Er sagt, Ökologie gefährdet die Ökonomie. Aber diese Alternativen gibt es nicht mehr. Auf unserer Klausur in Hamburg war der Vorstandschef einer Alu-Hütte zu Gast. Er hat deutlich gemacht: Sie machen sich auf den Weg in Richtung Klimaneutralität. Aber sie brauchen einen klaren politischen Rahmen, Investitions­sicherheit und spezifische Förderprogramme für Modellprojekte.

Der Staat soll der Wirtschaft ihre klimafreundliche Alu-Hütte zahlen?

Baerbock: Unternehmen sind ja auch ihren Eigentümern und Arbeitnehmern verpflichtet, um wirtschaftsfähig zu bleiben. Viele wissen, dass sie dazu klimaneutral werden müssen. Aber sie können das nach der derzeitigen Marktlogik nicht mal eben so finanzieren. Die Politik muss den Umbau unterstützen. Sie muss klar machen, ab wann beispielsweise ein bestimmter Anteil von Stahl oder Alu in einem Produkt klimaneutral hergestellt worden sein muss. Zusätzlich muss der Staat den Weg dahin mit Geld unterstützen.

Das Geld vom Staat nimmt die Wirtschaft immer gern.

Baerbock: Staatliches Geld kann es nicht ohne Pflichten geben. Fördertöpfe stellen wir nur auf, wenn es einen gesellschaftlichen Mehrwert gibt.

Wer, wenn nicht die Grünen, könnte denen sagen: „Liebe Leute, es wird wehtun, es wird sauteuer, aber mit dem fossilen Wachstum ist es jetzt einfach vorbei“? Wie ehrlich dürfen Sie ­gegenüber der Wirtschaft sein?

Habeck: Dass es sauteuer wird, ist doch wieder eine rhetorische Figur à la Altmaier. Weitermachen wie bisher, das wird viel sauteurer.

Wie steht es mit der Sozialpolitik? Werden die Grünen jemals eine Arbeiterpartei?

Habeck: Die soziale Frage ist nicht mehr allein eine Frage des tariflich geschützten, gewerkschaftlich organisierten und lebenslang angestellten Industriearbeiters. Dienstleistung, Pflege, digitales Clickworkertum – dort haben wir heute prekär Beschäftigte, die kaum geschützt sind. Da müssen wir besonders genau hingucken.

Heißt hingucken auch handeln?

Habeck: Die Arbeitswelt wandelt sich. Der Staat muss die Transformation so begleiten, dass sie keine Angst macht. Wir wollen den Niedriglohnsektor eindämmen, deshalb wollen wir einen Mindestlohn von 12 Euro und für Selbstständige Mindesthonorare entwickeln.

Sie möchten Hartz IV abschaffen. Warum nennen Sie keine konkreten Beträge, obwohl das für Menschen entscheidend ist, die auf die Unterstützung angewiesen sind?

Habeck: Es geht um mehr als Geld im gleichen System. Wichtig ist uns, vom alten Bestrafungssystem samt Stigmatisierung der Agenda 2020 wegzukommen. Welcher Betrag armutsfest ist, muss dann dem System entsprechend berechnet werden.

Gerade ist der Hartz-IV-Satz auf 432 Euro gestiegen – um ganze 8 Euro. Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert mindestens 582 Euro.

Baerbock: Der aktuelle Betrag ist jedenfalls nicht armutsfest. Bei den Kindern fehlt der Kinobesuch, das Eis im Sommer, sie sind außen vor. Wir rechnen mit der Bundestagsfraktion daher Schritt für Schritt durch, von den Kinderregelsätzen bis zu den Erwachsenen. Angefangen haben wir bei der Kindergrundsicherung.

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt es praktisch keine Konflikte in Ihrer Partei. Anders als beispielsweise in der Frage, ob die Krankenkassen homöopathische Mittel zahlen sollen. Herr Habeck, Sie haben die Leitung einer Arbeitsgruppe der Grünen übernommen, die den Streit lösen soll. Wie läuft ’s?

Habeck: Sie hat noch nicht getagt. Es gab Vorgespräche – deren Inhalt man in den Medien nachlesen konnte. Deshalb muss ich sagen: Es läuft nicht gut. Illoyalität ist keine Währung, die bei den Grünen gilt.

„Es geht nicht, dass man sich ständig korrigiert. Und gleichzeitig will ich bei mir selbst bleiben. Der Grat ist schmal“

Annalena Baerbock

Sie sind verärgert, weil Parteifreunde, die ­gegen Homöopathie sind, Diskussionsbeiträge in nicht nur homöopathischen Dosen Medien zugespielt haben?

Habeck: Dass jemand seine Meinung sagt, ist völlig okay. Was nicht geht: Aus internen Gesprächen, die als vertraulich vereinbart sind, zu berichten.

Baerbock: Dahinter steht was Grundsätzliches: Wir wollen in dieser Partei im geschützten Raum gemeinsam frei denken können. Nur so entsteht Neues.

Herr Habeck, war es ein Fehler, sich dieses Thema auf den Tisch zu ziehen?

