Urteilsverkündung im Lügde-Prozess: Nie wieder auf freiem Fuß

Zehn Wochen lang hatte das Gericht zum massenhaften Kindesmissbrauch verhandelt. Doch der „Fall Lügde“ ist mit dem Prozessende nicht vorbei.

Der Angeklagte Andreas V. verbirgt sein Gesicht hinter einem Aktenordner

Der Angeklagte Andreas V. verbirgt sein Gesicht hinter einem Aktenordner Foto: dpa

DETMOLD taz | 13 Jahre Haft für Andreas V. und 12 Jahre für Mario S. Nach der Gefängnisstrafe müssen beide Hauptangeklagte im sogenannten Lügde-Prozess in die Sicherungsverwahrung. Mit diesem Urteil, das Richterin Anke Grudda am Donnerstagmorgen im Saal 165 des Landgerichts Detmold verkündete, geht der Prozess zu einem der bislang drastischsten Fälle sexueller Gewalt an Kindern zu Ende.

Zehn Wochen lang hatte das Gericht verhandelt. Andreas V., 56, Hartz-V-Empfänger, muss sich wegen schweren sexuellen Missbrauchs in 223 Fällen verantworten. Vielfach ging die sexuelle Gewalt einher mit sexueller Nötigung, der Produktion und dem Besitz kinderpornografischer Schriften sowie dem Missbrauch von Schutzbefohlenen. Über Jahrzehnte hinweg hatte er die Mädchen und Jungen in seinem Wohnwagen auf einem Campingplatz in Lügde-Elbrinxen missbraucht.

Mario S., 34, Maler und Putzmann, wird verurteilt wegen 99 Fällen sexueller Gewalt und 48 Fällen schwerer sexueller Gewalt. Ein Opfer ist geistig behindert und war zum Tatzeitpunkt widerstandsunfähig. Hinzu kommen sexuelle Nötigung, Besitz und Produktion von Kinderpornografie.

Stumm sitzen die beiden Täter am Donnerstag auf der Anklagebank. Andreas V., im grauen Hoody, schaut die Richterin direkt an, als sie das Urteil verliest. Es ist das erste Mal, dass der Mann seinen Blick nicht nach unten richtet. Mario S., gewohnt im schwarzen T-Shirt, wagt keinen Augenkontakt.

Die Urteilsbegründung

„Das Gericht konnte nicht den Eindruck gewinnen“, spricht Grudda beide Männer direkt an, „dass Sie Ihre Taten bereuen und sich der Schwere Ihrer Schuld bewusst sind.“ Die Richterin braucht 50 Minuten, um die Urteilsbegründung vorzutragen. Sie spricht von einem „perfiden System“, das Andreas V. aufgebaut habe: Er habe die Opfer emotional abhängig und gefügig gemacht. Als „Kindermagnet“ hätte er Kinder, die ihm vertrauten, mit Geschenken und Erlebnissen angelockt: Mal ein Ausflug ins Schwimmbad, mal einer ins Einkaufscenter. Lagerfeuer, toben, Handys, Laptops.

Auf Ebay-Kleinanzeigen habe er gezielt nach alleinerziehenden Müttern und Vätern gesucht, um an ihre Kinder heranzukommen. Besonders perfide sei der Umgang mit seiner Pflegetochter gewesen. Die 8-Jährige habe ihm nicht nur als „intensives Sexobjekt“ gedient, sondern zudem als „Lockvogel“ für weitere Kinder.

Vieles davon trifft auch auf Mario S. zu. Er habe die Kinder erpresst, sagt Grudda: Für Nacktfotos mit Kindern versprach er Kekse und Eis, Mandalas gab es für Oralsex. In einem Video, in dem er Sex mit einem Kind hat, sagt er: „Wir haben Spaß.“ Zwei seiner Opfer seien „durch ihre Sozialisierung“ selbst zu Tätern geworden.

Mit ihrem Urteil folgt die Richterin weitgehend dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Die hatte für Andreas V. 14 Jahre mit anschließender Sicherungsverwahrung und für Mario S. 12 Jahre und sechs Monate plus Sicherungsverwahrung gefordert. „Das Urteil hat Signalwirkung“, kommentierte Roman von Alvensleben, Anwalt jener Geschädigten von Andreas V., die den Prozess ins Rollen gebracht hatte. „Wichtig ist meiner Mandantin und mir die Sicherungsverwahrung des Täters, sodass von ihm nie wieder eine Gefahr ausgehen kann“, sagte er der taz. Angesichts seines Alters dürfte Andreas V. nie wieder auf freien Fuß gelangen.

Geständnisse wirken strafmildernd

Auch Mario S. dürfte nie wieder in Freiheit gelangen. Psychiatrische Gutachten bescheinigen beiden Männern eine „ausgeprägte narzisstische Störung, eine Ich-Bezogenheit und eine tief verwurzelte Neigung zur Begehung sexueller Missbrauchstaten“. „Das macht Sie so gefährlich“, sagte Grudda in Richtung der Täter: „Es besteht ein hohes Risiko, dass Sie auch trotz Therapie weitere Taten begehen.“

Eine lebenslange Haft für beide Täter scheint gerecht zu sein, erklärt die Richterin. Aber diese sieht das Gesetz nicht vor, sondern nur eine maximale Haftstrafe von 15 Jahren. Strafmildernd wirkten sich bei beiden Tätern deren Geständnisse am ersten Prozesstag aus. Das sei anzuerkennen, denn sonst hätten möglicherweise alle Opfer im Gerichtssaal noch einmal aussagen müssen. Das wollten alle Prozessbeteiligten vermeiden. Für die Kinder, von denen manche zum Tatzeitpunkt 4 und 5 Jahre alt waren, wäre das eine psychisch sehr belastende Situation gewesen, mit möglicher Retraumatisierung. Das Gericht berief sich so vor allem auf die Aussagen der Kinder bei der Polizei, Foto- und Videomaterial sowie auf die Auftritte einiger Opfer und deren Angehörigen im Gerichtssaal.

Am frühen Donnerstagmorgen, noch bevor das Gericht öffnet, herrscht großer Andrang vor dem grauen Gebäude in Bahnhofsnähe. Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, der lange Zeitraum und die Brutalität der Taten war für viele Menschen unfassbar. „Gut, dass das jetzt vorbei ist“, sagt eine Zuschauerin. Die Frau, Mitte 40, auberginenrotgefärbter Bubischnitt, Jeans, ist mit ihrem Mann und ihrer 15-jährigen Tochter extra aus Bad Pyrmont angereist. Sie will persönlich hören, wie die Richterin das Urteil verkündet. Sie sagt: „Was die beiden Kindern angetan haben, ist unfassbar.“

Eine unglaubliche Brutalität

In den vergangenen Wochen hatte das Gericht über 30 Zeugen angehört, darunter vor allem Opfer, aber auch Eltern, andere Angehörige und Betreuungspersonen in Jugendhilfeeinrichtungen. Das, was im Gerichtssaal zur Sprache kam, was Richterin Grudda den Prozessbeteiligten an Fotos und Videos präsentierte, was in den Polizeiakten zu lesen war, beschreibt eine unglaubliche Brutalität. Selbst ein erfahrener Anwalt wie von Alvensleben war erschüttert, als er die Akten durchforstete: „So etwas habe ich vorher noch nie gelesen.“ „Abgründig“ nannte sogar Jürgen Bogner, Pflichtverteidiger des Täters Mario S., die Taten.

Mitte Juli war bereits ein dritter Angeklagter wegen Anstiftung und Beihilfe zum Missbrauch zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Heiko V. war an den Taten auf dem Campingplatz nicht direkt beteiligt, hatte aber in einigen Fällen im Internet zugeschaut. Zudem besaß er über 32.000 Dateien mit kinderpornografischem Material.

Die Bewährungsstrafe war vielfach auf Unmut gestoßen, einige Nebenkläger*innen und Teile der Öffentlichkeit empfanden es als zu mild. Die Staatsanwaltschaft hatte Revision eingelegt, sie hatte zwei Jahre und neun Monate Haft gefordert. Diese Höhe der Freiheitsstrafe kann nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Auch Heiko V. hatte zu Prozessbeginn ein Geständnis abgelegt.

Der Handel mit Kinderpornografie

Für den Missbrauchsbeauftragten ist das Urteil ein „wichtiges Signal“: „Der Rechtsstaat bestraft diese schweren Verbrechen an Kindern hart.“ Jeden Tag werden 34 Fälle sexueller Gewalt an Kinder angezeigt, in jeder Schulklasse sitzen der Dunkelfeldanalyse zufolge ein bis zwei Kinder, die sexuelle Gewalt erleben. Im vergangenen Jahr hat es laut Polizeistatistik 12.321 Ermittlungs- und Strafverfahren gegeben. Doch das ist nur das sogenannte Hellfeld, also bekannt gewordene Fälle. Expert*innen gehen von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.

Hinzu kommen seit Jahren die steigenden Zahlen des Handels mit Kinderpornografie. Die Fotos werden in der Regel im Darknet angeboten und geteilt. Für Kinderschutzorganisationen gehört der Besitz von solchem Material zum Missbrauchssystem dazu. Denn die Nachfrage nach einschlägigen Bildern heizt förmlich eine „Kinderpornografieindustrie“ an und begünstigt sexuellen Missbrauch. Das muss härter bestraft werden, meint der Missbrauchsbeauftragte: „Oft werden die Herstellung, der Besitz und die Weiterleitung von Missbrauchsabbildungen als minder schwere Kriminalität angesehen.“ So würden pädokriminelle Täter oft mit Geldstrafe von 90 Tagessätzen davonkommen.

Doch der „Fall Lügde“ ist mit dem Prozessende nicht abgeschlossen. Das offenkundige Behördenversagen, das in Detmold komplett außer Acht blieb, hat ein parlamentarisches Nachspiel. Der Düsseldorfer Landtag setzte im Juni einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. Er soll das Versagen der Behörden durchleuchten. Im Laufe der Ermittlungen zeigte sich, dass die Polizei in Lippe frühen Anzeigen von Eltern nicht nachgegangen war und Ermittlungen verschleppt wurden. Später verschwand Beweismaterial oder wurde nicht vollständig ausgewertet. Das Verschwinden eines Koffers mit 155 CDs und DVDs fiel erst Wochen später auf. Die Behörden waren ganz augenscheinlich überfordert. Als das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen Hilfe nach Lippe schicken wollte, lehnten die Ermittler*innen dort ab: Brauchen wir nicht, wir kommen klar.

Auch das Jugendamt Hameln-Pyrmont in Niedersachsen war in den Fall involviert. Es hatte Andreas V. eine Pflegetochter vermittelt, obwohl das Jugendamt Lippe davor gewarnt hatte. Anwalt von Alvensleben spricht sogar davon, dass das Jugendamt dem Mann selbst dann noch dazu drängte, ein Pflegekind aufzunehmen, als der Verdacht auf seine pädosexuelle Neigung längst im Raum stand. Als eine Mitarbeiterin des Jugendamts den Mann auf dem Campingwagen aufsuchte und den vermüllten Wohnwagen sah, griff sie nicht etwa ein, sondern löschte und manipulierte entsprechende Einträge in der elektronischen Akte. Das Jugendamt wollte sich augenscheinlich reinwaschen.

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