Rassismus in Sachsen: Wurzen ist überall

In Nordsachsen werden Flüchtlinge attackiert, Linke verleumdet und Rechte steuern den Diskurs. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Blick auf den Bahnhof von Wurzen im Vordergrund ein liegender Soldat eines Kriegerdenkmals

Wurzen, Nordsachsen: Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs am Bahnhof Foto: Thomas Victor

WURZEN taz | Dietel ist nicht da. Kretzschmar erhält keinen Applaus. Röglin kommt zum nächsten Pro­gramm­punkt. Drei Männer, ein Abend, eine Geschichte, die ihren Anfang nimmt im Stadtrat Wurzen.

Man trifft sich im Plenarsaal. Helles Holz, dunkle Ölgemälde, viel Platz nach oben. Aus drei Fenstern schaut man auf die Kirche mit ihrem weißen Glockenturm, der weit über Wurzen hinaus­ragt. Draußen schreien Schwalben im Tiefflug. Gegen 18 Uhr füllen ältere Damen und Herren die drei Stuhlreihen für Besucher, zwischen ihnen ein breiter Mann in Schlappen, rotem Shirt und schwarz-goldenem Kragen: ein ehemaliger NPD-Stadtrat.

Oberbürgermeister Jörg Röglin, der Einzige an diesem Abend im Anzug, kommt zu Punkt 11 der Tagesordnung. Auf die Liste gesetzt hat ihn Christoph Dietel, Vorsitzender des Neuen Forums für Wurzen. Eine Bürgerbewegung, die an die AfD erinnert, aber nicht die AfD sein will. In einer Petition fordert Dietel die Streichung der Gelder für das „Netzwerk für demokratische Kultur“ (NDK). Ein Verein, der sich um Geflüchtete kümmert und die Zivilgesellschaft fördern möchte.

Dietels Vorwurf: Das Netzwerk für Demokratische Kultur erwecke bei Einwanderern die falsche Idee, willkommen zu sein, und verleumde die Wurzener: „Darüber hinaus ist der Verein im höchsten Maße für Wurzens Ruf als BRAUNES HERZ DES MULDENTALS verantwortlich.“ Genau so steht es in der Petition, die im Stadtrat ausliegt.

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Alle 26 Abgeordneten – die AfD sitzt nicht im Stadtrat – recken grüne Zettelchen nach oben. „Die Petition ist abgelehnt“, sagt Jörg Röglin, so knapp und routiniert wie ein Richter beim Urteilsspruch. Jens Kretzschmar, Stadtrat der Linken, geht zum Rednerpult, eine braune Box, hinter der er fast verschwindet. Er ist ein schmaler Mann, keiner, der sich gern breit macht. Die Petition richtet sich gegen ihn, Kretzschmar hat das NDK gegründet. Er sagt: „Sie versuchen, Integration in unserer Stadt schlechtzureden, und beschimpfen alle, die etwas damit zu tun haben. Ist das Ihre Vorstellung von Kommunalpolitik?“

Kretzschmar hält eine Rede ins Nichts. Dietel ist nicht aufgetaucht. So ging das in letzter Zeit öfter in Wurzen. Christoph Dietel setzt die Themen, sorgt für Aufregung, und wenn es losgeht, ist er nicht da. Müde Gesichter bei den Abgeordneten. Kein Applaus. Zwei Stadträte klopfen leise auf den Tisch. Die Versammlung kommt zum nächsten Punkt. Ein Abend, wie bestellt und nicht abgeholt.

Mit Nazis Haus an Haus

Wurzen, Landkreis Leipzig, Nordsachsen, im Juni 2018. Das sind Islamgegner, nächtliche Aufmärsche vor Asylunterkünften und Hetze im Netz. Das sind Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten, die immer weiter an den Rand gedrängt werden. Das sind Nachbarn, die seit 25 Jahren mit Nazis Haus an Haus wohnen. Das sind drei Männer im Streit, um eine Stadt, ihre Bewohner und den öffentlichen Diskurs.