Habeck: Nein. Aber es geht jetzt nicht nur um die Frage, wie die Grünen zur Frage stehen, ob die Kassen homöopathische Mittel zahlen. Wir müssen klären, ob sich die politische Idee, die Vertrauenskultur, die unser aller Arbeit inzwischen prägt, hier konkret fortsetzt.

Frau Baerbock, was ist eigentlich ein Fehler?

Baerbock: Puh. Wenn man feststellt, dass nicht das herausgekommen ist, was man beabsichtigt hat. Sondern das Gegenteil.

Ende Juni stellten Sie mit Winfried Kretschmann in Berlin ein Klimaschutz-Sofortprogramm vor. Gerade hatte Angela Merkel zum zweiten Mal in der Öffentlichkeit am ganzen Körper gezittert. Danach gefragt, sagten Sie: „Auch bei der Bundeskanzlerin wird deutlich, dass dieser Klimasommer gesundheitliche Auswirkungen hat.“

Baerbock: Ein Journalist fragte mich, ob die Kanzlerin zurücktreten solle. Ich fand das absurd und wollte das eigentlich mit einem scherzhaften Spruch abtun.

„Baerbock erklärt Kanzlerin zum Klimaopfer“, stand abends auf der Spiegel-Website. Ein Shitstorm zog herauf.

Baerbock: Mein Mann hat mich mitten in der Nacht aufgeweckt. Ich fragte, was los sei. „Du hast gesagt, dass die Klimakrise am Zittern der Kanzlerin schuld ist.“

Gut, so einen Mann zu haben.

Baerbock: Allerdings. Ich wollte mir auf gar keinen Fall eine Diagnose zur Gesundheit der Kanzlerin anmaßen. Das war aber voll schiefgegangen. Ich hab ihr eine SMS geschickt und nachts auf Twitter geschrieben, dass ich einen Fehler gemacht und um Entschuldigung gebeten habe.

Hat Sie die angenommen?

Baerbock: Ja.

Haben Sie in den zwei Jahren an der Spitze der Grünen lernen müssen, sich stärker zu kontrollieren?

Baerbock: Das schon. Wir sprechen ja nicht nur für uns, sondern für eine Partei, deren Bedeutung gewachsen ist. Die Leute, die sozialen Medien und auch Ihre Branche, legen jedes Wort auf die Goldwaage. Es geht nicht, dass man sich ständig korrigiert. Und gleichzeitig will ich bei mir selbst bleiben und nicht in Sätze verfallen, die man schon dreimal vor- und zurückgekaut hat. Der Grat ist schmal.

Sie wollten den Stil prägen, freier und offener zu denken. Wie soll das gehen, wenn Sie bei steigender Aufmerksamkeit Fehler vermeiden müssen?

Baerbock: Konzentriert sein, ohne in Angst zu verfallen. Mir kommt oft ein Kinderlied in den Sinn: Alle machen Fehler / keiner ist ein Supermann / weil das mal passieren kann. Und weiter: weil man daraus lernt. Eine Arbeitskultur, in der keine Fehler passieren dürfen, ist schlimm. Das tötet jede Kreativität.

Herr Habeck, Sie haben Fehler gemacht und in der Konsequenz sogar Ihren Twitter-Account gelöscht. Erstaunt es Sie, dass Ihnen diese Fehler nicht geschadet haben?

Habeck: Na ja. Das Gegenteil stimmt eher. Im September habe ich in einem Fernsehinterview die Entfernungspauschale im Klimapaket der Bundesregierung kritisiert. Ein Fehler war, dass ich die genauen Regeln für die Abrechnung von Zugfahrten nicht parat hatte. Aber der zusätzliche Fehler in dieser Politik-Medien-Welt war, das zuzugeben.

„Viel Meinung, wenig Ahnung“, spottete Sozialminister Hubertus Heil von der SPD.

Habeck: Ich stand in Flensburg im Studio, war verkabelt, der Kameramann stand vor mir. Den ARD-Redakteur vom „Bericht aus Berlin“, der mich interviewte, sah ich auf einem Bildschirm. Es war eine dieser extrem künstlichen Situationen. Vorher hatte ich mir überlegt: „Robert, stell dir vor, du sitzt am Kaffeetisch und redest mit einem Kumpel. Rede normal.“ Das habe ich mir eingeprägt.

Mehr als die Inhalte.

Habeck: An dieser Stelle. Der Redakteur hat ­gesagt: „Das stimmt doch nicht.“ Dann hab ich geant­wortet, wie man einem Kumpel antwortet: „Das weiß ich gar nicht.“ Die Erfahrung war jetzt nicht dazu angetan, sich auf das nächste Mal zu freuen.

Der Patzer beschäftigt Sie noch?

Habeck: Ich knabbere daran, wie an allen Fehlern, die ich mache. Fühlt sich nicht an nach „Hat mir ja letztlich nicht geschadet“. Durch die Reaktion auf Fehler droht etwas verloren zu gehen: Natürlichkeit, Nähe.

Was werden Sie tun, wenn einer von Ihnen ernsthaft stolpert? Gemeinsam rein ins Amt, gemeinsam raus?

Baerbock: Hmm. Darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht.

Wäre doch cool.

Baerbock: Robert …?

Habeck: Boah!