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Ich bin ein tollerMensch

Sie liebt ihre Heimatstadt Berlin, träumt aber seit ihrer Kindheit von San Francisco: Eva Müller über schlimme und gute Zeiten, die alkoholkranke Mutter und ihre neue beste Freundin

Von Eva Müller

Mein Name ist Eva, ich bin 50 Jahre alt und habe eine geistige Behinderung. Meine Behinderung nennt sich Herz-Hand-Syndrom. Bei meiner Geburt waren meine Hände zusammengewachsen, und ich hatte ein Loch in der Herzscheidewand. Das Loch ist aber mittlerweile zugewachsen. Durch eine Unterversorgung während der Schwangerschaft war ich bei der Geburt einfach noch nicht fertig.

Ich wohne schon mein Leben lang in Berlin und möchte auch niemals woanders wohnen, auch wenn es mir oft zu voll ist und ich gern bei Papa auf dem Land bin. Ich weiß noch genau, dass ich ein paar Mal, als die Mauer noch stand, nach Ostberlin gefahren bin. Dafür musste man zum Rathaus Steglitz, um ­überhaupt rüberzudürfen. Wahrscheinlich gab es dort Papiere, das weiß ich aber nicht mehr genau. Im Osten war es anders. Ich war immer froh, wenn wir wieder zu Hause waren, da ich mich überhaupt nicht wohlgefühlt habe und auch etwas Angst hatte.

Mit meiner Familie habe ich in Dahlem gewohnt. Dort waren in meiner Kindheit und auch noch etwas später die Amerikaner stationiert. Ich habe mich so wohl bei den Amerikanern gefühlt und hatte immer das Gefühl, dass ich dort so akzeptiert wurde, wie ich bin. Dadurch habe ich meine große Leidenschaft fürs Cheerleading entdeckt. An diese Zeit denke ich gern zurück.

1973 bin ich in die Schule gekommen. Ich besuchte die Biesalskischule und die Pestalozzischule. Die 9. Klasse musste ich zweimal machen, da ich einfach noch nicht bereit für die Arbeitswelt war. Ich bin nicht gern in die Schule gegangen. Immer war ich kleiner als die anderen Kinder und konnte vor allem beim Sport nicht immer mitmachen. Dafür wurde ich gehänselt und verstehe bis heute eigentlich noch immer nicht, warum die anderen Kinder so gemein zu mir waren.

Nach der Schule arbeitete ich mit Mama zusammen. Sie hat musikalische Früherziehung in Kindergärten in Zehlendorf unterrichtet, und ich habe ihr dabei geholfen. Eine richtige Ausbildung habe ich dann aber nicht mehr gemacht. Später habe ich bei meinem Papa als Sekretariatshelferin gearbeitet.

Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich aber am liebsten am Flughafen arbeiten. Ich bin so gern am Flughafen und schaue mir die abfliegenden Flugzeuge an. Dort zu arbeiten wäre wirklich ein Traum.

Wenn ich an meine erste Erinnerung zurückdenken soll, fällt mir leider nichts ein. Ich habe schlimme Erinnerungen und schöne Erinnerungen, welche allerdings länger her sind, weiß ich nicht mehr. Eines weiß ich aber genau: Sowohl schöne, als auch schlechte Erinnerungen hängen fast immer mit meiner Mutter zusammen.

Als ich noch klein war, trennten sich meine Eltern. Das war unglaublich schlimm für meine Schwester und mich. Das Verhältnis zu meinem Vater wurde immer schlechter, da Mama mir zeitweise den Kontakt verboten hatte. Warum, weiß ich bis heute nicht. Meine Schwester und ich blieben bei meiner Mama. Damals wusste ich noch nicht, dass Mama Alkoholikerin ist.

An ein Ereignis erinnere ich mich noch genau. Zusammen mit meiner Schwester, wir waren beide noch Kinder, saß ich im Keller und schüttete Mamas Alkohol weg. An diesem Tag wurde Mama vom Krankenwagen abgeholt, da sie zu viele Tabletten mit Alkohol genommen hatte. Ich liebte meine Mama sehr, doch es wurde immer schwieriger, ihren Alkoholkonsum zu ertragen.