Da ist Christoph Dietel, früher Bürgerrechtler, heute wieder auf der Straße gegen das System.

Da ist Jens Kretzschmar, früher Punk, heute „Gutmensch“, noch immer am Stören.

Da ist Jörg Röglin, früher glühender Sozialist, heute ein SPD-Mann, wie eingeklemmt zwischen den Rändern.

Ihr Streit zeigt, was mit der gesellschaftlichen Mitte passiert, wenn die konservativ-bürgerliche Mauer nach rechts zerbröselt, Politik immer lauter wird und Freund-Feind-Denken den Dialog ersetzt. Es ist ein Streit, der nicht nur in Wurzen tobt, nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Deutschland. In Wurzen haben sie nur früher damit angefangen.

Erinnerungen an die 1990er Jahre. In den ersten Jahren der neuen Republik feiern Nazis die Sommersonnenwende im Umland und Führers Geburtstag mit Partys im Jugendclub. Das Innenministerium von Sachsen und der Verfassungsschutz sprechen damals von Wurzen als einer Hochburg des neuen Rechtsextremismus. Von einem harten Kern aus 30 Neonazis und etwa 300 Unterstützern.

Spricht man heute mit Wurzenern über diese Zeit, erzählen sie von jungen Glatzen, die Streife fuhren. Um den Bahnhof rum, fünf Jungs in einem Auto, der Baseballschläger immer dabei. Von Überfällen auf linke Kneipen und dem Obdachlosen, dem sie im März 1996 mit einer Luftdruckpistole das linke Auge rausschossen.

„Multikulti Endstation“

Die Glatzen von früher sind mittlerweile Geschäftsleute. In Wurzen betreiben sie ein Sonnenstudio, eine Autowerkstatt und einen Versandhandel für rechte Musik, der im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes Sachsen als „einer der wichtigsten rechtsextremistischen Vertriebe im Freistaat Sachsen“ gelistet ist.

Wurzen im März 2018: Rund 150 Männer und Frauen versammeln sich auf dem Marktplatz. Die Leipziger Volkszeitung berichtet und druckt Bilder: An einem Baum in der Mitte des Marktplatzes baumeln bunte Ostereier an kahlen Ästen. Ein paar selbst gebastelte Pappschilder: „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. „Multikulti Endstation“. Vor einem Banner des Neuen Forums für Wurzen steht Christoph Dietel, ein kräftiger Mann mit hoher Stimme, die sich überschlägt, wenn er sich aufregt, das Mikrofon in der rechten Hand: „Wir wollen unsere Vaterstadt retten.“ Hinter ihm stehen seine Anhänger wie eine Mauer. Applaus.

Christoph Dietel bei einer Kundgebung auf dem Wurzener Marktplatz

„Wir wollen unsere Vaterstadt retten“: Christoph Dietel bei einer Kundgebung Foto: Frank Schmidt

Im Februar 2018 hat Dietel das Neue Forum für Wurzen gegründet. Ein lockeres Gebinde aus Geschäftsleuten, Handwerkern und Unternehmern. Die beiden Kovorsitzenden sind die führenden Gastronomen der Stadt. Flankiert wird Wurzens bürgerliche Mitte von NPD-­Kadern und Rechtsextremen. Im März stehen sie das erste Mal auf dem Marktplatz. Ende Mai laden sie zur Bürgerstunde, unter Ausschluss der Presse. Auf Face­book hat die Seite 824 Likes.

Der Name der Gruppe bezieht sich auf die Bürgerbewegung der DDR. Christoph Dietel ist damals ganz vorn dabei, ein Bürgerrechtler der ersten Stunde. Für die Meinungsfreiheit, gegen das System. Auch heute scharrt er wieder Leute um sich, nur dieses Mal in einem anderen Lager: „Das, wogegen wir uns ’89 wehren mussten, war weniger gefährlich als das, was jetzt über uns zu kommen droht. Es erfüllt sich der Urtraum des radikalen Islam, Europa zu besitzen!“, warnt er im März auf dem Marktplatz von Wurzen.

