Gedenkbaum in Zwickau abgesägt: Die Geschichte von Enver Şimşek
Irgendwer hat einen Gedenkbaum für ein NSU-Opfer entfernt. Lasst uns diese Leute ignorieren. Lasst uns lieber über die Opfer sprechen.
Ich möchte die Geschichte von Enver Şimşek erzählen.
Denn einige Arschlöcher haben einen Baum abgesägt, eine junge Eiche, die Menschen in Zwickau zum Gedenken an Şimşek gepflanzt haben. Enver Şimşek war das erste Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). In Zwickau hat deren Kerntrio lange gewohnt. Das Absägen ist ein Signal zum Tag der deutschen Einheit: Es zeigt an, wer nach der Ansicht von Rassisten in dieses wiedervereinigte Land gehören soll und wer nicht.
Enver Şimşek war Unternehmer, ein self-made man. 1985 kam er nach Deutschland. Er arbeitete erst in einer Fabrik, dann handelte er mit Blumen, er machte einen Großhandel auf. Er hatte eine Frau, Adile, und zwei Kinder: Semiya und Abdulkerim. Er lebte in Schlüchtern, einer Stadt mit einem alten Kloster und einer Burg im Südosten Hessens.
Am 9. September 2000 schießen die Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Nürnberg auf Enver Şimşek. Er verkauft gerade Blumen, er steht dabei auf der Ladefläche seines Transporters. Die Terroristen feuern acht Mal. Sie treffen: seinen Kopf, drei Kugeln. Seine rechte Schulter, zwei Kugeln. Das linke Auge und die Unterlippe, eine Kugel. Den linken Unterarm, eine Kugel. Den Ellenbogen, eine Kugel. Zwei Tage später stirbt Enver Şimşek im Krankenhaus. Da ist er 38 Jahre alt. Şimşek ist an dem Tag nur zufällig in Nürnberg, er vertritt einen Kollegen.
Eine Einheit im Versagen
Neun weitere Morde werden folgen. Zehn Jahre lang wird keine Behörde, kein Polizist dieser Schlächtertruppe auf die Spur kommen. Im November 2011 enttarnt sie sich nach einem missglückten Banküberfall selbst.
Die Ermittlungen und der Prozess sind auch eine Geschichte der deutschen Einheit, eine Einheit im Versagen, im Wegschauen und im Anklagen der eigentlichen Opfer. Die Täter des NSU kommen aus Ostdeutschland, sie sind dort aufgewachsen, haben sich dort radikalisiert, konnten dort jahrelang im Untergrund leben.
Wenn andere Ostdeutsche mir als Ostdeutschem erzählen, Rechtsextremismus sei ein gesamtdeutsches Problem und man solle mal nicht immer auf den Osten zeigen, dann denke ich an den NSU, woher er kommt, wo er gewohnt hat – und ich weiß, dass die Verantwortung der ostdeutschen Gesellschaft an diesen Mordtaten fast nie thematisiert wird. Ich ärgere mich darüber, denn eigentlich sollten wir das von uns aus ansprechen. Versuchen, uns zu entschuldigen. Aber ich rede selten darüber, denn oft wird mir gesagt, ich redete ohnehin schon zu viel über Nazis.
In Westdeutschland hingegen saßen viele der Ermittler und Verfassungsschützer, die sich die Tode von Enver Şimşek nie als das vorstellen konnten, was sie waren: eine rassistische Mordserie. Oder vielleicht konnten sie das, fanden das aber nicht so schlimm – oder vielleicht auch ganz gut. Dort passierten so viele, nennen wir es freundlich: „Merkwürdigkeiten“, dass ich nur deswegen nicht an eine Verschwörung glauben möchte, um nicht an allem zweifeln zu müssen. Aber um ehrlich zu sein, zweifle ich seither wieder an allem.
Wer Scheiße baut, fällt nicht tief
Zweifelt irgendjemand von denen, die ermittelt haben? Ein Mann fällt mir des Öfteren auf, er übernahm 2012 den Vorsitz einer Behörde, die Menschen wie Enver Şimşek vor dem NSU hätte schützen sollen, dies das aber es nicht vermochte. Hans-Georg Maaßen wollte das Vertrauen in diese Behörde wieder herstellen. Ich würde sagen, er hat versagt. Es hat ihm nicht sehr geschadet. Er wurde entlassen, das ja, aber Du kannst als westdeutscher Mann mit bestimmten Ansichten und bestimmter Vita noch so viel Scheiße bauen, Du fällst nicht tief, Du fällst nur ständig vor irgendwelche Mikrofone.
