EU-Spitzenkandidatin Margrethe Vestager: Die stille Herausforderin
Mit Charme und knallharter Politik spielt Margrethe Vestager in Brüssel alle an die Wand. Könnte sie Junckers Nachfolgerin sein?
Und dann, ganz plötzlich, stand die Dänin im Scheinwerferlicht, als sie im Team der Allianz der Liberalen und Demokraten (Alde) auftauchte. Nicht als Spitzenkandidatin, wie der Deutsche Manfred Weber (CSU/EVP) oder der Niederländer Frans Timmermans (Sozialdemokraten/S&D). Denn die Liberalen haben keine solchen, sondern ein achtköpfiges Spitzenteam benannt – Vestager ist die Erste unter Gleichen.
Bis heute hat die Dänin nicht verraten, ob sie wirklich auf den Posten des Kommissionschefs will. „Natürlich sollte es eine Frau sein“, antwortet sie auf die Frage, ob die Zeit für einen Wechsel gekommen sei. „Wenn wir Europa verändern wollen, dann müssen wir auch verändern, wie wir aussehen.“ Doch ob sie diese Frau sein will, lässt sie offen.
Dahinter steckt Kalkül. Denn zum einen kann Vestager nicht sicher sein, sich im Rennen um die Juncker-Nachfolge durchzusetzen. Schließlich will das Europaparlament nur „echte“ Spitzenkandidaten nominieren. Auch auf Macron kann – und will – sie sich nicht verlassen. Frankreichs Staatschef lehnt das Spitzenkandidatenprinzip ab; die Dänin galt lange als seine Favoritin für das Amt des Kommissionschefs.
Außerdem würde Vestager ihren bisherigen Job gerne fortsetzen. Als oberste Wettbewerbshüterin hat sie nämlich schon viel erreicht – mehr als ihre Amtsvorgänger. Mit der Mischung aus gewinnendem Auftreten und knallharter Politik hat sie sogar Giganten wie Google, Amazon und Apple in die Knie gezwungen.
Den amerikanischen Computer- und Telefonhersteller Apple verpflichtete Vestager zur Nachzahlung von 13 Milliarden Euro Steuern in Irland. Den Internet-Konzern Google belegte sie gleich dreimal mit Strafen von insgesamt 8,25 Milliarden Euro wegen Marktmissbrauchs.
Charmant, aber auch machtbewusst
Bei Donald Trump hat sich die 51-Jährige damit unbeliebt gemacht. Vestager ist für den Macho im Weißen Haus schlicht die „Steuer-Lady aus Brüssel, die die USA hasst“. In Europa hingegen wird sie für ihren Mut bewundert. Vor allem in der „Brüsseler Blase“, dem kleinen Kreis der EU-Insider, hat sie viele Fans.
„Diese Frau ist der Hammer“, heißt es in der EU-Kommission, wo Vestager die anderen, meist männlichen Kommissare locker an die Wand spielt. Charmant sei sie, aber auch machtbewusst – eine ungewöhnliche Mischung.
Dass sie grundsätzlich keine Lobbyisten empfängt und auf Konferenzen und Reisen gerne strickt, finden nicht nur ihre Mitarbeiter sympathisch. Die dreifache Mutter sei eigentlich ganz normal und arbeite „wenig hierarchisch“, loben sie.
In ihrem Heimatland hält sich die Begeisterung für Vestager in Grenzen. Was ihre Kommissionsarbeit angeht, hat sie zwar auch viel Lob geerntet. Die LeserInnen der konservativen Tageszeitung Berlingske Tidende zumindest wählten sie etwa 2016 zur „Dänin des Jahres“.
Gleichzeitig konstatieren Medien, dass im Ausland ein anderes, ein positiveres Bild von Vestager vorherrsche. So etwa die konservative Wochenzeitung Weekendavisen, die Anfang März feststellte: Während die meisten Europäer landesübergreifend eine positive Meinung zu Vestager hätten, „genießt sie in ihrer Heimat am wenigsten Unterstützung“.
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Das liberale Ekstra Bladet schrieb einmal über die 51-Jährige, Vestagers Geheimnis sei „ihr enormes Talent zur Selbstinszenierung“: „Anscheinend reicht das aus, damit sich im politisch-journalistischen Milieu in Brüssel die Karusselle drehen.“
Dabei hat die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin auch in ihrer Heimat schon früh eine steile Karriere hingelegt. 1968 als Älteste von vier Kindern in einer Pfarrersfamilie geboren, trat sie mit 15 bei der sozialliberalen Radikale Venstre ein, in der auch beide Elternteile Mitglieder waren.
Mit 29 Jahren wurde sie 1998 als Bildungs- und Kirchenministerin das jüngstes Kabinettsmitglied, das Dänemark bis dahin gehabt hatte. Ins dänische Parlament, das Folketing, wählten sie die BürgerInnen erstmals 2001 – 2007 übernahm sie schließlich Partei- und Fraktionsvorsitz.
