Staatssekretär über deutsche Politik: „Das Land ist aufgewühlt“

Markus Kerber ist im Innenministerium für „Heimat“ zuständig. Er findet, dass die Politik viel mehr offen streiten sollte.

Menschen im Reichstag

„Heimat ist überall dort, wo ich dazu gehören darf und will“, sagt Markus Kerber Foto: Unsplash/AC Almelor

taz: Herr Kerber, Sie sind Staatssekretär im Bundesinnenministerium und hier zuständig für Heimat, also für gesellschaftlichen Zusammenhalt und gleichwertige Lebensverhältnisse. Man könnte auch sagen, Sie sind Horst Seehofers Heimat-Staatssekretär. Was ist Ihr Heimatbegriff?

Markus Kerber: Heimat ist überall dort, wo ich dazu gehören darf und will. Für mich persönlich sind es fünf Orte, an denen ich dieses Gefühl hatte: Ulm, Stuttgart, Los Angeles, London und Berlin. Und das gilt auch für die aktuelle Debatte in Deutschland und generell in der globalisierten Welt: Wo wollen Menschen dazugehören – und wo dürfen sie es auch? Das sind nach meinem Dafürhalten die Leitplanken einer überfälligen Integrationsdiskussion.

Können Sie sich erinnern, dass dieses Land je so gespalten war wie derzeit?

Ich sage lieber: Das Land ist aufgewühlt. Ich beobachte das aber im Moment in allen westlichen Staaten. Irgendwas hat uns in den letzten zehn Jahren aus der Bahn geworfen. Und ich denke, das ist nicht die Zuwanderung, die Migration. Die war nur der Auslöser. Es gibt eine Verunsicherung, ob das, was man nach 1990 für richtungweisend gehalten hat, richtig war: Die Annahme, dass wir eine Art Endzustand der Globalisierung erreicht hätten, hat sich als fehlerhaft erwiesen. Im Moment weiß kaum jemand, wo der Kompass hinweist.

Das Land ist aufgewühlt. Ich beobachte das aber im Moment in allen westlichen Staaten. Irgendwas hat uns in den letzten zehn Jahren aus der Bahn geworfen

Haben Sie einen Kompass?

Ich bin Anhänger des Philosophen Karl Popper, von dessen Theorie der offenen Gesellschaft. Popper sagt, es gibt keinen vorbestimmten Weg, sondern wir müssen die Probleme, die sich an jedem neuen Tag im Leben stellen, neu lösen.

Das ist aber anstrengend.

Klar. Wir meinten ja nach 1990, in einem postideologischen Zeitalter zu leben. Aber es scheint etwas zu geben, was die Menschen brauchen, das über das Materielle hinausgeht. Früher nannte man das Ideologie. Davor vielleicht Glauben. Übergeordnet ist es die Suche nach dem Sinn. Und die westlichen Gesellschaften sind auf der Sinnsuche, aber sie haben noch keine Antwort gefunden.

Auf dieser Sinnsuche wird die gesellschaftliche Tonlage schärfer, mitunter verletzend und kalt. Wie nehmen Sie hier im Innenministerium die Stimmung im Lande wahr?

Ich probiere, so oft es geht, aus dem Ministerium, aus der Berliner Blase wegzukommen, indem ich Menschen mit einer ganz normalen Lebenswirklichkeit treffe. Kürzlich war ich bei einer Veranstaltung des Programms „Zusammenhalt durch Teilhabe“. Da waren 350 Ehrenamtliche aus strukturschwachen Regionen. Mit denen habe ich zu Abend gegessen. Und dort erfährt man, dass die hochtourigen Berliner Debatten auch draußen im Land geführt werden. Dass aber viel mehr an Lösungen gearbeitet wird. In Vereinen, Bürgerinitiativen, Plattformen. Daraus ziehe ich die Zuversicht, dass die Menschen die anstehenden Fragen ganz klein, Stück für Stück abarbeiten. Die machen einfach.

54, ist Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Zwischen 2011 bis 2017 war der Wirtschaftswissenschaftler Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Davor arbeitete er als Abteilungsleiter erst im Innen-, dann im Finanzministerium.

Sie sagen: ganz klein. Ich habe das Gefühl, kleiner wird aktuell nur die Bereitschaft, etwas zu tun.

Das glaube ich nicht. In der Gesellschaft, auf der normalen Ebene des Zusammenlebens, tut sich enorm viel. Der Zusammenhalt erwächst da mitunter aus der Not.

Aber es wird definitiv mehr gemosert.

Mag sein, die Gesellschaft ist aufgeregter. Aber sie ist auch eine, in der sich alle mitteilen. Das Dunkelfeld des Meckerns, etwa in der Kneipe, ist einfach im Hellfeld, zum Beispiel online, angelangt. Demokratietheoretisch kann man sagen, dass das eigentlich gut ist, weil die Rückkopplung zwischen Bürger und Politik unmittelbarer ist. Es lässt einen aber auch leicht übersehen, was Leute tatsächlich für die Gemeinschaft leisten. Über Erfolge reden wir alle viel zu wenig.

Stimmungen sind das eine, praktische Politik das andere. Was kann Politik überhaupt tun für unzufriedene Bürger?

Politik muss Probleme schonungslos annehmen und diskutieren. Das ist wie beim Arzt: Schon das Zuhören ist Teil der Heilung. Und Politik muss Lösungen anbieten und den Bürgern zur Wahl stellen. Um mal praktisch zu werden: Wir ringen im Moment um den richtigen Weg, was Zuwanderung anbelangt. Das ist ein heftig geführter Streit, aber er führt im Ergebnis zu einer anderen, wieder stärker diskursiven Politik. Offen streiten – das muss Politik viel mehr machen. Davon hatten wir in den letzten zehn, zwanzig Jahren viel zu wenig.

Im Osten ist die AfD auf dem Vormarsch. In Sachsen war sie stärkste Kraft bei der Bundestagswahl. Warum entziehen gerade die Ostdeutschen den Regierungsparteien ihr Vertrauen?

Ich denke, es gab nach 1990 einen viel zu schnellen Automatismus: Wir wissen, wie es geht – und so läuft’s auch bei euch. Frei nach Bert Brecht: Erst das Fressen, dann die Moral. Wir haben das Fressen geregelt und gehofft, dass dann nicht nach der Moral gefragt wird. Wir haben aber die Wertvorstellung der Menschen in den neuen Bundesländern schlicht ignoriert. Und jetzt gibt es eine politische Bewegung, die dezidiert in diese Lücke rückt und sagt: Nur wir verstehen euch. Das ist natürlich Unsinn.

Es gibt die Theorie, die Ostdeutschen seien bis heute eine sehr große Minderheit, ausgestattet mit Bürgerrechten, die anderen Minderheiten verwehrt sind. Etwa das Wahlrecht. Was sagen Sie, müssen die Ostler noch integriert werden?

Nein, von diesem Ansatz halte ich nichts. Viele bezeichnen ja auch die Bayern als Minderheit: aufmüpfig und mit ganz eigenen Vorstellungen ausgestattet. Tatsächlich aber geht es um regionale Identitäten. Auch die neuen Bundesländer sind doch nicht einheitlich. Sachsen zum Beispiel hat sich immer als eigenständig betrachtet, egal wer gerade regiert hat.

Faktisch sind Ostdeutsche in den Eliten vor Ort unterrepräsentiert. Ob Richter, Landräte, Firmenchefs. Sollte Politik diese Entwicklung beeinflussen?

So was wie Quoten würden da nicht helfen. Was hilft, ist die Betrachtung der Realität. Nach 1990 haben viele Ostdeutschland verlassen, sie sind in den Westen aber auch in die Welt gegangen. Oft ist uns gar nicht bewusst, was die für Erfolge erzielt haben. Dieser Braindrain wirkt sich bis heute nachteilig aus. Zur Fairness gehört aber auch: Gingen die jetzt alle wieder zurück, wäre die Situation der Elitenrepräsentanz dort deutlich positiver.

Warum sollten sie? Das, was anzieht – gut bezahlte Jobs, gute Schulen, gute Infrastruktur, eine tolerante Bürgergesellschaft – finden sie dort nicht. Solange das so ist, bleibt der Osten, bleibt jede Region unattraktiv.

Das ist ein zentraler Punkt dessen, was wir hier im Ministerium zu bewerkstelligen versuchen – allerdings nicht mit einem reinen Fokus auf die neuen Bundesländer. Die haben eher einen Laborcharakter. Wir sehen, dass es nach dreißig Jahren Zentralisierung eine Gegenbewegung gibt. Sechzig Prozent der Deutschen leben in Dörfern und Kommunen bis maximal 100.000 Einwohnern. Das sind fast zwei Drittel aller Deutschen. Wenn wir uns deren Lebenswirklichkeit anschauen, wird die nicht ausreichend beachtet. Da muss die Politik dazulernen.

Ist das die Gleichwertigkeit, die in Ihrer Jobbeschreibung steht?

Ja. In den neuen Bundesländern kommt hinzu: Da gibt es zwar bestens ausgebaute Straßen, aber viel weniger Menschen. Die Daseinsvorsorge selbst – also Schulen, Krankenhäuser, Polizei und so weiter – ist aber angespannt. Das hat gesellschaftliche Folgen und es ist wichtig, politisch mit Dezentralisierung gegenzusteuern.

Das steht ja auch so im Koalitionsvertrag. Und, geht’ s jetzt mal los?

Ich bin guter Dinge, dass wir schon in dieser Woche den Kabinettsbeschluss bekommen, um die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ bilden zu können. Da sitzen dann der Bund, die Länder, Kommunen und die Spitzenverbände an einem Tisch. Das wird etwas Neues sein.

Was ist die Aufgabe dieser Kommission?

Es sind eigentlich vier Aufgaben: Zum einen wollen wir die Indikatoren bestimmen: Was bedeutet überhaupt Gleichwertigkeit? Wir wollen zweitens festlegen, welche Maßnahmen wir brauchen, um diese Gleichwertigkeit herzustellen. Zum Beispiel bei der medizinischen Versorgung auf dem Land. Außerdem wollen wir die Frage beantworten, wie die subjektive Zufriedenheit der Bürger ermittelt werden kann. Es reicht nicht, wenn nur populistische Parteien den Eindruck erwecken, sie würden sich kümmern; das muss Regierungshandeln sein. Und viertens wollen wir genau wissen, was die Bürgerinnen und Bürger denken, was ihre Erfahrungen sind. Um zu erfahren, wie man das Rechtsextremismusproblem in den Griff bekommt, hilft mir beispielsweise die praktische Erfahrung der Feuerwehrleute in Vorpommern oft mehr als ein Beamter hier im Ministerium.

Tja, wenn die Feuerwehrleute dann nicht gerade Runen-Tattoos haben.

Nicht so negativ! Es gibt doch die Gegenkräfte. Und die wissen oft viel besser Bescheid, wo was funktioniert und wo nicht. Wenn wir diese vier Elemente politisch angehen, ist schon mal der Versuch unternommen worden zu zeigen, dass wir uns um gleichwertige Verhältnisse für alle Bürgerinnen und Bürger wirklich kümmern, statt am Ende nur einen dicken Bericht in die Welt zu setzen. Sie werden sehen, das funktioniert.

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