Statt der SED jetzt also der Islam. Statt dem Ausländer an sich wie in den Neunzigern die Wirtschaftsflüchtlinge, die sich in das deutsche Sozialsystem einnisten.

Wurzen hat rund 4 Prozent Arbeitslosigkeit, die Häuser sind renoviert, von den Balkonen hängen rote Geranien. Es gibt eine Schwimmhalle, ein Kulturhaus, zehn Kindergärten, vier Grundschulen, mittwochs ist Wochenmarkt.

Steine, Pyros, gelockerte Radmuttern

2014 leben 152 Ausländer in Wurzen. Im September 2015 kommen die ersten Geflüchteten. Asylsuchende aus Eritrea, Syrien und Afghanistan. Viele junge Männer, unbegleitete Jugendliche, Familien. 250 auf rund 17.000 Einheimische. Verschwindend im Vergleich zu anderen Städten und Landkreisen der Republik und doch genug um wiederzubeleben, was lange als verschüttet galt.

Im Februar 2016 demons­trie­ren etwa 100 Leute in der Innenstadt gegen Asylmissbrauch. Eine Facebook-Seite kündigt die Gründung einer Bürgerwehr an. Im Juni 2017 belagern rund 60 Personen ein Haus, in dem Geflüchtete leben. Die Zeitung druckt Fotos: Es zeigt die Demonstranten in kurzen Hosen, Bierflasche locker in der Hand. Freizeitparkstimmung, bis die Polizei räumt. Anfang dieses Jahres gibt es eine Massenschlägerei zwischen Deutschen und Flüchtlingen. Im Februar treten und schlagen zwei vermummte Männer eine Frau aus Eritrea, schwanger im siebten Monat. Im April gibt es einen vermutlich linksextremen Anschlag mit Buttersäure auf die beiden Restaurants der Kovorsitzenden des Neuen Forums für Wurzen.

Und vor sechs Monaten lockern Unbekannte die Radmuttern am Auto von Jens Kretzschmar, dem Gründer des NDK.

Jens Kretzschmar sitzt mit verschränkten Armen an einem Tisch

„Ich fühle mich ein bisschen alleingelassen“: Jens Kretzschmar, Linken-Stadtrat Foto: Thomas Victor

„Das war ja quasi ein Anschlag auf mein Leben“, sagt Kretzschmar, immer noch empört. Das mit den Radmuttern merkte er erst, als er schon unterwegs war. Seitdem steht sein Auto nur noch im Hof, nicht mehr auf der Straße. Seit den 90er Jahren fliegen bei Kretzschmar hin und wieder Steine ins Fenster. Einmal Pyros, beinahe wäre seine Wohnung abgebrannt. Seine Haustüre wurde mit rechtsextremen Parolen plakatiert. „Früher war es schlimmer“, sagt Jens Kretzschmar. Er ist mittlerweile ziemlich geübt darin, Attacken auf sich herunterzuspielen.

Am Morgen nach der Stadtratssitzung sitzt Jens Kretzschmar im Besprechungsraum seines Vereins. Ein weiter Raum, vollgestellt mit Büchern, Schreibtischen, Kartons. Ein Durchgangszimmer, in dem der Durchgang herrscht: Hi Jens. Guten Morgen. Hi Jens. Wie geht’s? Das Netzwerk, gegründet Ende der 90er Jahre, ist ein Ort der Vermittlung zwischen Fremden und Einheimischen und eine Art Watch-Blog der rechten Szene vor Ort. In einer Chronik katalogisiert das Netzwerk alle Taten mit rechtsextremen Hintergrund, seit 2003. Jens Kretzschmar ist Gründungsmitglied und sitzt im Vorstand.

An diesem Morgen wirkt Kretzschmar ein bisschen müde, ein bisschen unkonzentriert. Bevor er Fragen beantwortet, legt er lange Pausen ein. Seine blauen Sneaker scharren unterm Tisch.

