piwik no script img

Die letzte große Last

Die eigene Mutter zu pflegen ist ein Kraftakt – körperlich und emotional. Unsere Autorin stellt sich dieser Aufgabe mehrere Wochen im Jahr. Und stößt dabei an ihre Grenzen

Von Gesine Arnold (Text)und Katja Gendikova (Illustrationen)

Sie wartet schon auf mich an diesem Morgen. Die Luft riecht etwas abgestanden nach der langen Nacht. Ich lasse die Rollos hochfahren, das Licht fällt auf sie in ihrem Bett. „Guten Morgen“, begrüßen wir uns. Sie blickt mich von schräg unten an und ich neige meinen Kopf, lächle, beuge mich zu ihr hin. Da liegt meine Mutter – 93 Jahre alt, mit geröteten Augen, blassen Lippen, dünn und altersschwach. Arme und Beine kann sie nicht mehr bewegen. Aber sie kann noch hören, sprechen, einigermaßen sehen und klar denken. Jetzt wartet sie darauf, dass mit meiner Hilfe ihr Tag beginnen kann.

Zuerst gebe ich ihr zu trinken. Aus einer Kanne gieße ich Kräutertee in einen Becher. „Pass auf, dass er nicht zu heiß ist“, bittet sie ängstlich. Ich halte direkt vor ihren Augen meine Finger an den Becher, versichere, der Tee sei nur noch lauwarm und fahre den Kopfteil des Pflegebetts hoch, damit ihr Oberkörper aufgerichtet ist. Sie trinkt mit hastigen, harten Schlucken. „Lass dir Zeit“, sage ich mit ruhiger Stimme. Sie macht Pausen zwischen den Schlucken und ihre Gesichtszüge entspannen sich.

Schließlich schlage ich ihre Bettdecke zurück. An den Knöcheln sammelt sich schon wieder das Gewebewasser, trotz der Tabletten, die sie dagegen nimmt. Ich sehe ihre knochig hervorstehenden Schultern und die mageren Arme mit Händen, die daran übergroß wirken. Schon viele Male habe ich sie so gesehen – aber jedes Mal ist da leichtes Erschrecken. Nur mühselig fasse ich, dass diese Frau einmal meine Mutter war – schön, hochgewachsen und mit weiblicher Figur zog sie bewundernde Blicke auf sich. Ich reiße mich zusammen: Wehmütige Gefühle helfen dir jetzt nicht weiter! Du musst hinnehmen, was ist und wie es ist! Schließlich brauche ich meine Kraft für einen langen, anstrengenden Pflegetag.

Die Beine meiner Mutter stelle ich so auf, dass die Knie zur Decke zeigen. Dann öffne ich an ihrer Hüfte die seitlichen Verschlüsse der Windel. „Eins – zwei – drei!“, zählen wir und schauen uns dabei möglichst aufmunternd an. Bei „Drei!“ nimmt meine Mutter ihre verbliebenen Kräfte zusammen, kann für einen Moment ihr Gesäß ein wenig anheben. Schnell ziehe ich da ihre Windel ab. Ein Geruch von Urin trifft mich. Hastig verschließe ich die Windel und lege sie vor die Tür.

Mehr als die Ausdünstungen trifft mich der Anblick: Da liegt das Geschlecht meiner Mutter, grauhaarig und nackt. Ich wollte sie so nie sehen. Als sie noch gesund war, hatte sie sich in meiner Gegenwart niemals nackt oder auch nur halb entblößt gezeigt.

Ich pflege meine Mutter nicht jeden Tag. Sie lebt mehrere hundert Kilometer entfernt von mir bei meinem Bruder und meiner Schwägerin. Als vor sechs Jahren deutlich wurde, dass sie nicht mehr allein leben kann, war für meinen Bruder klar: Er will Mutter „vor dem Heim bewahren“. Er ist ein traditionell lebender, pflichtbewusster Mann. Andere Möglichkeiten lehnte er kategorisch ab. Ich wusste schon damals: Sie zu mir zu holen, das schaffe ich physisch und psychisch nicht. Ich hätte mir vorstellen können, dass sie in einem Pflegeheim in der Nähe ihres Heimatdorfs in Baden-Württemberg gut versorgt worden wäre. Mutter schaute bei alledem hilflos drein und traf keine eigene Entscheidung. Wie gewohnt überließ sie das Handeln ihrem Sohn. Nach ihrem Umzug zeigte die „Gerettete“ allerdings nicht die erwartete Dankbarkeit. Mutter und Sohn reagierten zunehmend gereizt aufei­nander.

