Susanne Knaul über die Raketen auf Tel Aviv: Im Kern getroffen
Der Raketenangriff auf eine im Zentrum Israels gelegene Ortschaft kommt für Regierungschef Benjamin Netanjahu so kurz vor den Parlamentswahlen denkbar ungünstig. Sogar seine USA-Reise musste er vorzeitig abbrechen, um sich der alarmierenden Sicherheitslage daheim anzunehmen. Damit nicht genug, stellt ihn der Angriff vor ein Dilemma. Ordnet er harte Vergeltung an, riskiert er einen Krieg. Handelt er zu lasch, drohen ihm die Wähler davonzulaufen, die nicht verstehen, warum eine so starke Armee wie die israelische zulässt, dass die Hamas das ganze Land terrorisiert.
Zwischen Tel Aviv, dem Herzstück Israels, und Sderot unweit der Grenze zu Gaza bestehe kein Unterschied, sagt Netanjahu. Doch das ist eine glatte Lüge. Mit den Raketen auf die grenznahen israelischen Ortschaften kann man sich arrangieren. Öffentliche Gebäude sind sicher konstruiert, die Bevölkerung ist geschützt, erhält Steuervergünstigungen und ist die seit Jahren regelmäßig aufheulende Sirenen gewohnt. Die palästinensischen Attacken auf Tel Aviv treffen dagegen das Nervenzentrum des Landes, und sie treffen ahnungslose schlafende Familien.
Hinzu kommt, dass der Raketenabschuss absurderweise gar nicht auf Israel reagiert. Vielmehr gerät die Hamas über Steuererhöhungen und hohe Lebenshaltungskosten im Gazastreifen stärker als je zuvor in die Kritik der Bevölkerung. Zum ersten Mal ziehen Tausende Palästinenser auf die Straße, um gegen die Führung zu demonstrieren. Der Angriff auf Tel Aviv ist ein durchsichtiger Versuch der Hamas, von ihren innenpolitischen Problemen abzulenken. Eine skrupellose Strategie, die bislang gut funktionierte. Der wahre Feind, so die Botschaft, ist Israel.
Am kommenden Freitag jährt sich der Große Marsch der Rückkehr, bei dem rund 200 Palästinenser erschossen wurden, zum ersten Mal, und die Hamas wird erneut die Massen zum Protest an die Grenze schicken. Dann wird es wieder Tote geben. Über Steuererhöhungen spricht vorerst dann niemand mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen