DDR-Aufarbeitung in Familien: Das Schweigen brechen

Nachwendekinder haben die DDR nie gesehen und hängen doch im Geflecht familiärer Konflikte. Wie arbeitet man etwas auf, was unklar ist?

Ein Haus, dahinter eine Wiese auf der eine Mauer steht

Ein Dorf am Ende der Welt: Die Amis nannten das durch die Mauer geteilte Mödlareuth „Little Berlin“ Foto: Ole Spata

Fünf Tage bevor die DDR als Staat dahinschied, kommt Franziska* in Leipzig auf die Welt. Sie wird Ende September 1990 geboren. „Das Leben meiner Eltern in der DDR ist für mich ein blinder Fleck“, sagt sie. Zu Hause bei Franziska wird so gut wie nie über die Vergangenheit gesprochen. Sie empfindet es als Dilemma. Denn einerseits will sie wissen, wie es ihrer Familie in der DDR ergangen ist, und vor allem, welche Gründe es womöglich für ihre Eltern gibt, über diese Jugendjahre so vehement zu schweigen.

Andererseits weiß sie nicht, wie sie es anstellen soll, mehr zu erfahren. „Ich habe keine Ahnung, wie ich einen Weg finden kann, diese Leerstelle zu füllen“, sagt sie. Wie arbeite ich etwas auf, was im Unklaren herumwabert? Wie soll das gehen?“

Nachwendekinder wie Franziska haben die DDR nie gesehen. Sie sind kurz vor oder kurz nach der friedlichen Revolution auf die Welt gekommen und in einer Gesellschaft aufgewachsen, die sich neu erfinden musste. Nicht wenige Eltern und Großeltern sind in ihren Erzählungen vom eigenen Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat kaum über das Anekdotenhafte hinausgekommen.

Unpolitische Alltagsgeschichten, wie sie überall auf der Welt erzählt werden. Über die Rollen der Mütter und Väter, Großmütter und Großväter im Sozialismus wird in vielen Familien geschwiegen. Das Schweigen der Alten entzieht den Jungen das biografische Fundament – eine verpasste Chance, das Wissen über ein System und ihre Führungsfiguren, über das weit verbreitete Mitläufertum weiterzugeben. Höchste Zeit also, Fragen zu stellen.

Dass auch Franziskas Generation, der um das Jahr 1990 Geborenen, das Erbe des Ostens in sich trägt, ist für viele Ältere unverständlich. Vielleicht, weil im Konsens immer davon ausgegangen wurde, dass die Gesellschaft nur lange genug warten müsste, bis sich die Sache mit dem Osten und dem Westen in Wohlgefallen auflöst. Doch auch die Nachwendekinder hängen noch mitten drin im Geflecht der alten Kämpfe. Öffentlich darüber gesprochen haben sie bislang kaum. Zwar hat die DDR vor 29 Jahren aufgehört zu existieren, kulturell sind die Jahrgänge rund um den Mauerfall trotzdem von ihr beeinflusst worden.

Für mein Sachbuch „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ habe ich Nachwendekinder wie Franziska und ihre Eltern getroffen. Im Laufe der Recherche wurde mir klar, dass es nicht gerade einfach ist, das Gespräch zu suchen und das Gesagte auch auszuhalten – für beide Seiten. Der Kitt, einige Soziologen sprechen von einer Binnensolidarität, zwischen den Generationen des Ostens scheint besonders fest.

Das Buch „Nachwendekinder – Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“, 272 Seiten, ist im September 2019 bei Ullstein fünf erschienen

Da ist die Angst, alte Wunden aufzureißen. Aber da ist auch viel Unwissen darüber, wie offene Wunden zu behandeln sind. Nachdem das Buch erschienen ist, habe ich zahlreiche Nachrichten von Gleichaltrigen bekommen, die nicht wissen, wie sie auf ihre Eltern zugehen sollen, Gleichaltrige, die das Schweigen nicht mehr ertragen, von ihren Plänen berichteten, am Sonntag in ihren Heimatort fahren zu wollen, um dort mit der Mutter zu reden. Oder andere, die noch am selben Abend die Großmutter anrufen wollten.

