: Trotz Föderalismus: Gute Leistungen an Grundschulen
Die Kritik an schlechten Deutschkenntnissen von Kindern ignoriert, dass bereits viele Maßnahmen zur Sprachförderung getroffen wurden – und erfolgreich sind. Auch sonst wird Carsten Linnemanns (CDU) Aussage harsch kritisiert
Aus Berlin Anna Lehmann, Ralf Pauli und Dinah Riese
Jetzt hat der eher unbekannte Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann sogar einen eigenen Hashtag. Mit seiner Forderung, Kinder, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, später einzuschulen, hat der CDU-Politiker eine Debatte ausgelöst.
Die Reaktionen im Netz folgen prompt. „Ich sprach kein Deutsch, als ich als 12-Jährige in die Hauptschule kam“, twitterte etwa die Grünen-Politikerin Muhterem Aras, heute Präsidentin des Landtags Baden-Württemberg. Auch der Starpianist Igor Levit schrieb: „Dieser CDU-Mann hätte mich 1996 in keine Grundschule gelassen.“ Kritik kam aber auch aus der eigenen Partei. Linnemanns Parteikollegin Serap Güler schrieb, es sei richtig, Schülern, die vor der Einschulung kein Deutsch können, intensive Sprachförderung anzubieten – „egal welcher Herkunft“. Güler ist Staatssekretärin für Integration in Nordrhein-Westfalen und Mitglied des CDU-Bundesvorstands. Dass Kinder dennoch eingeschult würden, habe allerdings nichts mit „falsch verstandener Toleranz“ zu tun, schrieb sie auf Twitter – sondern mit der Schulpflicht.
Auch mehrere CDU-Kultusministerinnen, wie die baden-württembergische Bildungsministerin Susanne Eisenmann, widersprachen deutlich, aber auch Experten wie Erziehungswissenschaftler Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugend Institut regten sich auf: „Der Mensch hat von Pädagogik keine Ahnung. Grundschule heißt gerade Grundschule, weil sie den Kindern elementare Fähigkeiten vermittelt.“
Dabei ist das Problem eigentlich gar nicht neu. Schon seit der ersten Pisa-Studie im Jahre 2001 wissen die Kultusminister*innen der 16 Bundesländer, dass es erschreckend viele Kinder gibt, die nicht ausreichend gut Deutsch sprechen, um dem Unterricht zu folgen. In den neunten Klassen saßen fast zehn Prozent sogenannte funktionale Analphabeten. Und das betrifft beileibe nicht nur Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, sondern generell Schüler*innen aus benachteiligten Familien. Die Kultusministerkonferenz (KMK) nahm daraufhin die Verbesserung der Sprachförderung im Vorschulbereich in den Fokus.
Doch wie das im Föderalismus so ist, hatte und hat jedes der 16 Länder mindestens eine eigene Vorstellung, wie das am besten gelingt. In den 16 Ländern gibt es sage und schreibe 21 unterschiedliche Verfahren zur Sprachstandsfeststellung, die so unübersichtlich wie bunt wird: Die Kinder werden „Delfin“, oder „Kiste“, „HASE“ oder „KISS“ unterzogen, mal alle Jahrgänge, mal ausgewählte Gruppen, mal handelt es sich um Beobachtungen, mal um Tests oder Screenings.
Erst 2012 bildete sich eine gemeinsame Bund-Länder-Initiative, die den Wirrwarr sichten und die unterschiedlichen Maßnahmen bündeln und evaluieren sollte. Als Favorit, um Kinder nichtdeutscher Muttersprache zu integrieren, habe sich ein Modell herauskristallisiert, bei dem die Kinder von Anfang an in Regelklassen eingeschult werden. „Mehr als die Hälfte der Unterrichtszeit sollten die Kinder aber extra Sprachförderung in eigenen Gruppen bekommen“, erläutert Michael Becker-Mrotzek, der die BISS-Gruppe leitete. Also ganz viel Förderung zum Schulstart und während der Schulzeit. Linnemanns Forderung, Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse später einzuschulen, hält der Professor für Deutsche Sprache und ihre Didaktik dagegen für „töricht“.
Und offenbar auch die Bundesländer. Tatsächlich beginnen viele mit der Sprachförderung bereits vor der Einschulung. In Baden-Württemberg etwa werden Kitakinder erstmals anderthalb Jahre vor der Einschulung auf ihre Sprachkenntnisse getestet – und bei Bedarf gefördert. Zum Schulstart entscheidet dann die Lehrkraft, ob das Kind gut genug ist, den Regelunterricht zu besuchen, oder gegebenenfalls mit anderen förderbedürftigen Erstklässlern in einer Vorbereitungsklasse zunächst Deutsch zu lernen.
Laut einem Sprecher des baden-württembergischen Bildungsministerium sind das nicht nur, aber „überwiegend“ Kinder mit Migrationshintergrund. Insgesamt erhielten etwa 30 Prozent der Erstklässler Sprachförderung. Wegen der Schwächen im Lesen und Schreiben – und Rechnen – hat die Landesregierung sogar den Beginn des Fremdsprachenunterrichts von der ersten auf die dritte Klasse zurückgestellt und 80 Millionen Euro für die Qualifizierung von Erzieher*innen bereitgestellt.
Andere Bundesländer haben sehr ähnliche Verfahren und frühe Förderangebote. Welche davon am erfolgreichsten sind, das versucht derzeit auch die Kultusministerministerkonferenz herauszufinden. Der amtierende Präsident, der hessische Bildungsminister Alexander Lorz, hat die Sprachförderung zu seinem Schwerpunkt ernannt. Dass mangelnde Deutschleistungen allein auf die gestiegene „Heterogenität der Schülerschaft“ zurückzuführen sei, dem widerspricht nicht nur Lorz, sondern auch die Leistung der Grundschüler*innen. So konnten Viertklässler*innen 2016 genauso gut lesen wie im Jahr 2011. Der Anstieg der Schüler*innen mit Migrationshintergrund auf zuletzt 30 Prozent hat also nicht zu schlechteren Leistungen geführt.
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