Christian Bangel hat bei Zeit Online einen erhellenden Text über das Zusammenwirken von westdeutschen Eliten und ostdeutscher Straße geschrieben, und ich kann mir gut vorstellen, wie dieses Zusammenspiel auch im Fall des NSU gewirkt haben mag.
In den zehn langen Blutjahren des Nationalsozialistischen Untergrundes hat die Familie Şimşek den vereinigten deutschen Staat, seine Staatsanwälte und Polizisten nicht als Freund und Helfer erfahren. Sondern als Ankläger. Sie klagen ab dem Tag des Mordes die Familie an: Spielsucht? Alkoholprobleme? Familienstreit? Geldsorgen? Mafia? PKK?
An den Vorwürfen ist nichts dran, wird nie etwas dran sein. Während Adile Şimşek das erste Mal Fragen beantwortet, liegt ihr Mann im Krankenhaus. Es sind seine letzten Stunden. Die Ermittler schreiben in ihr Protokoll, dass Adile Şimşek weint.
Zwickau tat mehr als schwafeln
Es wäre vollkommen verständlich, hätten die Kinder von Enver Şimşek danach alles und jeden in diesem Land gehasst. Aber Enver Şimşek hat seine Kinder so erzogen, dass sein Sohn Abdulkerim über einen der Helfer der Mörder folgendes bei Spiegel Online sagen konnte: „Carsten S. hat sich als Einziger zu seiner Tat bekannt, er hat glaubhaft Reue gezeigt und sich aufrichtig entschuldigt. Gerade den, der das Schweigen gebrochen und wirklich zur Aufklärung beigetragen hat, hat es nun am härtesten getroffen. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn Carsten S. so schnell wie möglich wieder aus dem Gefängnis kommt.“
Şimşeks Tochter Semiya hat ein Buch geschrieben: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Sie hat die Geschichte der Opfer erzählt. Was kann eine Gesellschaft tun, um Menschen das Signal zu senden, dass sie nach allem Versagen doch nicht ganz allein sind, vergessen, mit ihrem Schmerz, ihrer Enttäuschung und ihrer Wut?
In Zwickau, dort wo das Kerntrio des NSU lange gewohnt hat, haben sie erkannt, dass es nicht reicht, vom „gesamtdeutschen Problem“ zu faseln, eine Sprechformel übrigens, die ich mir ein paar Jahre in die Hölle absoluter Ignoranz wünsche, weil sie nur noch dazu zu dienen scheint, die eigene Verantwortung weit von sich zu schieben. Die Oberbürgermeisterin von Zwickau, Pia Findeiß, ist so eine zum Glück nicht, sie wird selbst von Neonazis bedroht.
2016 stellten Künstler elf weiße Bänke in Zwickau auf. Eine für jedes Mordopfer und eine für jene Opfer, von denen wir bis heute vielleicht nichts wissen. Unbekannte haben zwei Bänke gestohlen. Die anderen beschmiert.
Wärme statt Kälte
Am 8. September 2019 pflanzten Zwickauer zum Gedenken an Şimşek eine junge Eiche. Vor ein paar Tagen haben Unbekannte den dünnen Stamm durchgesägt.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text schreibe. Denn ich glaube, ich kenne Euch, die Täter, oder solche wie Euch, und ich kann mir gut vorstellen wie Ihr Euch aufgeilt an diesem Typen aus Berlin an seinem Entsetzen, seiner Empörung und seiner ohnmächtigen Wut. Wenn schon, dann wollte ich etwas Kaltes und Souveränes schreiben, über das Ihr nicht lachen könnt.
Die Wahrheit ist nur, dass diese Kälte, diese vorgespielte Souveränität, dann auch die anweht, denen nur Wärme gebührt: den Opfern, ihren Kindern. Wir werden uns also an Enver Şimşek erinnern. Wer zu diesem Wir gehören will und wer nicht – da mag jeder seine Seite selbst wählen.
Von Euch, den Tätern, aber wird nichts bleiben, als dass ihr einer langen Reihe von Taten voller Niedertracht eine weitere hinzugefügt habt. Nichts Neues, nichts Bewegendes, einfach nur die immer gleiche Gemeinheit in anderer Form. Die Geschichte wird mit kaltem Hauch über Eure innere Ödnis hinweggehen und nichts wird von Euch bleiben außer Stille.
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