Franziska hat das Schweigen in ihrer Familie gebrochen. Als ich sie Ende 2018 zum ersten Interview treffe, schreibt sie gerade an ihrer Doktorarbeit in Biochemie. Sie hat damals für einige Monate in Kopenhagen mit ihren Forschungen zu tun. Zuvor hat sie jeweils zwei Jahre in Stockholm und Zürich gelebt.

Je weiter und länger sie von zu Hause fort ist, desto intensiver spürt sie, dass etwas nicht stimmt. Sie fühlt eine merkwürdige Distanz zu ihren Eltern. Im Ausland will niemand von ihr wissen, ob sie nun aus diesem oder jenem Teil Deutschlands stammt. Aber sie beginnt, sich selbst Fragen zu stellen. Franziskas Vater arbeitet in einem Callcenter. Die Mutter ist Erzieherin. Henning ist Jahrgang 1960, Christiane 1966.

Wenn sich ihre Eltern früher an den Osten erinnerten, dann daran, dass die soziale Absicherung besser gewesen sei. Heute hätten die Menschen natürlich viel mehr Optionen, sagen sie. Auch viel mehr Optionen, zu scheitern. „Jetzt kannst du zwar überall hinreisen, kannst es dir aber nicht mehr leisten“, sagt der Vater. Gerade er, gelernter Fahrzeugschlosser, hatte es schwer, nach der Wende beruflich Fuß zu fassen.

„Ich glaube schon, dass sich meine Eltern abgewertet fühlen“, sagt Franziska. „Sie regen sich oft über die Ungleichheit gegenüber dem Westen auf. Dass die Löhne und die Renten auch heute noch nicht angepasst worden sind.“ Die DDR wünschen sich ihre Eltern nicht zurück. Aber sie wollen Gerechtigkeit. Das ist es, was bei Franziska zu Hause besprochen wird, wenn es um die DDR und die Politik von heute geht. So wie in vielen Familien. Nicht mehr und nicht weniger.

Irgendwann, Franziska ist neun oder zehn Jahre alt, erkundigte sich das Mädchen nach ihrem Großvater, dem Vater ihres Vaters. Sie wusste, dass ihre Großmutter schon lange mit einem neuen Mann zusammenlebte. Solange sie denken konnte, war dieser neue Mann ihr Opa und ihr leiblicher Großvater einige Jahre vor ihrer Geburt gestorben. Im Gespräch machte ihre Mutter dann aber eine beiläufige Bemerkung. „Dein Opa hat sich das Leben genommen“, sagte sie. Franziska kann bis heute den Schock fühlen, der in diesem Augenblick in sie fuhr. Sie weinte, ihre Mutter stand hilflos daneben.

Das Familiengeheimnis

„Sie dachte, dass es die Aufgabe meines Vaters wäre, mich zu trösten, mir alles zu erklären“, sagt Franziska. Henning aber war nicht in der Lage, überhaupt zu reagieren. „Der hat das nicht geschafft.“ Die Mutter versuchte sie zu beruhigen, „aber sie konnte mir auch nicht viel mehr über die Umstände des Selbstmordes sagen“.

Von diesem Tag an wartete Franziska darauf, dass ihr Vater endlich erzählte, welches Geheimnis ihre Familie umgibt. Welches Geheimnis ihn umgab. Warum hatte sich sein Vater, ihr Großvater, das Leben genommen? Eine Leerstelle – es sollte noch sehr lange dauern, bis sie erste Antworten erhielt.

