Odyssee endet in Spanien

629 Menschen auf einem Schiff im Mittelmeer werden zum Spielball zwischen Italien und der EU. In letzter Minute springt Spanien ein

Aus Madrid und Rom Reiner Wandler undMichael Braun

Am Montagmorgen wurde es für die 629 Menschen an Bord der „Aquarius“ langsam eng. Die Geflüchteten, die vom Schiff der Menschenrechtsorganisationen SOS Mediteranée und Ärzte ohne Grenzen zuvor aus dem Mittelmeer aufgesammelt worden waren, hatten nur noch für höchstens zwei Tage Nahrung, wie SOS Mediterranée über Twitter erklärte.

Am frühen Nachmittag kam dann die rettende Nachricht: Spanien hat sich bereiterklärt, die Flüchtlinge aufzunehmen. Das gab die neue Regierung des Sozialisten Pedro Sánchez bekannt. Die Initiative kam aus der Stadt Valencia, wo das linksalternative Bündnis Compromis zusammen mit den Sozialisten regiert. Der sozialistische Ministerpräsident der Region Valencia stimmte dem zu und sprach bei Sánchez vor. Zuvor hatte sich Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau bereits angeboten, aus Madrid jedoch keine Antwort erhalten.

Die Stadt Valencia hatte sich in der Vergangenheit – ebenso wie Barcelona und Madrid – mehrmals angeboten, Flüchtlinge aufzunehmen. Doch der bei einem Misstrauensvotum gestürzte konservative Vorgänger von Sánchez, Mariano Rajoy, hatte sich immer wieder geweigert. Als die EU 2015 Aufnahmequoten für Flüchtlinge vereinbarte, erklärte sich Spanien bereit 17.387 Betroffene zu akzeptieren. Bisher erfüllte das Land nur etwas mehr als 14 Prozent dieser Quote.

Bürgermeister Joan Ribó bezeichnete Valencia als „Zufluchtsstadt“. Es sei „absolut unmenschlich, ein Schiff in dieser Situation treiben zu lassen“. Die „Aquarius“ darf damit im Hafen von Valencia anlegen. Die Stadtverwaltung unter Ribó will Unterkünfte bereitstellen. Die Spanier haben das Drama um das Rettungsschiff seit den frühen Morgenstunden live mitverfolgt. Denn an Bord befindet sich eine Journalistin des öffentlichen, spanischen Radios RNE.

Zuvor war das Rettungsschiff „Aquarius“ zwischen Sizilien und Malta ziellos gekreuzt. Italien hatte dem Schiff aus Bremerhaven die Einfahrt in einen seiner Häfen verweigert. Innenminister Matteo Salvini, zugleich Chef der rechtspopulistisch-rassistischen Lega, traf diese Entscheidung mit dem Argument, der nächste sichere Hafen sei Malta. Die maltesische Regierung lehnte jedoch ihrerseits die Einfahrt der „Aquarius“ ab mit dem Argument, deren Rettungseinsätze seien vorher von der Leitstelle der italienischen Küstenwache organisiert worden.

„Es ist absolut unmenschlich, ein Schiff in dieser Situation treiben zu lassen“

Joan Ribó, Bürgermeister von Valencia

Die Flüchtlinge stammen aus 23 Nationen, von Marokko über den Sudan bis nach Pakistan. Sie wurden am Wochenende gerettet, 229 direkt von der „Aquarius“, die anderen 400 wurden auf Anweisung der Küstenwache von anderen Schiffen übernommen. Pikant dabei ist, dass die Küstenwache die „Aquarius“ auch zur Übernahme von Menschen aufforderte, die sich auf einem Schiff der italienischen Marine befanden – am Sonntagabend aber wurde der „Aquarius“ dann mitgeteilt, die italienischen Häfen seien für sie gesperrt.

Salvini will damit die radikale Wende in der Flüchtlingspolitik durchexerzieren, an die er seinen Namen gebunden hat. Von einem echten Notstand kann gegenwärtig aber nicht die Rede sein. Während im Jahr 2017 vom 1. Januar bis zum 31. Mai 60.000 Flüchtlinge eintrafen, waren es im selben Zeitraum dieses Jahrs nur noch etwa 13.000 – ein Rückgang von fast 80 Prozent. In seinen Aufnahmeeinrichtungen hat das Land deshalb gegenwärtig noch Plätze frei.

Worum es Salvini geht, machte er mit einem Twittereintrag deutlich, mit dem er den Hashtag „Wir schließen die Häfen“ (#chiudiamoiporti) lancierte. „Im Mittelmeer gibt es Schiffe unter niederländischer, spanischer und britischer Flagge, deutsche und spanische Nichtregierungsorganisationen, und da ist Malta, das niemanden aufnimmt“, schrieb er auf Twitter. „Frankreich weist Flüchtlinge zurück, Europa schert sich nicht darum. Basta. Menschenleben zu retten ist eine Pflicht, nicht aber, Italien in ein enormes Flüchtlingslager zu verwandeln. Italien hat aufgehört, den Kopf zu senken und zu gehorchen, jetzt gibt es jemanden, DER NEIN SAGT.“

Mit seiner Entscheidung, die italienischen Häfen zu schließen, überschritt Salvini allerdings seine Kompetenzen, denn eigentlich wäre dafür der Minister für Infrastruktur und Verkehr zuständig, Danilo Toninelli, der zur Fünf-Sterne-Bewegung MS5 gehört. Der stellte sich zwar in einer gemeinsamen Erklärung mit Salvini hinter den Beschluss, doch in den Reihen der Fünf Sterne ist das Unbehagen unübersehbar.

Erst mal gerettet: Samstagnacht an Bord der „Aquarius“ Foto: Kenny Karpov/ SOS Mediterranee

Dies zeigte sich angesichts einer Protestaktion der Bürgermeister von Neapel, Reggio Calabria, Tarent, Messina und Palermo. Sie hatten erklärt, ihre Häfen stünden weiterhin Flüchtlingsschiffen offen. Unterstützung bekamen sie von Filippo Nogarin, dem aus den Reihen des M5S stammenden Bürgermeister von Livorno. Dieser ließ verlauten, er verstehe, „dass man Europa ein Signal geben will, aber nicht auf Kosten von Hunderten Männern, Frauen, Kindern. Wir sind bereit, im Hafen von Livorno das Schiff „Aquarius“ mit seiner Last von 629 Menschenleben aufzunehmen“.

Auch die EU-Kommission hatte Italien und Malta dazu aufgerufen, den Flüchtlingen an Bord des Rettungsschiffs „Aquarius“ im Mittelmeer zu helfen. „Für die Kommission zählt an erster Stelle ein humanitärer Imperativ. Wir reden hier über Menschen“, sagte ein Sprecher der Behörde am Montag in Brüssel. „Die Priorität sowohl der italienischen als auch der maltesischen Behörden sollte sein, sicherzustellen, dass diese Menschen die Hilfe erhalten, die sie brauchen.“ Alle Seiten sollten zu einer raschen Lösung beitragen und dafür sorgen, dass die Menschen sicher und so schnell wie möglich von Bord könnten.

An Bord der „Aquarius“ befinden sich unter anderem sieben Schwangere, elf Kinder und 123 Minderjährige ohne Begleitung. Laut SOS Méditerranée gibt es keine akuten medizinischen Notfälle, doch viele seien dehydriert und von der Überfahrt in den Schlauchbooten geschwächt.