Proteste in Frankreich: Aufruf gegen Gewalt
Opfer von Anschlägen in Frankreich wenden sich an die Öffentlichkeit. Sie kritisieren die „Gelbwesten“, aber auch die Berichterstattung der Medien.
PARIS taz | Eine Gruppe von Opfern des Terrorismus in Frankreich hat im Kontext der Demonstrationen der Gelbwesten einen offenen Brief publiziert. Die in den Medien omnipräsente Gewalt am Rande dieses aktuellen Konflikts ist für diese geschockten Menschen inakzeptabel. Sie haben versucht, mit ihren traumatischen Erlebnissen zu leben, diese zu verdrängen oder im besten Fall zu bewältigen und in eine wertvolle Erfahrung zu verwandeln.
Wenn dann aber täglich oder stündlich in den Medien fast nur noch Bilder von brachialer Gewalt bei Konfrontationen zwischen Demonstranten und Polizisten und wenig später Reportagen vom Schauplatz eines Attentats zu sehen sind, brechen kaum verheilte Wunden auf. „Das Spektakel der ständig ausgestrahlten Gewalt in unserem Land, namentlich in Paris an zwei aufeinanderfolgenden Samstagen, verletzt uns ganz besonders“, schreiben diese Terroropfer in ihrem offenen Brief.
Denn um ein Spektakel, das mit professionellem Eifer und Know-how beschrieben und kommentiert oder gar inszeniert wird, handelt es sich zweifellos. In die Informationspflicht mischt sich bei den Medien in der Rivalität um die eindrücklichsten Schauplatzszenen sogar so etwas wie ein skrupelloser Wettlauf. Wer die brutalsten Videos hat, verzeichnet die höchsten Einschaltquoten.
Diese Sensationsgier war vor Ort spürbar bei den Demonstrationen der Gilets jaunes. Wie viele Menschen, mit oder ohne gelbe Warnwesten, waren auf die Champs-Èlysées in der Erwartung gekommen „que ça pète“ (dass es krachen würde)? Das wollten sie live an vorderster Front sehen. Aber vor allem die Medien müssen sich fragen: Wie weit sind sie selber von dieser ungesunden Neugier angesteckt?
Moralische Rechtfertigung
Die Frage nach der Legitimität dieser Gewalt oder Gegengewalt kommt erst danach. Sie dient eventuell der moralischen Rechtfertigung. In ihrem Brief wollen sich die Terroropfer explizit nicht dazu äußern: „Wir fällen kein Urteil über die Berechtigung der Forderungen der Gilets jaunes“, schreiben sie und betonen, dass ihre einzige Gemeinsamkeit die Ablehnung von Gewalt zur Konfliktlösung sei.
Allerdings bringen sie eine Solidarität mit den „Ordnungskräften“ zum Ausdruck: „Wir wissen, wie hoch der Preis ist, den ihre Angehörigen in den letzten Jahren an den Terrorismus bezahlen mussten. Die verbale und physische Gewalt, der sie heute ausgesetzt sind, erscheint uns nicht tolerierbar.“
Die bisherige Bilanz des Aufstands: sechs Tote und Hunderte von Verletzten
Nach dieser ethischen Überlegung bleibt eine nüchterne Feststellung: Wenn ihre Wut nicht durch die Anwendung radikaler Methoden zum Ausbruch gekommen wäre, hätten die Gilets jaunes nichts erreicht.
Es bleibt indes die erschreckende Bilanz des Aufstands der Gelbwesten: sechs Tote und Hunderte von Verletzten. Von da eine Linie zur Gewalt des islamistischen Terrors zu ziehen, wie dies die Briefschreiber versuchen, ist dagegen fragwürdig.
Ausbrüche des Volkszorns
Die spektakuläre Radikalität der Aktionsformen einer sozialen Forderungsbewegung lässt sich aus der Perspektive der Effizienz hingegen nachvollziehen. Die Historikerin Danielle Tartakowsky hat dazu angemerkt, dass gerade in Frankreich, wo Konflikte besonders häufig eskalieren, die „Gewalt ein Ersatz für die zahlenmäßige Stärke (ist) und dem empfundenen Bedürfnis entspricht, schockieren zu müssen, um sich Gehör zu verschaffen“, weil dies aus Erfahrung anders nicht gelinge.
Solche Ausbrüche des Volkszorns sind ein Symptom für die Krise eines politischen Systems, das keine demokratischen Korrekturen zulässt, auch wenn diese vernünftig erscheinen. Ihren Aufruf gegen die Gewalt beenden die sieben Briefschreiber darum mit einem Zitat des Malers Francisco de Goya als Warnung: „Wenn die Vernunft schläft, erwachen die Monster.“
Leser*innenkommentare
98589 (Profil gelöscht)
Gast
Danke für eure Infos, Christoph und Eulenspiegel!
Das sind keine direkten Gewaltopfer. Das war mir wichtig zu wissen.