Seit die Pflegebedürftigkeit unserer Mutter zunimmt, überlässt mein Bruder die ganze Pflegearbeit seiner Frau. So funktioniert es in vielen Familien, so will es die Tradition: Von den Frauen, den Töchtern und Schwiegertöchtern wird erwartet, dass sie die Pflege übernehmen. Über zwei Drittel der Pflegenden in Deutschland sind Frauen. Der Anteil wird noch größer, wenn der Pflegefall mehr Zeit und Kraft braucht.

Drei- bis viermal im Jahr, soweit ich es mir als Freiberuflerin einrichten kann, fahre ich quer durch Deutschland und übernehme für eine Woche die Pflege meiner Mutter. Damit entlaste ich meine Schwägerin, die an diesen Tagen gerne verreist.

Wenn ich bei meiner Mutter bin, wache ich oft nachts auf und kann nicht mehr einschlafen. In mir werden dann kämpferische, scharfe Stimmen laut. Im Bett liegend, streite ich im Geist mit meinem Bruder, ich bin wütend, empört, könnte schreien. Ich finde es nicht richtig, wie mein Bruder die Pflege meiner Mutter bei meiner Schwägerin ablädt. Aber morgens weiß ich wieder: Es ist nicht ratsam, dass ich mich einmische, wie Bruder und Schwägerin ihre Arbeit aufteilen, ihre Ehe gestalten. Ich halte meinen Mund, damit der Streit zwischen meinem Bruder und mir nicht eskaliert. Ich will aushalten, solange meine Mutter dort lebt, so schwach und abhängig von unserer Hilfe. So passe ich mich an und tue meinen Teil. Vielleicht auch um das schlechte Gewissen zu beruhigen, das ich meiner Schwägerin gegenüber manchmal habe.

Nun ist an diesem Morgen der Gang zur Toilette dran. Ich fahre das Pflegebett weiter hoch. Meinen rechten Arm schiebe ich unter ihren oberen Rücken, mit dem linken fasse ich unter ihre Knie und drehe sie so, dass sie anschließend auf der Bettkante zu sitzen kommt. Mit gegrätschten Beinen stelle ich mich vor meine Mutter. Um meine Wirbelsäule zu schonen, soll ich mich nach unten dicht vor ihre Brust beugen, sie mit beiden Armen am Rücken fassen. Ein sehr enger Kontakt schon früh am Morgen. Ich bin sportlich, trotzdem schmerzt mir nach ungünstigen Bewegungen mein Kreuz. Auf meiner Brust fühle ich mich verspannt, die Nähe ist mir zu viel. Erleichtert atme ich aus, als meine Mutter schließlich auf dem Stuhl sitzt.

Moderne Pflegegeräte machen ein wenig Mobilität möglich, die der Körper meiner Mutter schon lange nicht mehr kann. Mit dem Toilettenstuhl fahre ich sie zum behindertengerecht umgebauten Badezimmer, schiebe sie über die Toilette. Sie hat auch Pro­bleme beim Wasserlassen, aber schließlich höre ich den Strahl des Urins im Wasser und einen feuchten Pups. Eigentlich würde ich am liebsten vor die Tür gehen, ein wenig Distanz wahren in dieser intimen Situation. Aber ich soll bitte bleiben, aufpassen, es könnte ja etwas passieren.

Also bleibe ich und blicke auf meine Mutter: ihre eingefallenen Wangen, das vom vielen Liegen zerzauste Haar, ihr gebeugter Körper, der sich nun auch bei alltäglichen Verrichtungen so sehr anstrengen muss.

Jetzt muss ich den Hintern abwischen. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben, atme bewusst in meinen Bauch und ziehe Einmalhandschuhe über. Mit Papier wische ich vorne beginnend, dann über den Anus weiter nach oben die Gesäßfalte aus. Ich hole einen feuchten Waschlappen, trage etwas Seifenlotion auf, reinige mit Wasser nach, trockne ab, creme ein. Ihre dünne Haut braucht viel Pflege und Sorgfalt. Sie soll bitte nicht wundliegen. Ich frage mich, wie entblößend diese Intim­hygiene durch die Tochter für meine Mutter ist. Sie schweigt dazu. Ich bemühe mich, so zu tun, als wäre nichts. Ich bin froh, dass mir die Handschuhe den direkten Hautkontakt ersparen.