Ein alter Diskurs in neuer Auflage

Über die Stadtratssitzung am vorigen Abend ist er nicht glücklich. „Ich fühle mich ein bisschen alleingelassen“, sagt Jens Kretzschmar. Das sagt er sehr vorsichtig. Er will sich nicht beklagen, nicht diejenigen vor den Kopf stoßen, die sich engagieren, nicht die Stadtverwaltung ärgern. Nicht noch mehr Angriffsfläche bieten als ohnehin schon. Kretzschmar, der Störenfried. Der Extreme, der immer ein bisschen zu laut ist und mit dem man sich als gemäßigte Person der Mitte lieber nicht gemeinmachen will.

Auf der Website des Neuen Forums heißt es: Kretzschmar und sein Verein bauschten die Vorfälle in Wurzen auf, um an mehr Fördergelder zu kommen. Die Geschichte geht so: Je mehr rechtsextreme Übergriffe, desto mehr Fördergelder für seinen Verein. Desto mehr Steuergelder, die man den hart arbeitenden Bürgern wegnimmt und Gutmenschen und Sozial­schma­rotzern hinterherschmeißt.

Es ist eine Geschichte, die streut. In die Kneipen, die Straßen, die Politik. Ein Wurzener Stadtrat erzählt vom schlechten Image der Stadt und Kretzschmars übermäßigem Willen, alles ans Licht zu zerren. Das sei schlecht für die Geschäfte.

Am Ende sind es vielleicht doch die gleichen Feinde wie früher, nur unter neuen Namen. Wir gegen die. Ein alter Diskurs in neuer Auflage, der gut funktioniert, nicht nur in Wurzen.

Rund 40 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die deutsche Gesellschaft werde durch den Islam unterwandert und jeder Vierte denkt: Die regierenden Parteien betrügen das Volk.

Der Mensch gewöhnt sich an alles

Innenminister Horst Seehofer schmunzelt über Abschiebungen an seinem Geburtstag und spricht von „Asyltourismus“. Thilo Sarrazin schreibt schon 2010 von Kopftuchmädchen und der Eroberung Deutschlands durch die Türken. Anfang dieses Jahres ist er einer der Erst­un­ter­zeichner der „Gemeinsamen Erklärung 2018“. Eine Petition, aufgesetzt von namhaften Wissenschaftlern, Publizisten und Künstlern, die vor den Gefahren der illegalen Masseneinwanderung für Deutschland warnt. Rund 165.000 Menschen unterschreiben.

Jens Kretzschmar ist in Wurzen aufgewachsen, als Kind war er treuer Sozialist. Im Winter 1989 ging er trotzdem auf die Straße. Da war er 16 und fuhr mit Freunden nach Leipzig. Nach der Wende trugen seine alten Fußballfreunde plötzlich Glatzen und wollten Ausländer und Linke kloppen. Andere waren mit dem Aufbau von verlorenem Wohlstand beschäftigt und hatten keine Zeit für Politik. Kretzschmar wurde Punk, organisierte Konzerte und Demos gegen rechts.

Jörg Röglin mit einem lilafarbenen Hemd am Tisch sitzend

„Wir können die Nazis ja nicht aus unserer Stadt jagen“: Jörg Röglin, Oberbürgermeister von Wurzen Foto: Thomas Victor

Es gibt einen berühmten Satz des ehemaligen sächsischen ­Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf: „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“ Das war nach der Jahrtausendwende, damals war es wieder ruhig geworden. Doch bereits in den wilden Neunzigern sagte der Bürgermeister von Wurzen: „Bei uns gibt’s keine Rechten.“ Das sei natürlich Quatsch gewesen damals, sagt Kretzschmar. „Weg waren die Nazis nie, hat nur keiner mehr hingeschaut.“ Der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an die Nazis von nebenan.

Kommt man im Bahnhof Wurzen an, Gleis 2, und nimmt die Treppen nach unten in den Fußgängertunnel, läuft man an einem kleinen Gedicht vorbei, hingekritzelt an die Tunnelwand. Ein Vierzeiler von Joa­chim Ringelnatz, dem berühmtesten Sohn Wurzens.

