: Zukunftsuche in Kreuzberg
Mit den „Utopian Tours“ schaut ein Künstlerkollektiv, repräsentiert durch seine Initiatorin und Reiseleiterin Mikala Hyldig Dal, aus ferner Zukunft zurück auf das Jahr 2019 und die Gentrifizierung in Berlin-Kreuzberg
Von Linda Gerner
Der weiße Bus stoppt am Straßenrand, Menschen stolpern heraus, sie folgen der Reiseleiterin, die mit energischen Schritten vorangeht. Es werden Smartphones gezückt, alle schauen schwer interessiert. Keine ungewöhnliche Szene für Berlin. Nur kommen diese Menschen aus dem Jahr 2099.
Zumindest sollen sie sich das für die zweistündige Bustour von alpha nova & galeriafutura vorstellen. Auch werden nicht einschlägige Touristenattraktionen besucht, sondern Orte in Kreuzberg, die eng mit dem Begriff „Gentrifizierung“ verknüpft sind. Mikala Hyldig Dal hat die interaktive Installation im öffentlichen Raum in Zusammenarbeit mit mehreren Künstler*innen entwickelt. Heute mimt sie die Reiseleitung. Im roten Overall mit der Aufschrift „Stadt für alle“, ihrem charmanten dänischen Akzent und guter Laune versucht sie beim Stop-and-go durch Kreuzberg das Gedankenspiel für die Gruppe greifbar zu machen.
Man müsse sich vorstellen, so erzählt sie beim Auftakt auf dem Mariannenplatz vor dem Kunsthaus Bethanien, dass es 2019 in Berlin große Demos gegen Mietenwahnsinn gab. Dass damals „34 Männer genauso viel besaßen wie die Hälfte der Weltbevölkerung“ und dass die Menschen anfingen, sich zu wehren: gegen Spekulationen mit ihren Wohnhäusern und gegen den Wegfall von Freiräumen in der Stadt zugunsten von Profit. Aus der Perspektive des Jahres 2099 will die gebürtige Dänin, die seit 2001 in Berlin lebt, an die Proteste erinnern.
Etwa an die Koalition von Lause, Kotti & Co und dem Prinzessinnengarten. Alles Orte und Menschen, so der fiktive historische Rückblick, die „bei der Formulierung der Verfassung der freien Stadt Berlin von 2038 zu den zentralen Akteuren gehörten“. In dieser Verfassungsänderung wird das bedingungslose Grundeinkommen festgelegt, werden Migrant*innen in der Gesellschaft explizit begrüßt und ist festgelegt, dass es keine Mieterhöhungen geben darf, wenn nicht gleichzeitig auch die Löhne steigen.
Es wird statuiert, dass die „Enteignung von privatem Immobilienbesitz zum Wohle der Allgemeinheit unerlässlich ist“, wenn dieser über Eigennutzung hinausgeht. Utopien träumen, das will Hyldig Dal mit ihrem Projekt: „Das hört sich vielleicht alles utopisch an, aber ich halte das für durchführbar. Das ist, was Kunst leisten kann im Gegensatz zu traditionellem Aktionismus – die Vorstellungskraft aktivieren, was sein könnte.“
Die fiktiven Orte, an denen in Kreuzberg die Abwehr der Gentrifizierung erfolgreich war, sind zugleich Stationen der Berlin Utopian Tours. Einer der künstlerischen Aspekte der Kiezreise sind dabei animierte Skulpturen, die – na klar, futuristisch – mit Augmented Reality über den Orten schweben und von den Besuchenden mit ihren Smartphones oder einem Tablet eingefangen werden. Erinnern sollen sie im Jahr 2099 an diese Widerstandsorte, doch die blendende Sonne lässt die farbfrohen Animationen nur erahnen, und interessanter ist ohnehin der reale Austausch über Gentrifizierung mit den Betroffenen vor Ort.
Eine andere künstlerische Intervention der Tour bilden riesige Immobilienaufsteller, kreiert von Dorothea Nold. Die Künstlerin hat Baustellenplakate nachempfunden, die im Stadtbild Berlins omnipräsent sind, und ins Groteske gezogen. Die Firma Schark Immo GmbH plant raumschiffähnliche Gebäude für Kreuzberg – wer wird da bezahlbare Ateliers oder Kultur- und Begegnungsstätten vermissen? Bei den Prinzessinnengärten am Moritzplatz, erster Busstop, dauert es nicht mal eine Nacht, bis kritische Anwohner*innen das Kunstwerk kommentieren: „Eat the rich“ ist in goldener Schrift auf die Platte geschrieben, das „A“ ziert natürlich das Anarcho-Zeichen.
Es beginnt zu tröpfeln, die futuristische Reisegruppe begibt sich mit Kind, Hund und Kegel wieder in den Bus – kurzer Stopp bei der Mieter*innengemeinschaft Kotti&Co, knips, dann geht es weiter in die Lausitzer Straße. Hier kämpfen Menschen aus den Häusern Nummer 10 und 11 seit über drei Jahren gegen die Verdrängung aus ihrem Kiez. Im Gewerbehof des alten Fabrikgebäudes erzählen zwei Aktivist*innen den Zeitreisenden von ihrem fortlaufenden Kampf. Mit medienwirksamen Aktionen wehrt sich die Hausgemeinschaft gegen den Verkauf der Häuser für 20 Millionen Euro – so der Plan des dänischen Immobilienkonzerns Tækker.
Über jeden dieser Widerstandsorte gäbe es mehr zu erfragen, mehr zu berichten. Das merken die Tourist*innen schnell. Doch wer aus der Zukunft kommt, will schnell viel sehen, hat keine Zeit, zu verweilen. Ein kleiner Abstecher noch zur Baustelle der ehemaligen Cuvry-Brache – als einem dystopischen Beispiel. Dann endet die Tour an der Kunstgalerie alpha nova & galeria futura mit Diskussionen, Flyern, Demohinweisen. Und damit schwarz auf bunt wieder im Jahr 2019.
„Zukunftsland 2099: Berlin Utopian Tours“, wieder am 18. 5./25. 5./1. 6./8. 6, 16–18 Uhr, Eintritt frei
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