Fast eine Legende

Chronist des Rock’n’ Roll, Freund der Beatniks, eine New Yorker Künstlergestalt par excellence: Der große Fotograf Robert Frank ist tot

„White Tower“, New York 1948. Zu sehen in der Ausstellung „Robert Frank. Unseen“, 13. 9. bis 30. 11., c/o Berlin Foto: Robert Frank, Fotostiftung Schweiz, Winterthur

von Ulf Erdmann Ziegler

Es war ein amerikanischer Schweizer namens Robert Frank, von dem das interessanteste Bilddokument zu den Rolling Stones stammte. „Cocksucker Blues“ nannte dieser Frank seine etwas zu lebensnahe Tourneereportage; die Stones kassierten den Dokumentarfilm. Das war im Jahr 1972. Frank war, mit 48 Jahren, auf der Höhe seiner Kunst. Sein Bildgedächtnis war enorm, seine Neugier riesig.

Damals begann sein Ruf als Fotograf umzukippen in Kult. Robert Frank wehrte sich jahrelang, sein fotografisches Werk zu interpretieren. Es gibt einen Stapel von schwarz-weißen Fotografien aus seinem Hauptwerk „Die Amerikaner“, durch den er selbst einen Nagel gedroschen hatte. So versuchte er seiner eigenen Legende zu entkommen, dem Schicksal eines Mannes, der etwas Unbegreifliches geschaffen hatte, ein Werk von einer Schlüssigkeit und Leichtigkeit, die bis heute in der ­Fotografie unerreicht geblieben ist.

In den vergangenen Jahren fügte er sich in seine Rolle und publizierte bei Gerhard Steidl in Göttingen Frühwerke und Spätwerke im Wechsel, inklusive eines kleinen Albums, das der Arbeit des Vaters galt, eines Fotografen in Zürich. So wurde aus Robert Frank doch noch ein Publikumsstar, weit über die Szene der Fotografen hinaus, die er seit 1959, für etwa zwei Jahrzehnte, in ihrer Bildauffassung und Sujetfindung zutiefst beeinflusst hatte, die gesamte 68er-Generation von Sinnsuchern.

In der ersten Hälfte des Lebens war Robert Frank der moderne Kreative auf der Suche nach der gültigen Formel. Er verließ die Schweiz, verbrachte einige Zeit in England, wo er mit der sehr jungen Mary Lockspeiser anbandelte, ehe er mit ihr nach New York übersiedelte. Eines der typischen Kollegenportraits dort zeigt ihn lockig, leicht abgewandt, undurchschaubar: ein Mann mit einem Plan.

Er war einer von vielen, die man später als New York School beschrieben hat, eine Generation, die viele Chancen hatte und nicht so viel Geld brauchte, um sie zu realisieren. Mode, Reportage, Illustration – man schlug sich durch. Die Fotografie löste sich von ihren Vorbildern, wurde diesbezüglich nicht zu Unrecht mit der Jazzszene verglichen. Was gut lief und breite Wirkung zeitigte, war die Interaktion in sehr kleinen Gruppen.

Das Publikum saugte seine Fotografien aus den Illustrierten und folgte ihrer Vier-Doppelseiten-Logik

In der zweiten Hälfte seines Lebens wurde Frank ein subjektiver, radikaler Künstler. Er war von Mary geschieden, seine Tochter Andrea war in Mittelamerika mit dem Flugzeug abgestürzt, sein Sohn Pablo ein regelmäßiger Besucher der Psychiatrie. Von June Leaf, der starken Frau in seinem Leben, lieh er sich Bildformen, die mit dem Abdruck der Hände, dem Negativ, dem Wort im Bild zu tun hatten: „The Lines of My Hand“ (1972) hieß das erste Buch dieser Sorte, in dem Franks Schmerz­formeln als schwarze Lappen von der Wäscheleine tropften, ein postmoderner Gruß aus seinem Domizil an der Ostküste Kanadas.

In einem Film über „Home Improve­ments“ (1985) gab er Auskunft über seine eher düstere Lebenslage. Das konnte man als Abkehr von der Formel der Meisterschaft deuten; es war aber auch ein erster Stich in Richtung der Videobiografie, die Schule machen sollte.

Insofern wird man sich an Robert Frank erinnern als einen radikalen Juden des 20. Jahrhunderts, der die Schweizer Ratlosigkeit seiner Jugend hinter sich gelassen hatte für eine dramatische künstlerische Tätigkeit, ein Selfmademan, ohne Zweifel.

Voluminöser Bildspeicher

Die Kontaktaufnahme mit der Neuen Welt bleibt das Erstaunliche an seinem Werk. Sich um ein Guggenheim-Stipendium bewerbend, 1954, schrieb er, sein Ziel sei das „Erstellen eines umfassenden, voluminösen Bildspeichers aller amerikanischen Dinge, in Vergangenheit und Gegenwart“. Robert Delpire in Paris war der Erste, der den Mut hatte, die achtzig Fotografien als „Les Américains“ zu publizieren, aber erst als die ehrwürdigen begleitenden Textzitate weggeräumt waren, wurde der suggestive Bilderfluss von „The Americans“ (Grove Press, New York, 1959) sichtbar und spürbar. Das dampfende Vorwort von Jack Kerouac schob in die richtige Richtung. Robert Frank hatte in präzisen Bildern ephemere Ikonen festgehalten: das Diner, die Jukebox, die Landstraße; die amerikanischen Typen der Rock-’n’-Roll- & McCarthy-Zeit: die jungen Schwarzen (wartend), das Starlet (gefroren), die Transvestiten (kichernd).

Robert Frank Foto: Lukas Lehmann/dpa

Weil er aber den „Bildspeicher“ vor sich sah, geriet ihm das eine Bild zum Platzhalter des nächsten – der Entwurf einer Architektur des fotografischen Essays. Die Resonanz war anfangs keineswegs riesig, denn noch saugte das Publikum seine Fotografie aus den Illustrierten und folgte ihrer Vier-Doppelseiten-Logik.

In den sechziger Jahren, als Robert Frank schon beim Filmen angekommen war, wurde die einzigartige Gestalt des Büchleins erkannt, etwas zwischen Literatur, Zeichnung, Film und Musik – nur eben mit den Mitteln der klassischen, leisen Fotografie erstellt, Leica und Kodakfilm, schwarz-weiß. Von den Künstlergestalten der New Yorker Szene nach dem Krieg wird Robert Frank übrig bleiben als einer der Großen, neben Allen Ginsberg, Jackson Pollock und John Cage.

Sein Werk über „Die Amerikaner“ ist der einzigartige, geglückte Versuch, eine Gattung ohne Vorbild durchzusetzen, das fotografische Buch unter eigener Autorschaft. Am Montag ist Robert Frank im Alter von 94 Jahren in Inverness in der kanadischen Provinz Nova Scotia gestorben.