„Bereit, ins Gefängnis zu gehen“

Es war ihre erste Mission als Kapitänin an Bord der „Sea-Watch 3“. Jetzt muss Carola Rackete die italienische Justiz fürchten, weil sie Menschen aus Seenot gerettet hat. Wer ist diese Frau?

„Wir sind als Kapitäne verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten“: Carola Rackete an Bord der „Sea-Watch 3“ Foto: Alessandro Serrano/SIPA/action press

Von Anett Selle

Ich bin gestern angekommen und hab vom vorherigen Kapitän übernommen. Für die nächste Mission, also bis Ende des Monats.“ Die 31-jährige Carola Rackete steht auf dem Hauptdeck der „Sea-Watch 3“. Es ist Sonntag, der 9. Juni. Das Schiff liegt im Hafen von Licata in Sizilien. In vier Stunden wird die „Sea-Watch 3“ vom Ufer aus gesehen nur noch ein kleiner Punkt auf dem weiten Wasser sein. Unterwegs. Hinaus aufs Mittelmeer, wo jeder sechste Mensch auf der Flucht stirbt. Mindestens 18.000 Tote seit 2014. Darunter 678 oder noch mehr Kinder.

Für Rackete ist es die erste Mission als Kapitänin der „Sea-Watch 3“. „Wir bereiten uns darauf vor, dass viele versuchen, das Mittelmeer zu überqueren. Im Mai waren es 2.000 Personen, von denen wir wissen. 30 Boote.“ Rackete spricht ruhig, nicht langsam. Beim Reden neigt sie den Kopf oft leicht nach oben. Ihre Augenbrauen bewegen sich mit jedem Wort. „Wir wissen von 106 Personen, die gestorben sind. Das heißt, wir bereiten uns darauf vor, dass wir Rettungen durchführen müssen.“

Am Mittwoch, dem 12. Juni, rettet die Crew 53 Menschen aus einem blauen Gummiboot. Danach fahren Crew und Gerettete auf dem Meer hin und her, gut zwei Wochen lang, wartend auf die Erlaubnis, einen sicheren Hafen anfahren zu dürfen. Währenddessen können sich die Staaten der Europäischen Union nicht auf eine Verteilung der Flüchtlinge einigen, auf die Italien als Bedingung dafür pocht, um die „Sea-Watch 3“ anlegen zu lassen.

Vor Missionsbeginn schildert Rackete der taz an Bord der „Sea-Watch 3“, was die Crew erwartet. „Wir bereiten uns auf die extrem schwierige Situation vor, dass wir nicht mehr viel staatliche Kooperation bekommen, um die Menschen irgendwo hinzubringen.“ 20 Tage später, am Samstag, dem 29. Juni, endet Racketes Mission als Kapitänin damit, dass die italienische Polizei sie vom Schiff abführt und unter Hausarrest stellt.

Man wirft Rackete Gehorsamsverweigerung und Widerstandsakte gegenüber einem Kriegsschiff vor, verbotswidrige Navigation in italienischen Hoheitsgewässern und Beihilfe zu illegaler Einwanderung. Ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft. Weil die Kapitänin die Verantwortung trägt dafür, dass sie selbst, ihre 21 Crewmitglieder und die 53 geretteten Menschen am Leben sind und einen sicheren Hafen erreicht haben. „Es gibt ein Seerecht“, sagt Rackete in Licata vor Beginn der Mission. „Wir sind als Kapitäne verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten.“ Danach steigt sie die Metalltreppe hoch zur Schiffsbrücke. In den Stunden bis zur Abfahrt ist noch viel zu tun. „Ich bin verantwortlich für alles, was auf diesem Schiff passiert.“

Die Ereignisse rund um die „Sea-Watch 3“ und ihre Kapitänin beschäftigen aktuell nicht nur eine italienische Untersuchungsrichterin und verschiedene Anwält*innen. Menschen im In- und Ausland gehen zu Solidaritätsveranstaltungen. Politiker*innen pochen auf die Pflicht zur Seenotrettung und fordern Racketes Freilassung. Vertreter*innen der Kirchen kritisieren Italien. Spendenaktionen sammeln binnen Tagen über eine Million Euro für Rackete ein.