„So ist das eben!“
Vor allem der neoliberale Richtungswechsel der „Radikalen“ hinterließ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Dänemarks Spuren. Vestagers Partei verhalf der rechtsliberal-konservativen Minderheitsregierung im Frühjahr 2011 zusammen mit der rechtspopulistischen „Dänischen Volkspartei“ zu einer Parlamentsmehrheit für eine Arbeitsmarkt-„Reform“. Die hatte es in sich: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds wurde halbiert, gleichzeitig die erforderliche Beschäftigungsdauer, um Leistungsansprüche zu erwerben, verdoppelt. Auch das Rentenalter wurde erhöht.
Davon ließ Vestager auch nicht ab, als sie sechs Monate später als Innen- und Wirtschaftsministerin in eine von der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt geführte Mitte-links-Regierung eintrat. Dafür stellte sie die Bedingung, dass die Leistungsverschlechterungen nicht rückgängig gemacht werden sollten. Außerdem verlangte sie von den Sozialdemokraten, auf ihr zentrales Wahlversprechen zu verzichten – der Einführung einer Millionärssteuer.
In dieser Zeit trat Vestager knallhart auf. Mit der Aufforderung an Arbeitslose, „mehr Flexibilität“ zu zeigen, machte sie sich jedenfalls wenig Freunde. Gäbe es in Dänemark keine Arbeit, so erklärte sie damals, sollten sie ihr Glück eben in Deutschland oder Norwegen versuchen. Ihr damals geäußertes „So ist das eben!“ hängt ihr bis heute nach.
Linke wie der Autor und Journalist Bjarne Lundis warfen ihr „rohen und kalten Zynismus“ vor. Für viele ist die Kommissarin heute noch ein rotes Tuch. „Ich kann nur alle Linken davor warnen, ihr Vertrauen in Margrethe Vestager zu setzen“, sagt Pelle Dragsted, Abgeordneter der linken Einheitsliste, noch 2016. Sie tauge „jedenfalls nicht als Symbolpolitikerin für den Kampf für faire Steuern“.
Ihre Arbeit in der dänischen Regierung ab 2011 könnte sich auf Vestagers Zukunft in Brüssel auswirken. Dänemark wählt am 5. Juni ein neues Parlament, der oder die neue Regierungschefin würde entscheiden, wen Dänemark künftig in die EU-Kommission schickt. Gute Chancen für das Amt der Ministerpräsidentin werden Mette Frederiksen ausgerechnet, der Vorsitzenden der Sozialdemokraten.
Doch für die sei Vestager wohl „die Person auf der Welt, bei der sie am meisten rotsieht“, meint Martin Krasnik, Chefredakteur von Weekendavisen. Als Sozialministerin saß Frederiksen damals in einer Regierung mit Vestager: drei Jahre Dauerclinch.
In Paris in Ungnade gefallen
So gut ihr resolutes Vorgehen in Brüssel ankommen mag, hat sich die Dänin aber auch in der EU Feinde gemacht. In Irland, den Niederlanden oder Luxemburg hat Vestager die Regierungen gegen sich aufgebracht, indem sie gegen Steuerspar-Modelle für Großkonzerne vorging. Die großzügigen Arrangements seien illegale staatliche Beihilfen für die Multis, so ihr Verdikt – so weit hatte noch niemand das Wettbewerbsrecht ausgelegt.
Auch in Deutschland und Frankreich ist Vestager nicht mehr überall wohlgelitten. Seit sie die Fusion von Siemens mit Alstom untersagt hat, ist sie vor allem in Paris in Ungnade gefallen.
Bei einer Diskussion mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in Brüssel erläuterte Vestager im April ihre Philosophie. Die europäische Wirtschaft, dozierte die Ökonomin, bestehe nicht nur aus Großkonzernen wie Siemens oder Alstom. Nein, die EU lebe von einem „Ökosystem“ aus kleinen und großen Firmen.
Genau wie in der Natur gehe es in der Wirtschaft um „Diversität“ und „Resilienz“ – und die hänge eben nicht nur von „großen Spezies“ ab, sondern auch von den kleinen Tieren. Ein wenig klingt es wie im Biologie-Unterricht – nur dass Vestager, die Liberale, nicht mit Darwin argumentiert, so wie Altmaier.
Der deutsche CDU-Politiker sieht Europa in einem Existenzkampf mit China. Er will „europäische Champions“ fördern, damit die kleinen Fische aus der EU gegen die großen Staatskonzerne aus Fernost eine Chance haben. Vestager hält davon herzlich wenig. „Wir wären lausige Chinesen“, hält sie Altmaier entgegen.
Vestager möchte, dass wir bessere Europäer werden – allerdings nicht durch staatliche Eingriffe, sondern mithilfe des Markts, der sich frei entwickeln soll. Sie ist eine Marktliberale des Internet-Zeitalters: Für Vernetzung, aber gegen Monopole, für die Rechte der Verbraucher, gegen Bevormundung durch Google & Co.
Ob das reicht, um die marktliberale EU aus der Krise zu führen, ist unklar. Immerhin hat sie dem Image der EU-Kommission ein Upgrade verpasst. Im Vergleich zum deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) und seiner Klientelpolitik für die alte (Auto-)Industrie steht sie für die EU 2.0. Und das ist ja auch schon was.
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