Hier eine interessante Zusammenfassung dessen, warum die Menschen auf die Straße gehen, und was sie noch erwartet aufgrund der Umstrukturierung :
antides.de/gilets-...schen-nicht-wissen
Den Aufruf gegen Gewalt unterstützt wohl jeder, der ein echtes Anliegen hat. Natürlich sind, wie überall, auch Straftäter unterwegs, die Randale machen wollen. Das den Gelbwesten anzuhängen finde ich nicht in Ordnung.
Das würde bedeuten, es kann niemand mehr auf die Straße gehen, demonstrieren, zu Protesten aufrufen.
Das ist nicht zielführend!
mowgli
Zitat: „Nach dieser ethischen Überlegung bleibt eine nüchterne Feststellung: Wenn ihre Wut nicht durch die Anwendung radikaler Methoden zum Ausbruch [Anm.: gemeint ist vermutlich ‚zum Ausdruck‘] gekommen wäre, hätten die Gilets jaunes nichts erreicht.“
Ach, wirklich? Sagt wer? Einer, der eine Rechtfertigung braucht, richtig? Aber nachher wieder über die Leute lästern, die in jeder zweiten Talkshow öffentlich behaupten, man würden ihnen das Reden verbieten!
Warum hat diesen Typen in den gelben Westen eigentlich keiner gesagt, dass sie in einer Demokratie leben, in der sie nicht nur wählen dürfen, sondern sich auch wählen lassen können? Sind die vielleicht alle nicht zur Schule gegangen? Oder wollen die gar keine „ordentliche“ Macht? Weil sie genau wissen (oder doch wenigstens fürchten), dass sie es auch nicht besser machen würden als die, die sie da kritisieren?
81331 (Profil gelöscht)
Gast
...Gewalt erzeugt Gegengewalt.
Wenn die Polizei 'präventiv' Hunderte von Menschen verhaftet, so wird die Stimmung unter den Demonstrierenden auch nicht besser.
Irgendwie kann ich mich des Eindrucks erwehren, dass Macron hinter dieser Aktion, mit dem "offenen Brief", steckt.
Wie auch immer, die Gleichstellung der sog. Gelbwesten mit islamistischem Terror ist in meinen Augen eine Frechheit.
98589 (Profil gelöscht)
Gast
Es gab 6 Tote? Gibt es einen Hinweis zu dieser Behauptung.
Ein Mensch in gelber Weste wurde von einem LKW getötet.
Die anderen 5?
Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich, Autor des Artikels
@98589 (Profil gelöscht) Schon am 17. November starben drei Menschen bei Straßensperren, in den Tagen seither zwei weitere und am Donnerstag ein sechster. Fast jedes Mal wurden dabei "Gelbe Westen" umgefahren, als sie versuchten Fahrzeuglenker zu stoppen. In einem Fall stürzte ein Motorradfahrer.
Christoph
@98589 (Profil gelöscht) Hier eine Liste der Toten (darin logischerweise nicht enthalten das unendliche Leid der zahlreichen Verletzten, darunter auch viele Polizist/innen.)
Am 17. November wurde eine Demonstrantin in Pont-de-Beauvoisin (Savoie) getötet, als sie von einem Autofahrer getroffen wurde, der an einer Straßensperre in Panik geriet. Zwei Tage später wurde ein 37-jähriger Biker von einem Pickup-Truck schwer verletzt und starb am nächsten Tag. In der Nacht vom 1./2. Dez. starb ein Autofahrer, als er bei Nähe von Arles in einen von den gelben Westen gestoppten Lastwagen raste. Das vierte Opfer ist eine 80-jährige Frau, die am 1. Dez. in Marseille durch eine Tränengasgranate verletzt wurde. Sie starb am nächsten Tag im Krankenhaus.Am 10. Dezember wurde in Chasseneuil-sur-Bonnieure eine Frau im Alter von zwanzig Jahren getötet, als ihr Auto in einen Lastwagen fuhr, wiederum im Zusammenhang mit einer Blokade.
Ein Demonstrant mit gelber Weste starb in der Nacht vom 12./13. Dez. in Avignon. Er wurde von einem Lastwagen an einem Kreisverkehr angefahren.
www.lemonde.fr/soc..._5396765_3224.html
Rudolf Fissner
@98589 (Profil gelöscht) Schon selber recherchiert?
Das WWW lässt sich durchsuchen! Man finden schnell Ergebnisse.
Wikipedia (nicht aktuell) liestet einige.
Eulenspiegel
@98589 (Profil gelöscht) In Marseille traf eine sehr alte Dame eine Polizeigranat oder sie ist erstickt als die Granate im Zimmer Gas verbreitete. Es ist noch unklar. Sie war krank, zuhause und dabei ihr Fenster im ersten Stockwerk zuzumachen. Die anderen sind "verkehrsunfälle", Leute die an Sperren überfahren worden sind. Bis jetzt gibt's keine direkte Gewaltöpfer
Der Mann, der unter einem Stein hervorkroch
@98589 (Profil gelöscht) "Die anderen 5?"
4 starben ebenfalls bei Verkehrsunfällen, sofern dieses Wort in diesen Zusammenhang überhaupt passend ist.
Beim 5. Opfer handelt es sich um eine Aktivistin aus Marseille. Sie wurde von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen und verstarb wenig später im Krankenhaus.