„Wie hast du das denn empfunden?“, fragt die Mutter

Die Jahre gingen ins Land. Franziska wechselte auf das Gymnasium. Wenn rund um den 3. Oktober und den 9. November die Zeitungen und Fernsehprogramme mal wieder voll mit DDR- und Wendethemen waren, sprach auch ihre Familie darüber. Aber sie als Tochter und Enkelin bekam wieder nur Erinnerungsfetzen zu fassen, kurze Anekdoten aus dem Alltag. Die entscheidenden Fragen zu stellen traute sich Franziska damals nicht.

Mit 14 Jahren erhielt sie ihre Jugendweihe. In der DDR war die Jugendweihe auch ein Instrument des Staates, um die Heranwachsenden an ihre Rolle im Sozialismus zu erinnern. Für Franziskas Vater bedeutete dieses Ereignis, dass er sie jetzt für alt und reif genug erachtete, die Wahrheit zu erfahren. „Du weißt ja, dass sich dein Großvater sich das Leben genommen hat“, sagte er. „Dein Opa hat im Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet. Er hat sich bei der Stasi mit seiner Dienstwaffe erschossen.“

Franziska war froh, dass ihr Vater endlich anfing, mit ihr über das Thema zu sprechen. Er redete von Stasi-Akten, die es über den Großvater geben würde. Eines Tages würden diese ihr offenstehen. Franziska stellte keine Fragen, sie befürchtete, dass durch tiefergehendes Nachhaken sein Redefluss versiegte.

Fremd in der Familie

Aus dem Fernsehen hatte sie bereits viel über die Stasi und ihre Machenschaften gehört. War ihr toter Großvater also einer dieser Täter, die besonders viel dazu beigetragen haben, aus dem Staat einen Unrechtsstaat zu machen? Was genau hatte er getan? Warum der Suizid? Während der nächsten Jahre war Franziska allein mit ihren Gedanken. Die Leipzigerin machte ihr Abitur, begann ihr Studium in Berlin, zog für den Master weiter nach Schweden.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter. Das Dossier zu "30 Jahren friedliche Revolution" aus der Ausgabe vom 2./3. November gibt es online hier.

Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest 2012 packte Franziska dann ihren Koffer für den anstehenden Besuch in der Heimat. Sie überlegte, was sie in den kommenden Tage wohl erwarten würde: das gemeinsame Essen mit der Familie, die Bescherung unter dem Tannenbaum, das Beisammensein. Sie fürchtete sich auch davor, während der Festtage wieder diese Distanz zu ihren Eltern zu spüren, dieses Gefühl von Fremdheit in der eigenen Familie. Das Gefühl, dass ihnen einen Teil der gemeinsamen Geschichte fehlte.

Diese Kluft wollte sie diesmal überwinden. Sie rief ihren Vater an, bat darum, endlich Einsicht in die Stasi-Unterlagen zum Tod ihres Großvaters zu erhalten. Wenige Tage später war sie in Leipzig bei ihrem Vater. Auf dem Küchentisch lag die Kopie der Stasi-Akte: knapp fünfzig Seiten mit der Schreibmaschine verfasste Berichte. Auf einigen Seiten befanden sich Stempel, hier und da handschriftliche Notizen. Ihr Vater sagte: „Ich gebe dir jetzt mal Zeit, das durchzulesen. Mach dir aber bitte keine großen Hoffnungen, da steht nicht viel drin.“ Er ließ Franziska allein, sie wühlte sich durch die Berichte des Geheimdienstes.

Darin erfuhr sie, dass ihr Großvater kurz vor seinem Tod 1985 den Dienst quittieren wollte. In den Akten befanden sich sogar zwei Versionen zur Todesursache. In der früheren gingen die Genossinnen und Genossen davon aus, dass sein Wunsch nach dem Ausstieg aus der Stasi zum Selbstmord geführt habe. In der anderen wurden die familiären Probleme als mutmaßlicher Auslöser angeführt. „Es spielte wohl auch eine andere Frau eine Rolle, was bedeutete, dass die Ehe meiner Großeltern zerrüttet war. Das durfte natürlich nicht sein, da hat sich die Stasi, dann eingemischt.“