„Ich wollte sie so nie sehen. Als sie noch gesund war, hatte sie sich in meiner Gegenwart niemals nackt oder auch nur halb entblößt gezeigt“

Während Mutter noch im warmen Badezimmer sitzt, streife ich vorsichtig ihr Nachthemd über den Kopf, ziehe ihr Unterhemd und Bluse an, gehe ihr beim Zähneputzen zur Hand und fahre sie schließlich zurück ins Zimmer, seitlich neben das Bett. Ich muss mich dicht vor sie beugen, sie vorsichtig und doch fest umfassen, mit einer schnellen Drehung aufs Bett hieven und – nachdem sie dort sitzt – wieder hinlegen. Über ihre tauben Füße und Beine streife ich zuerst warme, lange Strümpfe und danach ihre Unterhose nach oben. Als sie mit letzter Kraft ihren Po noch ein wenig anheben kann, ziehe ich schnell den Schlüpfer darüber. Anschließend rolle ich sie in die stabile Seitenlage und ziehe ihre Unterwäsche am Rücken faltenfrei, damit sie keine Druckstellen bekommt. Schließlich rolle ich sie vorsichtig wieder zurück in die Rückenlage.

Meine Mutter ist jetzt fertig, völlig erschöpft. Für mich ist noch einiges zu tun: Ich platziere eine Wärmflasche an ihre kalten Zehen, lagere die Fersen hoch damit sie nicht wundliegen, behandle an beiden Augen die entzündeten, verklebten Lidränder, gebe Nasentropfen, reiche ihr wieder Tee und dazu einige Tabletten, decke sie sorgfältig zu und streiche dann sacht über ihre Schultern. Einmal Klo, Zähneputzen, Unterwäsche anziehen und Tee trinken dauert so mehr als eine Stunde. Dann ist Zeit für eine Tasse Kaffee. Kaffee für mich. Endlich.

Deutschlands größter Pflegedienst sind die Angehörigen. Mehr als drei Viertel aller Menschen, die hierzulande dauerhaft Pflege brauchen, werden zu Hause von Familienangehörigen versorgt. Und immer mehr Menschen brauchen Hilfe: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren Ende des Jahres 2017 bereits 3,4 Millionen pflegebedürftig, Tendenz steigend. Der medizinische Fortschritt lässt die Lebenserwartung weiterhin steigen, und vor allem Hochbetagte ab 90 Jahren brauchen oft intensive Pflege. Bereits im Jahr 2015 kümmerten sich in Deutschland knapp 5 Millionen Menschen regelmäßig um eine pflegebedürftige Person.

Und ich? Warum pflege ich meine Mutter? Aus Liebe oder aus Pflichtgefühl? Meine Gefühle schwanken, je nachdem, wie die Beziehung zu ihr sich gestaltet. Als nächste Verwandte habe ich nicht nur Zuneigung, sondern auch eine gesetzlich festgelegte Verantwortung für sie, wenn sie Unterstützung und Pflege braucht.

Die Pflegeversicherung ist hierzulande – anders als zum Beispiel in den Niederlanden – nur eine Teilkaskoversicherung. Die tatsächlichen Kosten werden damit nicht abgedeckt. Die Finanzierungslücke, die die Pflegeversicherung hinterlässt, soll mit der Rente und etwaigem Vermögen geschlossen werden. Was aber, wenn die Rente ­schmal und Vermögen nicht vorhanden ist? Dann springt das Sozialamt ein – aber nur, wenn die nächsten Angehörigen nicht selbst zahlen können und Oma kein Häuschen hat, das man vor dem Verkauf bewahren will.

Es wird nicht darüber gesprochen, aber viele Menschen werden zu Hause gepflegt, weil die Familie sich eine andere Lösung finanziell nicht leisten kann oder will. Monatlich 728 Euro bekommt meine Mutter, die mittlerweile den zweithöchsten Pflegegrad vier hat, von der Pflegeversicherung. Diesen Betrag lässt sie dann auf das Konto ihrer Schwiegertochter überweisen, plus 300 Euro von ihrer monatlichen Rente. Um die häusliche Pflege etwas attraktiver zu machen, bekommen pflegende Familienangehörige bei der Deutschen Rentenversicherung auch einige Punkte für ihre spätere Rente gutgeschrieben.