Ich weiß nicht, wie ich ohne meine Schwester zurechtgekommen wäre. Sie bedeutet mir auch heute noch alles und ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Sie ist immer für mich da gewesen und hat immer zurückstecken müssen, da ich ja behindert bin. Das scheint ihr nie etwas ausgemacht zu haben. Es war alles immer locker und einfach mit ihr. Zumindest habe ich mich bei ihr immer verstanden und geborgen gefühlt.

Früher war meine Familie noch etwas größer. Meine Tanten und Onkels sind aber alle mittlerweile gestorben und den Rest sehe ich einfach viel zu selten. Oft waren die Besuche der Familie aber auch unangenehm für mich. Meine Mama war nicht die Einzige, die ein Problem mit Alkohol hatte. Bei Familienfeiern waren immer alle betrunken, und ich versteckte mich am liebsten in meinem Zimmer, weil ich manchmal große Angst bekam.

Eigentlich kann ich mich gar nicht erinnern, dass meine Mama je nüchtern gewesen ist. Einmal habe ich angefangen zu notieren, was Mama alles trinkt, um herauszufinden, was mit ihr los ist. Sogar wenn die Klavier­schüler zu Hause waren, musste sie zwischendrin immer mal wieder „etwas holen“, und ich hörte die Flaschen klimpern. Mama ist mit mir auch betrunken Auto gefahren. Irgendwann habe ich einmal eine Freundin unserer Familie gefragt, ob Mama Alkoholikerin ist, was sie natürlich bestätigte.

Ich musste mich immer viel um Mama kümmern und hatte Angst, sie allein zu Hause zu lassen. Viele Veranstaltungen und Verabredungen habe ich nicht mehr besucht, da mir peinlich war, wenn andere Leute sehen, dass Mama immer besoffen ist. Sie war immer so unberechenbar!

Als meine Schwester irgendwann auszog, war ich allein und bin auch heute noch traurig, wenn ich daran denke. Niemand war für mich wirklich da. Papa hatte inzwischen eine neue Familie. Ich glaube, dass er auch heute noch Probleme mit mir hat, weil ich behindert bin. Irgendwann haben wir uns wieder häufiger gesehen. In seinem Haus durfte ich mich aber nicht frei bewegen und musste seiner neuen Frau immer erklären, was ich warum machen will. Meine Stiefschwester wurde immer bevorzugt, und ich glaube auch, dass Papa sie mehr lieb hat. Ich merke, dass Papa mich liebt, und ich liebe ihn natürlich auch, aber er hat mich immer anders als meine Schwestern behandelt. Im Stillen habe ich ab und zu einfach mal geweint, weil ich nicht wusste, was ich falsch gemacht hatte und warum ich so allein bin!

Mama hat meine Schwester und mich immer gleich behandelt. Mama ist mit mir und meiner Schwester oft verreist. Es war ihr wichtig, dass wir etwas von der Welt sehen. Wir waren in der Karibik, in Spanien und in der Dominikanischen Republik. Ende der 90er Jahre war ich mit Mama, meinem Onkel und meiner Tante in New York. Ich war begeistert von dem Gefühl der Freiheit und den lockeren Menschen in Amerika.

Mama hatte auf der Reise einen schlimmen Asthmaanfall. Wie selbstverständlich kamen ihr Menschen zu Hilfe, was ich so in Berlin noch nicht oft gesehen hatte! Bis heute bin ich fasziniert von diesem Land, und seit meiner Kindheit träume ich von San Francisco.

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis ich endlich von zu Hause auszog. 2005 bin ich in eine WG des Union Hilfswerks gezogen. Dort hat es mir aber gar nicht gefallen. Die Betreuer waren blöd und haben sich nicht um mich gekümmert. Außerdem mochten sie meine Mama nicht und haben immer schlecht über sie geredet. Ich blieb auch nicht besonders lange dort. Als ich einen Zusammenbruch hatte, hat mir niemand von denen geholfen, und Papa hat mich irgendwann dort rausgeholt. Wie das genau alles passiert ist, weiß ich aber nicht mehr. Ich bin dann wieder zurück zu Mama gegangen.

2008 habe ich durch eine Freundin den Verein Zukunftssicherung kennengelernt. Ich wohnte erst noch eine Zeit zu Hause, bevor ich in eine eigene Wohnung zog. Im selben Jahr habe ich auch meine erste Reise zusammen mit der Zukunftssicherung gemacht.