Mehr brauchbare Informationen gab es nicht. Und inwieweit diese überhaupt der Wahrheit entsprachen, ließ sich für Franziska schwer beurteilen. „Eigentlich wollte ich danach sofort erfahren, wie mein Vater dar­über denkt.“

Franziska schloss die Aktendeckel. Ihr Vater kam in die Küche: „Hast du noch weitere Fragen?“ Eigentlich hätte ihre Antwort „Ja“ lauten müssen. Doch sie merkte ihrem Vater an, dass er nicht reden wollte. Heute hat sie dafür Verständnis: „Wenn man sich hinsetzt und ein Gespräch führt, dann könnten ja doch irgendwie Gefühle sichtbar werden. Genau wie die Verletzungen, die er davongetragen hat.“ Für Franziska wurde es fortan immer schwieriger, Antworten einzufordern.

„Solch ein Gespräch ist harte Arbeit“, sagt der Vater

Über all das spricht Franziska nur mit ihrer besten Freundin. Auch sie kommt aus dem Osten, auch sie spürt, dass in ihrer Familie nur sehr wenig über die Vergangenheit in der DDR geredet wird. Und auch sie kennt die Ursachen dafür nicht. Im Gespräch mit anderen Freundinnen und Freunden, mit Bekannten oder Kommilitoninnen und Kommilitonen schweigt Franziska, wann immer sich die Gespräche um die DDR drehen.

Niemand soll erfahren, wo ihr Großvater gearbeitet hat und was mit ihm passiert ist. „Er war auch Familienvater, Ehemann oder Nachbar. Er hatte viele Identitäten“, sagt sie. „Ich meine, wären sie bereit, differenziert darüber nachzudenken? Oder besteht nicht die Gefahr, in ihm ausschließlich den Täter zu sehen?“

Franziska befürchtet auch, dass, wenn sie offen darüber sprechen würde, sie selbst auf die Stasi-Vergangenheit ihrer Familie reduziert werden würde. „Nach dem Motto: Schon klar, Großvater beim MfS. Die ist aus einer Familie mit einer Täterbiografie. Wie denkt die denn jetzt über die DDR? Kann die jetzt vielleicht etwas Positives am System erkennen?“

Franziska ist sich sicher, dass es einfacher ist, über einen Suizid in der eigenen Familie zu sprechen, wenn die betroffene Person nicht solch einen Hintergrund hat wie ihr Großvater. „Wenn es eine Biografie gibt, auf die man sich auch positiv beziehen kann.“ Noch immer fragt sie sich, ob das vielleicht eine Ursache für die Stille in ihrer Familie ist. Auch Franziskas Mutter hat bislang fast nichts über ihr Aufwachsen in der DDR erzählt. Sie stammt aus einer kleinen sächsischen Stadt.

Vergrabene Erinnerungen

Leipzig, wenige Wochen nach dem Treffen in Kopenhagen. Franziska und ihre Eltern haben sich zu einem gemeinsamen Gespräch verabredet. Franziska verbindet die Aussprache auch mit einem größeren Gedanken. „Vielleicht sind wir die einzige Generation, die das Bild über die DDR ausdifferenzieren kann, weil die Generation nach uns gar keinen persönlichen Bezug mehr dazu hat.“

„Wir haben einfach in die Zukunft geschaut und nicht mehr zurück“, sagt ihre Mutter. „Wie hast du das denn empfunden?“, wird Franziska jetzt gefragt. „Kannst du dich daran erinnern, wie wir über die DDR zu Hause gesprochen haben? Ich weiß das, ehrlich gesagt, gar nicht mehr.“ Franziska erinnert sich, dass sie während ihrer Schulzeit immer wieder Fragen zur DDR stellte. Einmal fuhr es dabei aus Christiane heraus: „Habt ihr das nicht gelernt in der Schule? Redet ihr nicht darüber, wie das zu Ostzeiten war?“ Ihre eigene Erinnerung an ihr Leben in der DDR hat Christiane vergraben.