Für weniger als 35 Euro pro Tag ist meine Schwägerin an sieben Tagen in der Woche im Einsatz: Ab morgens wird sie alle zwei Stunden gerufen. Sie hilft bei dem aufwendigen Toilettengang, sie muss eine bewegungsunfähige Person im Bett ankleiden und wieder ausziehen, für Körperpflege und -hygiene sorgen, gesundes Essen und Trinken bereiten und häppchenweise reichen, Zimmer, Bett und Badezimmer sauber halten. Zu ihren regelmäßigen Aufgaben gehört es auch, mit Ärzten, Sanitätshaus, Apotheke, Pflege- und Krankenversicherung zu sprechen und zu schreiben. Nicht zuletzt: Kurse besuchen, damit sie mit den richtigen Pflegetechniken arbeiten kann. Vor allem aber: sich immer wieder aufs Neue ansprechen lassen von einem alten Menschen, der auf der letzten, sehr leidvollen Etappe seines Lebensweges unterwegs ist, die negativen Stimmungen aushalten und wenn möglich ausgleichen. Beschämend weit unter dem Mindestlohn leisten pflegende Familienangehörige einen enorm wichtigen und sinnvollen Beitrag für unsere Gesellschaft.

Die Nähe, die ich nicht geben kann

Manchmal ist meine Mutter noch ganz die Alte. „Ach, das tut soooo gut!“, schwärmt sie und erzählt, dass ein Besucher sie neulich zum Abschied am Bett umarmte und auf die Stirn küsste. Ich höre da heraus: Sie wünscht sich solche Zärtlichkeiten auch von mir. Aber mein Körper verspannt sich sofort, wenn ich mir das vorstelle. Da war immer diese Leere zwischen uns.

Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mich je umarmt hätte, wenn ich als Kind krank war oder Unterstützung gebraucht hätte. Das alles ist sehr lange her, und ich mache keine alten Rechnungen mehr auf. Als erwachsene Frau habe ich auch Verständnis für ihre Lage damals, nach ihrer Scheidung, als alleinerziehende Mutter. Aber ich möchte heute auch zu mir stehen und meine Gefühle ernst nehmen. Also umarme ich sie nicht.

Stattdessen lege ich meine Hand auf ihre Schulter und schaue sie an. Zu mir selbst sage ich dabei: So ist es gut genug. Sie sagt nichts. Sie schaut mich auch nicht an. Ich weiß ja: Es reicht ihr nicht. Bin ich kleinlich, geize ich? Aber kann es jemals reichen in dieser letzten Lebensphase, in der sie sich angesichts des Todes immer wieder so sehr sehnt nach der Fülle des Lebens und menschlicher Nähe?

„Für weniger als 35 Euro pro Tag ist meine Schwägerin an sieben Tagen in der Woche im Einsatz“

Wie kann man die letzte, die Pflegephase, die Zeit des Abschieds mit den Eltern gestalten? Auch Psychologen und Altersforscher äußern sich zur Pflege. Für die erwachsenen Kinder sei es wichtig, so der Tenor der Veröffentlichungen, wirklich erwachsen zu handeln und nicht enttäuscht, trotzig oder hilflos in alte Muster aus Kindheit und Jugend zu verfallen.

Diese Hinweise geben mir Orientierung. Und ohne das Wissen und das Handwerkszeug, das ich mir während einer längeren Psychotherapie in der Mitte meines Lebens angeeignet habe, würde ich die Pflege, auch wenn ich sie nur zeitweise mache, nicht schaffen.

Mittlerweile kann ich unterscheiden zwischen dem kleinen Mädchen, das ich damals war, und der erwachsenen Frau, die ich heute bin. Das kleine Mädchen war heillos überfordert, weil es seine ängstlich-schwache und unselbstständige Mutter stützen sollte. Ich als erwachsene Frau kann hingegen dieser steinalten Frau, die früher mal meine Mutter war, tatkräftige Unterstützung geben. Ohne diese Unterscheidung würden mich viele Situationen während der Pflege rasend machen – besonders dann, wenn meine Mutter mit ihrer Stimme so dringlich bittet und unterwürfig dankt. Im Hause meines Bruders ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich die Tage zähle, bis meine Schwägerin zurückkommt und ich entlastet werde. Müssen wir den Eltern überhaupt etwas zurückgeben, weil sie etwas für uns geleistet haben?