Auf dieser Fahrt hatte ich einen Darmdurchbruch und musste ins Kranken­haus. Mir musste ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. Ich hatte große Schwierigkeiten mit der Narkose und bin fast gestorben! Die Zeit war sehr schwer für mich und ich wurde dadurch noch mehr eingeschränkt als vorher.

Ich hatte eigentlich nie ein wirklich großes Problem mit meiner Behinderung und weiß auch gar nicht mehr, ob ich selbst gemerkt habe, dass die anderen nicht sind wie ich oder ob Mama mir das mal erklärt hat.

Durch den Darmdurchbruch fühlte ich mich aber das erste Mal wirklich behindert und hatte Angst, dass fremde Menschen merken, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist. Heute habe ich mich aber an mein Stoma gewöhnt und kann damit gut umgehen.

Krankenhäuser besuche ich aber nicht gern. Als Kind war ich einfach zu oft dort. Mein Körper ist voll mit Narben, sie erinnern mich immer wieder an schlimme Zeiten.

Kurz nach meinem Darmdurchbruch bekam ich die schlimmste Nachricht meines Lebens: Mama war an Krebs erkrankt. Eine Welt brach für mich zusammen. Ich wusste anfangs nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich glaube, Mama wusste es auch nicht so richtig. Sie versuchte, sich von so einem Wunderheiler helfen zu lassen, und hörte nicht auf, Alkohol zu trinken, bis sie irgendwann ins Krankenhaus kam. Sie hatte dort ihre erste Chemo und kam dann wieder nach Hause. Ich musste mich oft um sie kümmern, weil sie niemanden im Haus haben wollte.

„Krankenhäuser besuche ich nicht gern. Als Kind war ich ein- fach zu oft dort“

Die Erinnerung an diese Zeit tut sehr weh. Mama wurde immer schwächer und kam immer wieder ins Krankenhaus. Irgendwann musste sie länger dort bleiben und wurde immer schwächer. Am 23. November 2010 bekam ich dann einen Anruf vom Krankenhaus, und ich wusste schon, dass es zu Ende gehen würde. Am selben Tag ist Mama gestorben.

Ich vermisse meine Mama jeden Tag! Ehrlich gesagt war ich auch ein wenig erleichtert, dass Mama tot war. Mein Leben lang hat der Alkohol mein und ihr Leben bestimmt, und nun waren wir irgendwie beide erlöst. Ich würde aber trotzdem alles tun, um sie noch um mich zu haben.

Ich bin nach Mamas Tod in ein tiefes Loch gefallen, war eingeschüchtert, allein und sehr ängstlich. Meine Betreuer waren in dieser Zeit immer für mich da und versuchten mich wieder aufzubauen. Dies dauerte aber einige Zeit, und auch noch heute gibt es Momente, in denen ich Hilfe benötige.

Meine Betreuerin hat sich damals überlegt, ob ich nicht in einer anderen Wohnform wohnen sollte. Ich sollte eine Mitbewohnerin bekommen und in ein großes Haus ziehen. Das machte mir erst einmal Angst, und ich war sehr unsicher.

Heute bin ich mir sicher, dass es das Beste ist, was mir je passiert ist! Ich bin immer einsam gewesen und lebe jetzt in einem großen Haus mit Anschluss an eine Gruppe und kann immer Hilfe bekommen.

Die Begegnung mit meiner Mitbewohnerin Yvonne zählt zu einer meiner schönsten Erinnerungen. Ich habe sie bei der Vorbereitung für das Inklusive Verbundwohnen gesehen und wusste einfach, dass sie es ist, und bis heute ist sie einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Sie ist meine beste Freundin, ist immer für mich da und fängt mich auf, wenn es mir schlecht geht.

2016 habe ich es zusammen mit meiner Mitbewohnerin auch endlich nach San Francisco geschafft und mir meinen Lebenstraum erfüllt.

Ich fühle mich im Moment so wohl wie lange nicht mehr. Ich wäre manchmal gern selbstbewusster und habe noch zu viel Angst, zu viel falsch zu machen. Die letzten fünfzig Jahre haben mich zu der gemacht, die ich heute bin, und ich traue mich zu sagen: Ich bin ein toller Mensch!

Eva Müller ist ein Pseudonym

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