Erst durch Franziskas Bitte um dieses Gespräch sei sie wieder zu Tage getreten. „Das ist ein so riesiger Teil meiner Jugend. Das habe ich verdrängt.“ Franziska will wissen, warum. „Vielleicht waren wir so geprägt, einfach hinzunehmen, was ist.“ Sie selbst nahm als junge Frau hin, dass der Staat für sie nur drei Berufe vorgesehen hatte und dass sie ihr Leben lang in einem dieser Berufe bleiben würde.

Der feste Rahmen, den „die Gesellschaft“ beziehungsweise der Staat in der DDR vorgab, galt nicht mehr. Vielmehr sollte auf einmal alles falsch gewesen sein, sagt Christiane. Dabei empfindet sie ihre Kindheit und Jugend keineswegs als negativ. „Ich hatte eine wunderschöne Kindheit.“ Aber nach der Wende sei ihr von allen Seiten mitgeteilt worden, sie habe in einem „Unterdrückerstaat“ gelebt. Christiane braucht fast zwanzig Jahre, um für sich selbst die neue Situation zu verstehen und zu akzeptieren. „Ich habe das mit mir selber ausgemacht“, sagt sie. „Man dreht sich ja dann doch im Kreis.“ Sie wollte, dass Franziska so aufwuchs, wie sie eben aufwuchs – ohne einen Blick zurück.

Ein Gefühl der Scham

Christiane empfand damals ein Gefühl der Scham. Nach der Wende kamen viele Wahrheiten auf den Tisch. „Dieses Gefühl, in diesem Land gelebt zu haben und von nichts gewusst zu haben! Wie blöd war ich denn? So war mein Empfinden damals, und genau das kommt jetzt wieder hoch.“ Christiane spricht immer schneller. Ihre Stimme wird lauter, sie dreht sich wieder zu Franziska. „Was hätte ich dir denn sagen sollen, wenn du gefragt hättest, warum ich das mitgemacht habe? Ich habe ja gar nicht darüber nachgedacht!“

Eine gute Freundin von Christiane wächst zu DDR-Zeiten anders auf. Bei ihr zu Hause laufen auch die „Tagesschau“ und die „Heute“-Nachrichten. Die Eltern hinterfragen vieles an der DDR. Sie haben Verwandtschaft im Westen. Christiane erzählt, dass sie sich auf dem Schulhof abwandte, wenn das Gespräch auf den Westen kam. „Mir war das unangenehm. Für mich hat sich das einfach falsch und verboten angefühlt.“

So wie Franziskas Eltern schwiegen auch die Eltern ihrer Eltern. Als Christiane aufwuchs, erinnert sie sich, sei Politik zu Hause tabu gewesen. „Ich habe mich gefragt, warum die mich damals nicht aufgeklärt haben, wie das wirklich lief in der DDR“, fragt sich Christiane heute wie auch schon früher zur Wendezeit.

Ihr Vater arbeitete als Zivilangestellter bei der Armee. Er kam abends nach Hause, ging morgens wieder. Was in der Zwischenzeit passierte, wusste seine Tochter nicht. Stets gab der Vater ihr zu verstehen, dass sie das nicht zu wissen brauche. „Ich habe nur gedacht, der soll sich nicht so wichtig machen oder der will nur nicht mit mir reden. Ich habe das als Kind doch nicht in Verbindung gebracht mit dem politischen System!“ Die Leerstelle in ihrem Leben, auch sie führt zu einer großen Distanz zu den Eltern. Erst Jahre später hätte sie mit ihnen tiefgehende Gespräche geführt, die ihr die Eltern wieder nahebrachten, sagt Christiane. „Dann kannst du ja auch verstehen, wie es mir gerade geht“, sagt Franziska.