Die Philosophin Barbara Bleisch von der Universität Zürich hat sich dieser Frage unter ethischen Aspekten gewidmet und kommt zu dem Ergebnis, dass die erwachsenen Kinder „keine speziellen Pflichten“ hätten. Mit Blick auf die Pflege unterscheidet Bleisch zwischen „generischen“ und „spezifischen“ Gütern. Generische Güter betreffen die existenziellen Bedürfnisse nach Ernährung, einem Dach über dem Kopf und pflegerischer Begleitung. Dafür bedürfe es keiner besonderen persönlichen Beziehung. Auch Pflegekräfte könnten sie übernehmen. „Spezifische Güter“ seien dagegen solche, für die es eine tiefere Beziehung braucht: ein vertrautes Gespräch, Austausch über Erinnerungen, vertraute alte Rituale. Das könnten vor allem die Angehörigen leisten. Diese Unterscheidung leuchtet mir ein.

So nehme ich mir Zeit für die nachmittäglichen Kaffeestunden, die Mutter stets liebte. Auf den Tisch stelle ich zwei Becher Cappuccino, dazu feinen Kuchen, manchmal auch Pralinen auf Porzellantellern. Ich frage meine Mutter, worüber sie mit mir sprechen möchte, erkundige mich auch nach ihren Erfahrungen von früher. Und sie erzählt, berichtet mir von ihrer Schulzeit, dem Dorf, dem Tal, in dem sie aufwuchs, freut sich über mein Interesse. Das freut auch mich.

Manchmal erfahre ich dabei noch etwas aus dem Leben meiner Mutter oder über das Dorf, in dem ich aufwuchs. Aber manchmal schickt mein Körper auch Signale: Die Brust wird eng, die Schultern hochgezogen und verspannt. Da merke ich: In den Erinnerungen von Mutter spielen mein Bruder und ich überhaupt keine Rolle. Das versetzt mir einen Stich, da spüre ich wieder den Mangel zwischen uns. Gleich wollen Enttäuschung, Wut und Vorwürfe wieder in mir aufsteigen und sich breitmachen. Aber ich erinnere mich: Vor einiger Zeit habe ich mich als erwachsene Person dafür entschieden, dass ich meiner Mutter verzeihe. Dass ich darauf verzichte, ihr Vorwürfe zu machen für die emotionale Verlassenheit, die ich als kleines Mädchen erfuhr.

In einem längeren, nicht einfachen Prozess nehme ich diese Verletzungen in meinem Leben an. Jetzt, bei dieser Kaffeestunde, ist wieder eine dieser Gelegenheiten, zu erkennen: Ich brauche nicht mehr auf Zeichen von meiner Mutter zu warten oder zu hoffen. Als erwachsene Frau bin ich tatsächlich schon lange ohne sie selbstbewusst und handlungsfähig. Es ist gut, mir das immer wieder klarzumachen.

Nach einem meiner Aufenthalte bei meiner Mutter im vergangenen Jahr begegnete ich einer Bekannten, die eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige leitet. Sie lud mich ein vorbeizukommen. In der Gruppe, die sich monatlich trifft, saßen zwanzig Personen, überwiegend Frauen. Sie können sich an diesen Nachmittagen informieren, austauschen, einander ermutigen. „Pflege ist ein Langstreckenlauf, aber man weiß nicht, wie lange er dauern wird“, sagte die Leiterin der Runde. „Man darf nicht ständig am Limit laufen, sonst schafft man das nicht.“

Durch das extreme Abhängigkeitsverhältnis, in das Pflegende und Gepflegte zu Hause geraten, tauchten schnell Aggressionen auf. „Auch nachts hat man oft keine Ruhe. Der Katheter verstopft, man muss mitten in der Nacht umbetten, das Bett neu beziehen. Chronischer Schlafmangel macht aggressiv“, sagte die Leiterin. Die Folge: „Man versagt den Dienst, will nicht schon wieder die Bettwäsche wechseln. Oder man packt härter zu, wird laut, brüllt an …“