Solidarität Der FC St. Pauli protestiert gegen die Beschlagnahme der „Sea-Watch 3“ und die Festnahme von Carola Rackete. Wie der Fußball-Zweitligist mitteilte, schließt sich das Präsidium einer Aktion der Segler an. „In Zeiten wie diesen gilt es, aktiv seine Stimme zu erheben und Seite an Seite mit denjenigen zu stehen, die Menschen im Mittelmeer nicht einfach ertrinken lassen“, sagte Clubchef Göttlich.

Aktion Mit Flaggen, Bannern, Transparenten und Schwimmwesten will die Segelabteilung des Kiezclubs am Mittwoch auf der Alster ein Zeichen setzen. „Alle, die unsere Segelabteilung im Kampf für eine freie Seenotrettung dabei unterstützen wollen, sind herzlich eingeladen, ein Zeichen zu setzen“, heißt es. (dpa, taz)

Ihre Ingewahrsamnahme hat ausgelöst, was Bilder toter Körper im Wasser, Berichte über Leichenteile in Fischnetzen, Folterlager und Sklavenmärkte in Libyen lange nicht mehr bewirkt haben: eine Diskussion über die darniederliegende Seenotrettung Europas im Mittelmeer.

Ihrer Freiheit beraubt wird Rackete, weil sie sich italienischen Anweisungen widersetzt hat. Ohne Genehmigung fährt sie in italienische Hoheitsgewässer, vor denen sie wochenlang auf Erlaubnis zur Einfahrt gewartet hatte. Dann läuft sie unerlaubt den Hafen der kleinen Insel Lampedusa an und stößt beim Anlegemanöver gegen ein Boot der italienischen Finanzpolizei. Rackete beruft sich auf einen Notstand an Bord: Sie habe Selbsttötungen und -verletzungen unter den Geretteten nicht mehr ausschließen können.

„In den Meetings hat sie immer klar die Lage analysiert und gesagt, wir warten noch, wir warten noch, so schlimm ist es nicht, wir kriegen das hin. Bis es nicht mehr ging“, sagt Till Egen. Der 35-Jährige aus Berlin war bei der Mission mit an Bord. „Sie hat ein super Gespür für Menschen, hat crewintern geschlichtet und gestärkt. Alle hatten ja 20-Stunden-Tage, wochenlang. Carola war müde wie alle, aber immer total klar in ihrer Haltung und mega willensstark. Die hat mit einer Ruhe und Konsequenz die Entscheidungen gefunden, die für die Crew am besten waren. Ich kann mir keine bessere Kapitänin vorstellen.“

Rackete wurde in der Nähe von Kiel geboren und wuchs im niedersächsischen Hambühren auf. Ihr Vater ist Elektro-Ingenieur in Rente. Mit ihrer Entscheidung, Nautik zu studieren, habe sie die Familie überrascht, sagt Ekkehart Rackete am Telefon. „Niemand in der Familie hatte je einen Draht zur Seefahrt.“ Das Geld für die notwendige Operation ihres starken Sehfehlers habe seine Tochter sich in einem Schnellrestaurant verdient.

In einem Video auf der „Sea-Watch 3“ sitzt Carola Rackete seitlich an die weiße Schiffswand gelehnt. Aufgenommen hat es Till Egen am 20. Juni. Acht Tage nach der Rettung, sechs Tage vor Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer, neun Tage vor Racketes Ingewahrsamnahme. Halbzeit. ­Rackete sieht aus wie kurz vor der Abreise in Licata – oder auch nicht. Ihre Dreadlocks hat sie zum Zopf gebunden. Ein anderes Shirt. Die Augenringe liegen tiefer. „Eine Rettung endet, wenn alle an einem sicheren Ort sind“, sagt die Kapitänin. „So ein sicherer Ort liegt hier hinter mir: Die Insel Lampedusa. Nur 15 Meilen entfernt. Aber uns ist es nicht erlaubt, sie anzufahren.“

Mit ihrer Rettungsmission ist die Kapitänin in einen Machtkampf zwischen europäischen Staaten geraten. Italien wäre bereit, das Schiff samt Geretteten anlegen zu lassen – sofern andere Länder vorab zusichern, die Menschen allesamt aufzunehmen. Doch in den 16 Tagen, in denen das Schiff wartet, können sich die EU-Staaten nicht auf die Verteilung der 53 Menschen einigen.