Den Staub aufwirbeln, um zu erahnen, was darunter liegt. So ein geplantes Gespräch am Wohnzimmertisch wie dieses hier kann nur ein Anfang sein. Bei den Gesprächen, die ich für mein Buch mit Eltern und ihren erwachsenen Kindern geführt habe, wurde mir klar, dass manche Mütter und Väter Angst davor haben, Urteile über ihr Denken und Handeln zu erhalten. Da ist die Befürchtung, dass durch die verschiedenen Ausgangspositionen der Generationen kein Verständnis vorhanden sei. Obwohl die Bereitschaft, sich mit den Eltern zu identifizieren, gerade bei Nachwendekindern, besonders hoch zu sein scheint.

Die Offenbarung

Für Henning war es schwer, bei seiner Tochter einen Anfang zu finden. So wie schon sein Vater wählte auch er den Zeitpunkt der Jugendweihe. Damals, im Jahr 1974, wurde auch er aufgefordert, sich zu seinem Vater an den Esstisch zu setzen. Dieser offenbarte ihm, dass er Offizier der Staatssicherheit sei. Sein Sohn solle stolz auf ihn sein. „Ein gewisser Stolz war auch da“, erinnert sich Franziskas Vater. „Aber das Gespräch ist mir nicht gut bekommen. Wir haben nur einmal darüber gesprochen und dann nie wieder.“

Vor ihrem Treffen mit den Eltern hatte sich Franziska überlegt, dass sie ihren Vater nicht auf das Schicksal ihres Großvaters ansprechen würde. Henning spricht das Thema dann selbst an, als er vom Umbruch Ende der achtziger Jahre erzählt. Davon, wie er gemeinsam mit Christiane sprachlos vor dem Fernseher saß und zusah, wie immer mehr Ereignisse den Ostblock zerfallen ließen.

„Im Oktober und November 1989 saß ich da teilweise mit Tränen in den Augen, weil mein Vater ja schon 1985 aus dem Leben gegangen ist.“ Henning fragte sich damals, wie es gewesen wäre, wenn sein Vater diesen Umbruch noch mitbekommen hätte. Er spricht langsam, als er die Geschichte seines Vater erzählt, wiegt jedes Wort ab. Wenige Tage nach dem Sui­zid hatte Henning vor dem Chef seines Vaters gesessen. Dieser fand keine besseren Worte, als darauf hinzuweisen, dass der Verstorbene laut dem ärztlichen Befund kerngesund gewesen sei und hundert Jahre alt hätte werden können. „Das war halt kein geschultes Personal.“

Als Henning 39 Jahre alt war, besorgte er sich die Stasi-Akte seines Vaters. „Ich bin da erst wenige Jahre drüber hinweg. Es gab damals auch keine psychologische Begleitung.“

Franziska ist überrascht, so ausführlich hat sie die Geschichte ihrer Eltern und ihres Großvater noch nie gehört. „Besser spät als nie“, sagt Henning, „man kann das ja immer irgendwie begründen, dass man das nie …“, flüstert er, „es müssen ja beide Seiten offen sein.“ Franziska runzelt die Stirn, sagt, sie sei immer offen gewesen. Henning holt einmal tief Luft: „Solch ein Gespräch wie dieses hier ist harte Arbeit. Das ist sehr energieintensiv.“ Im Vorfeld zu diesem Gespräch hatte er sich große Gedanken gemacht. Er wolle nicht, dass seine Kinder denken, dass ihre Eltern „irgendwo aus dem Dunkeln“ kamen.

Zwei Monate später schreibt mir Franziska eine Textnachricht: „Vielleicht ist die Geschichte jetzt auch einfach tot. Genauso wie mein Opa tot ist.“ Jetzt zählen für sie nicht mehr die messerscharfen Details, nicht mehr die genauen Daten. Das bedrückende Gefühl, etwas verheimlicht zu bekommen, es ist verschwunden.

* Alle Namen in der Geschichte wurden geändert

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