„Pflege ist ein Langstrecken­lauf, aber man weiß nicht,wie lange er dauern wird. Man darf nicht ständig am Limit laufen, sonst schafft man das nicht“

Leiterin einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige

Obwohl ich immer nur eine Woche lang pflege, kenne ich die Aggressionen, von der die Gruppenleiterin spricht. Mein ganzer Tag ist dann bestimmt durch die Bedürfnisse meiner Mutter, von frühmorgens bis spätabends. Auch wenn dazwischen kleine Zeitfenster liegen – nie kann ich selbstbestimmt darüber verfügen. Ich muss einkaufen, Essen zubereiten, Telefonate und Korrespondenz erledigen, die Blumen im Garten gießen. Besonders abends habe ich genug von der Pflegearbeit, möchte wenigstens noch ein oder zwei Stunden Ruhe haben. Aber die Pflege zur Nacht ist noch einmal aufwendig. Toilettengang, Zahnpflege, umziehen, Windel anlegen und Mutter akkurat lagern, weil sie sich im Bett nicht mehr bewegen kann. Gerade abends bittet sie noch um vielerlei, klagt gleichzeitig darüber, dass sie mich bitten muss und entschuldigt sich dafür.

Was soll ich da bloß tun? Ich weiß: Jetzt möchte meine Mutter, dass ich lieb und freundlich bin und sage, dass ich ihre Wünsche gern erfülle. „Ach was, das macht mir doch gar keine Mühe, das ist doch selbstverständlich!“ So sollte ich sagen. Stattdessen beginnt es in mir zu schreien. Ich habe die Schnauze voll von diesem verrückten Durcheinander! Verdammt, wie sie mich bis zuletzt manipulieren will! Es reicht doch, dass ich hier die ganze Zeit ackere, kann’s denn nicht mal genug sein?! Hörbar ziehe ich die Luft ein, richte mich auf. Jetzt bloß nicht losschreien, sonst wird hier alles nur noch schlimmer, sonst bin ich auch noch schuld an diesem Durcheinander!, fährt es mir blitzschnell durch den Kopf. Ich atme aus, lasse meine Schultern sinken und verschließe meinen Mund. Sehr fest. Ich sage nichts mehr, verrichte nur noch stumm die verbleibenden Aufgaben zur Nacht: wieder die Wärmflasche an ihre immerzu kalten Zehen legen, die Fersen hochlagern, die Lidränder pflegen, das Nasenspray geben, das Nachtlicht einstellen, ihre Schultern zudecken, ganz genau so, wie sie es möchte, ganz genau so, wie sie es sagt. Ich sage nichts. Ich weiß, wie bockig, vielleicht sogar feindselig mein Schweigen auf sie wirkt. Aber es ist mir jetzt egal. Ich will hier endlich raus, die Tür hinter mir zumachen und meine Ruhe haben!

Ich brauche Geduld, wie alle pflegenden Angehörigen, Geduld im Übermaß.

Sich ausreichend Entlastung holen durch Hilfe von ambulanten Diensten – das hörte ich als eindringliche Empfehlung beim Besuch in der Selbsthilfegruppe. Aber warum holen viele Angehörige diese Hilfe nicht? Nur ein Drittel der häuslichen Pflegefälle wird zusammen mit einem ambulanten Dienst versorgt, so die Statistiken aus dem Jahr 2017. Zwei Drittel stemmen diese belastende Aufgabe ganz allein. Auch meine Schwägerin. „Könnte ein ambulanter Dienst, der morgens oder abends kommt, dir nicht ein wenig Freiraum verschaffen?“, fragte ich sie deshalb am Telefon. Sie reagierte ausweichend. „Willst du nicht, dass fremde Leute in eurem Haus rumstiefeln?“ „Ja, vielleicht.“ Sie druckste rum und beendete das Thema. Vielleicht wollte sie auch nicht darüber sprechen, weil diese fremden Leute Geld kosten ­würden.

Wenn ambulante Dienste Teile der Pflege übernehmen, wird das geringe Salär der pflegenden Familienangehörigen sofort stark gekürzt. Obwohl die häusliche Pflegeperson weiterhin das gesamte aufwendige Pflegemanagement verantwortet, viel Pflegearbeit leisten und als möglichst mitfühlender Mensch ständig präsent sein muss. Da erscheinen die Leistungen der ambulanten Dienste oft wenig lohnend.