„Polarregionen mochte ich immer gern. Weil sie so schön und inspirierend sind“

Carola Rackete, Kapitänin

In Deutschland erklären sich mehrere Städte bereit, jeweils alle Geretteten aufzunehmen. Das Bundesinnenministerium müsste dem allerdings zustimmen. Und tut es nicht. Kein Präzedenzfall der Alleinaufnahme Deutschlands. Klar ist: Wenn nichts passiert, muss die „Sea-Watch 3“ früher oder später in Italien anlegen, dann sind die Geretteten italienische Angelegenheit. Deutschland benutzt die Situation der „Sea-Watch 3“ als Druckmittel. Bislang hat sich Seehofer nicht zu Racketes Ingewahrsamnahme geäußert.

Ihr Handeln bringt der Kapitänin auch Hass ein. Als die Polizei Rackete in der Nacht auf den 30. Juni von der „Sea-Watch 3“ abführt, klatschen einige Menschen im Hafen von Lampedusa der Kapitänin Beifall. Andere aber sind lauter. Die, die „Ab ins Gefängnis!“ rufen. „Zigeunerin!“ Oder ihr wünschen, sie möge „von den Negern vergewaltigt werden“. Auf Lampedusa hat bei der Europawahl fast die Hälfte die rechte Lega-Partei gewählt. In einer italienischen Meinungsumfrage war ein gutes Drittel für die Aufnahme der Geretteten. Dagegen: 61 Prozent. Von Matteo Salvinis Lega-Wähler*innen: 93 Prozent. Das Verhalten der Kapitänin bezeichnete der italienische Innenminister als „kriegerische Handlung“.

Rackete ist keine unerfahrene Kapitänin. Seit acht Jahren arbeitet sie auf See. Vor allem in kalten Regionen: Meist auf Forschungsschiffen in der Arktis und Antarktis. „Polarregionen mochte ich immer gern. Weil sie so schön und inspirierend sind. Aber da zu arbeiten ist auch traurig. Weil man mit ansieht, was Menschen dem Planeten antun. Wir verändern ihn sehr schnell. Das Klima bricht zusammen.“ Ihre bislang sechs Rettungsmissionen im Mittelmeer hat Rackete als Kapitänin ehrenamtlich durchgeführt.

„Die erste ist sie im Mai 2016 gefahren, auf der ‚Sea-Watch 2‘“, sagt Ruben Neugebauer von der gleichnamigen Hilfsorganisation. „Wir hatten einen Notruf von der Marine bekommen, wegen eines gekenterten Holzbootes mit mehreren hundert Leuten.“ Nach dieser Mission habe Sea-Watch einige Einsatzrichtlinien geändert. „Wegen der Extremsituation musste Carola von den Standardabläufen abweichen. Ihre erste Mission war auch die erste, wo wir Menschen an Bord genommen haben. Später kam heraus, dass in dieser Woche mindestens 1.000 Menschen umgekommen sind.“

In Gewahrsam: Rackete wird von Lampedusa nach Sizilien gebracht Foto: A. Serrano/SIPA/action press

Rackete lehnt an der weißen Schiffswand. „Während früherer Missionen habe ich viel Leid gesehen.“ Zwischen den Wörtern lässt sie längere Pausen. „Ich hatte einen kleinen Jungen im Arm, der seinen Vater ans Meer verloren hatte. Ein paar Stunden, bevor wir sie erreichten. Ich war auch Kapitänin, als wir bei einem Großunglück ankamen und fast alle waren tot. Trieben im Meer.“ Sie befeuchtet ihre Lippen. „Das ist nicht unvermeidbar. Wir könnten das lösen – wenn die EU wollte.“

Im Moment könne sie nur tun, was sie für richtig halte, sagt Rackete. „Zufällig habe ich die Fähigkeiten, die Möglichkeit und das Privileg, helfen zu können. Alle Crewmitglieder hier haben entschieden, hier zu sein. Aufzustehen für das Recht aller Menschen auf Rettung.“ Rackete schaut in die Kamera. „Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen, wenn man mich dafür verurteilt. Und mich vor Gericht zu verteidigen, wenn nötig. Denn was wir tun, ist richtig. Die Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten, darf niemals in Frage stehen.“

Am Dienstag sollte eine Untersuchungsrichterin auf Sizilien entscheiden, ob gegen Rackete ein Haftbefehl erlassen wird oder ob sie lediglich ein Aufenthaltsverbot für die Provinz Agrigent, zu der auch Lampedusa gehört, erhält. Die Entscheidung darüber stand bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe aus.

Ein Interview mit Carola Rackete finden Sie ­unter: https://twitter.com/tazgezwitscher/status/1137671961335738368