„Viel passiert zu allen Zeiten / in der Welt der Kleinigkeiten. / Stimmt bald ernst und stimmt bald heiter.– / So, nun blättre, bitte, weiter.“

Spricht man mit Wurzenern über die Übergriffe auf Geflüchtete, sagen sie: Schlimm, aber woanders ist es doch genauso. Sie sagen: Das sind doch nur Jugendliche, die aneinandergeraten. Oft geht es in diesen Gesprächen um den Einzelfall, selten um das Ganze: die rechten Strukturen in Wurzen, die ungestört wuchern konnten.

Streetwoker, Skatepark, Bürgerfragestunden

„Wir können die ja nicht aus unserer Stadt jagen“, sagt Jörg Röglin, der Oberbürgermeister von Wurzen. Er meint die Glatzen von früher, die jetzt Geschäftsleute sind. Seit 2008 ist Röglin Oberbürgermeister von Wurzen, SPD-Mitglied seit der letzten Bundestagswahl, Anzug­lieb­haber. Er sitzt in seinem Büro hinterm Schreibtisch. Die Wände sind hellblau, im Blau seiner Augen. Während Röglin seine ersten Sätze spricht, tippt er auf seinem Mobiltelefon herum. Er hat es nicht eilig, schon wieder über die Probleme seiner Stadt zu sprechen.

Röglin, 48, und Kretzschmar, 45, sind beide sind in Wurzen aufgewachsen. Während Kretzschmar im Herbst ’89 auf die Straßen geht, ist Röglin Soldat der Nationalen Volksarmee, ein unbeirrbarer Sozialist. Die Wende: eine persönliche Enttäuschung. Er geht in eine Nachbargemeinde, studiert Informationstechnik, kehrt zurück nach Wurzen und wird Oberbürgermeister. Die Stadt ist seine Westentasche, er kennt alle.

Über die Vorfälle in seiner Stadt, die Übergriffe auf Geflüchtete, sagt Röglin: Wir haben ein Problem, aber das haben andere Städte auch. Dass man immer auf Wurzen zeige, das findet er ungerecht. Über das Netzwerk für Demokratische Kultur, Kretzschmars Verein, sagt Röglin: Die machen wichtige Arbeit. Er sagt aber auch: Die tragen zur Frontenbildung bei. Und die will Röglin auf keinen Fall. Deswegen kommt er jetzt auf die gesellschaftliche Mitte Wurzens zu sprechen. Auf diejenigen, die es lieber ruhig haben, die keinen Ärger wollen. Weder von rechts noch von links.

Röglin erzählt von Unternehmern, die sich um Praktikanten und Auszubildende aus Eritrea und Afghanistan kümmern. Von Arbeitskreisen und Bürgerfragestunden zum Thema Integration. Er erzählt von seinem Besuch beim Bürgermeister von Bautzen, der Ähnliches mit seiner Stadt erlebt. Von den Streetworkern, die die Jugendlichen von der Straße holen sollen, vom Skatepark, der gerade gebaut wird.

ein Straßenzug in Wurzen - aus der Vogelperspektive gesehen

In Wurzen sind die Häuser renoviert, es gibt Schwimmbad und Kultur, mittwochs ist Wochenmarkt Foto: Thomas Victor

Man kann Röglin nicht vorwerfen, er sei untätig. Nur, was er nicht sagt: Der Plan für den Skatepark, die Bemühungen um die Jugend, gibt es seit den 1990er Jahren. Schaut man in diese Zeit zurück und dann ins Heute, auf den Marktplatz von Wurzen, auf dem die Mitglieder des Neuen Forums ihre Schilder schwingen, auf die Übergriffe, drängt sich die Frage auf, ob Jugendarbeit wirklich reicht.

Zwei Männer dieser Geschichte suchen die Öffentlichkeit. Dietel taucht unter.

Dietel schreit, eine halbe Stunde lang

Über den Gründer des Neuen Forums für Wurzen und seine Beweggründe etwas herauszufinden, ist schwierig. Einladungen der Stadt und des NDK lehnt er ab. Auf die Anfragen der taz meldet er sich nicht zurück.

Jens Kretzschmar kann sich nicht an einen jugendlichen Dietel erinnern, nicht als Punk und nicht als Glatze. Er kennt ihn erst, seitdem Dietel ihn zum Ziel gemacht hat. Der ehemalige Pfarrer von Wurzen erinnert sich dunkel daran, einen Christoph Mike Dietel als Konfirmanden betreut zu haben. Ein alter Freund Dietels sagt, dass er als Bausoldat diente, irgendwann nach Leipzig zog und am theologischen Seminar studierte. Er erzählt von einem mutigen jungen Mann, der gegen die SED rebellierte.

Es ist auch dieser Freund von früher, der andeutet, dass Dietel Schlimmes mit der Stasi erlebte. Überprüfen lässt sich das nicht. Angesichts von Dietels Position in der Bürgerrechtsbewegung ist es vorstellbar. Was nach der Wende mit dem mutigen jungen Mann passierte und wann er die Abbiegung auf den Wurzener Marktplatz genommen hat, darüber kann man nur spekulieren.

Nach dem Gespräch mit dem Freund von früher meldet Dietel sich doch, am Telefon. Er schreit und klagt an. Eine halbe Stunde lang. Kretzschmar nennt er „das Vieh“. Er warnt: „Wir merken, dass Deutschland zugrunde geht!“ Er fordert: „Niemand soll auf unsere Kosten leben.“ Auf die Frage, warum er einem persönlichen Gespräch aus dem Weg ging, sagt er: „Uns interessiert nicht, was Sie über uns denken.“ Dietel verabschiedet sich mit diesen Worten: „Schreiben Sie doch, ich bin ein Nazi. Mir egal.“

Die Geschichte von Dietel, Kretzschmar und Röglin, der drei Männer und ihrer Stadt, ist keine spektakuläre. Es gibt nicht viel zu sehen. So ist das immer bei Verschiebungen. Meistens bemerkt man sie erst, wenn es zu spät ist. Wie bei Häusern, die plötzlich Risse bekommen. So ist das auch in Wurzen, wo eine rechtspopulistische Minderheit den Rest der Stadt vor sich her treibt und den öffentlichen Diskurs übernimmt. Wo diejenigen, die dagegen protestieren, an den Rand gedrängt werden. Wo die Mitte verstummt.

Angst macht klein

Es sind nicht die Wendeverlierer, die auf dem Wurzener Marktplatz stehen. Es sind Restaurantbetreiber, Selbstständige und Handwerker. Menschen, denen es nicht schlechter geht als in anderen Orten Deutschlands und deren Ängste sie trotzdem auf die Straße treiben. Die Angst davor, das Erarbeitete zu verlieren.

Eine Angst, die so klein macht, dass für Solidarität mit anderen kein Platz mehr ist. Was zählt, ist die eigene Gruppe. So ist das auf dem Marktplatz von Wurzen, dem Altmarkt von Dresden, im Osten Deutschlands genauso wie im Westen. Wir gegen die. Deutschland den Deutschen. Alles wie früher.

Im Stadtrat Wurzen, mit Blick auf den weißen Glockenturm, eröffnet Jens Röglin die Bürgerfragestunde. Der ehemalige NPD-Stadtrat in Schwarz-Rot-Gold, ein schwerer Klotz, schleppt sich ans Mikrofon. Wie es mit der Verkehrsberuhigung vorangeht? Er habe Angst um die Kinder. Und dann ist da noch was: „Die ausländischen Mitbürger spielen Fußball am Busbahnhof und verkaufen Drogen im großen Stil.“ Röglin zieht die Augenbrauen nach oben. Er sieht genervt aus. Müde sagt er: „Da können Sie sich an die Polizei wenden.“ Kretzschmar seufzt, ganz still.

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