Scheibchenweise aus der Welt gehen

Am Tisch sitze ich am frühen Abend schräg neben meiner Mutter. Gerade habe ich ihr das Essen, Zucchini mit Reis und einem Joghurtdip, Löffel für Löffel in den Mund geführt. Jetzt sind wir fertig, sie hat den letzten Bissen der kleinen Portion geschluckt.

„Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mich je umarmt hätte, wenn ich als Kind krank war“

„Ich will nicht mehr aufwachen am Morgen!“ Mutters Stimme ist plötzlich ganz schrill, überschlägt sich fast, sie schluchzt auf und blickt mich hilfesuchend an. Mutter spricht über ihren Tod. Ich schaue sie an, nicke ihr leicht zu. Ja, ich kann dich verstehen, möchte ich ihr damit sagen. Die gravierende körperliche Gebrechlichkeit, die schwere Erschütterung des Selbstwertgefühls, weil man nur noch in Abhängigkeit von den Pflegepersonen leben kann, Neid auf die Gesunden und Scham wegen der vielen Entblößungen und Schwächen – all das macht Angst und tiefe seelische Schmerzen.

Altenpflege ist Pflege an einem langsam Sterbenden, sie ist Pflege zum Tod. Erst allmählich habe ich das verstanden. In den gesellschaftlichen Diskussionen über die Pflege wird zu Recht beklagt, wie schlecht bezahlt und wenig anerkannt diese Arbeit ist. Könnte es sein, dass Altenpflege auch deshalb so wenig anerkannt wird, weil es keine Erfolge im üblichen Sinne gibt? Keine Rettung, keine Gesundung, keine strahlenden Gesichter?

Als Pflegende habe ich eine wichtige und harte Aufgabe beim langsamen Übergang vom Leben zum Tod: aushalten, wie die Person, die ich pflege, scheibchenweise aus der Welt geht. Und jeden Tag versuchen, einen akzepta­blen, guten Tag zu organisieren. Einen Tag, an dem Ängste, Verzweiflung, Wut und Schmerz meine Mutter und mich nicht überwältigen.

Mein Sohn und meine Tochter kommen am Wochenende zu Besuch. „Ja, dass ihr kommt, zu mir, das freut mich so!“, ruft meine Mutter, hebt ihren Kopf so weit wie möglich vom Kissen, lächelt den beiden jungen Menschen zu. Oma ist sie gerne, als Oma kann sie geliebt werden und will ihr Bestes geben. Sie erzählt viele ihrer Geschichten von früher, will aber auch wissen, was die erwachsenen Enkel machen. Ihre Kräfte blühen noch einmal auf wie unter einer warmen Sonne. Sie erlebt, wonach sie sich so sehr sehnt: liebevolle Aufmerksamkeit und viel Bestätigung. Mit den Enkeln ist das möglich, die Beziehungen zu ihnen sind leicht und ungetrübt.

Nach diesem Wochenende voller Leben ist meine Mutter erschöpft. Unser Abschied naht. Wir wissen: Gut möglich, dass es das letzte Mal ist, dass wir uns lebend begegnen. Der Abschied fällt mir schwer. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, sie eine Woche lang fürsorglich zu pflegen. Und ich bin erleichtert, dass nun bald wieder mein eigenes Leben beginnt, mit Mann, Tochter und Sohn, Beruf, Freundinnen und Freunden und vielen interessanten Dingen, mit denen ich mich beschäftige. Es war nicht einfach bei meiner Mutter. Aber ihre Hinfälligkeit ist wie eine entscheidende Frage, die das Leben an mich stellt: Wie willst du sein? Willst du teilnahmsvoll, zugewandt und versöhnt leben? Ich möchte darauf mit Ja antworten.

Wir nicken uns zu. Lebe wohl, Mutter. Alles Gute, Oma. Ein warmer Händedruck, ein offener Blick in die Augen. Für den Moment ist alles gut. Die Momente mit ihr, so kurz vorm Sterben, so spürbar im Jetzt, sind wertvoll und gut.

Die Autorin hat diesen Text unter einem Pseudonym geschrieben, um die Privatsphäre ihrer Familie zu schützen. Sie arbeitet als freie Autorin und schreibt unter anderem für die taz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen