Sozialämter und Obdachlose: „Täglich Recht gebrochen“
Armutsforscherin Susanne Gerull spricht über den Umgang mit Wohnungslosen. Sie sagt: Der Staat verstößt gegen seine Unterbringungspflicht.
taz: Frau Gerull, die Sozialämter fühlen sich in der Regel nicht zuständig für Wohnungslose aus anderen EU-Ländern. Sie sehen das anders?
Susanne Gerull: Es passiert immer wieder, dass Sozialämter wohnungslose Menschen wegschicken und sagen: „Wir haben gerade nichts, wir können euch nicht unterbringen.“ Das gilt übrigens nicht nur für wohnungslose EU-Bürger; diese sind nur in den Medien gerade sehr präsent.
Die Sozialämter dürften aber niemanden wegschicken?
Die Rechtslage ist klar: Wir haben in Deutschland – übrigens ziemlich einmalig in Europa – eine Unterbringungspflicht des Staats. Wenn jemand unfreiwillig wohnungslos ist und das erklärt, muss er oder sie am selben Tag untergebracht werden.
55, ist Professorin für Soziale Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule. Schwerpunkte ihrer Arbeit: Armut und Wohnungslosigkeit. Sie ist Mitglied im Arbeitskreis Wohnungsnot Berlin und bei der Landesarmutskonferenz. Bis 1999 hat sie 15 Jahre in der sozialen Wohnhilfe der Sozialämter Mitte und Wedding gearbeitet.
In welchem Gesetz steht das?
Die Unterbringungspflicht ergibt sich aus den Ordnungsgesetzen der Bundesländer, bei uns in Berlin dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog). Und diese Rechtsnorm ist in keiner Weise eingeschränkt, auch nicht auf Nationalität oder Aufenthaltsstatus.
Trotzdem wird das gerade bei Wohnungslosen aus anderen EU-Ländern anders gehandhabt.
Die Unterbringungspflicht kollidiert natürlich damit, dass diese Menschen in den meisten Fällen keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Und da sagen die Sozialämter immer wieder: „Wir können euch in Notunterkünfte schicken. Aber wenn die voll sind, dann können wir nichts tun, weil ihr keinen Anspruch auf eine Erstattung der Kosten der Unterkunft habt.“ Das ist eine falsche Logik und rechtswidrig. In den Sozialämtern wird täglich Recht gebrochen, wenn wohnungslose Menschen – welcher Nationalität auch immer – ohne Unterkunftsnachweis weggeschickt werden.
Was müssten die Sozialämter tun?
Es kollidieren wie gesagt zwei Rechtsnormen miteinander, und die Sozialämter haben ein Abrechnungsproblem. Mir tun die Mitarbeiter da auch leid, ich habe selbst 15 Jahre im Sozialamt gearbeitet. Aber wenn alle Notunterkünfte voll sind, müssen sie eine andere Unterkunft finden. Im Zweifelsfall, so hat es mein damaliger Amtsleiter immer formuliert, muss das Sozialamt die Präsidentensuite im Adlon mieten, wenn alles andere belegt ist.
Zahlen Genaues weiß niemand. Zwischen 30.000 und 40.000 Wohnungslose gibt es nach Schätzungen der Sozialverwaltung und den Wohlfahrtsverbänden in Berlin, doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Rund 6.000 von ihnen sind obdachlos. Weit mehr als die Hälfte der Obdachlosen, so die Schätzung der Wohlfahrtsverbände, kommt aus anderen EU-Ländern.
Hilfen Für die Unterbringung von Wohnungslosen gibt es Wohnheime, ganzjährige Notunterkünfte, betreutes Einzel- oder Gruppenwohnen und Wohnungen im geschützten Segment, die von den landeseigenen Wohnungsgesellschaften bereitgestellt werden. In Einzelfällen zahlen die Behörden auch Hostels oder Pensionen. Von Anfang November bis Ende März gibt es zudem die Notunterkünfte der Kältehilfe. Dort kann man aber in aller Regel lediglich die Nacht verbringen.
Und wer zahlt das dann?
Na, trotzdem das Sozialamt. Aber eben nicht von dem Geld für Unterkunft. Die Notunterkünfte, die ordnungsrechtlich zur Verfügung gestellt werden müssen, werden ja auch aus einem anderen Topf bezahlt.
Theoretisch müssten abgewiesene Wohnungslose klagen.
Da gilt leider wie bei vielen Ansprüchen wohnungsloser Menschen unabhängig von der Nationalität: Wo kein Kläger, da kein Richter. Das wissen die Sozialämter auch. Es gibt aber entsprechende Fälle, in denen Menschen zur Rechtsantragsstelle gegangen sind und eine einstweilige Anordnung auf Unterbringung erwirkt haben. Natürlich ist das nur ein verschwindender Bruchteil. Theoretisch sollten die Notunterkünfte entsprechend beraten. Aber wie viele Angestellte müsste man haben, um mit jedem zur Rechtsantragstelle zu gehen und das durchzusetzen?!
Und wie sieht die Lösung aus?
Man müsste die Politik stärker in die Verantwortung nehmen. Jetzt hat ja gerade die linke Sozialsenatorin für eine erhebliche Erhöhung der Finanzen im neuen Haushalt für die Wohnungslosenhilfe gesorgt und versprochen, mehr Notunterkünfte zu schaffen.
In Notunterkünften wird tageweise untergebracht, häufig nur über Nacht. Das ist doch keine Perspektive für wohnungslose Menschen.
Die Unterbringungspflicht bezieht sich erst einmal nur auf eine Notsituation. Es muss dann geprüft werden, ob hier eine Bleibeperspektive besteht und ob es nicht vielleicht am früheren Wohnort sogar noch eine Wohnung gibt.
In Rumänien, Polen oder Bulgarien? Mit Verlaub, das ist doch unrealistisch.
Ja, das sind alles Probleme, die von den Ämtern allein nicht zu lösen sind. Wir können hier in Berlin nicht die Probleme aller Wohnungslosen lösen. Die Armutsmigration innerhalb der EU hat eine politische Dimension, die nicht einmal von der Bundesrepublik allein bewältigt werden kann. Das geht nur auf EU-Ebene.
Und was kann Berlin da tun?
Erst einmal kitten. Nachdem jahrelang trotz aller Warnungen eine kommende Wohnungsnot geleugnet wurde, müssen jetzt erst einmal Notunterkünfte geschaffen werden.
Schon ganz kleine Einrichtungen mit wenigen Zimmern haben es schwer, bezahlbare Räume zu finden. Am Ende werden die jetzt im Haushalt vorgesehenen zusätzlichen 6 Millionen Euro für die Wohnungslosenhilfe tatsächlich für Hotelzimmer ausgegeben.
Das kann nicht der Sinn der Sache sein. Es geht jetzt zum Glück endlich voran mit der Entwicklung einer gesamtstädtischen Strategie. Berlin hat da jede Menge nachzuholen: etwa die Erstellung einer Wohnungslosen- und Obdachlosenstatistik – wir wissen ja gar nicht, wer auf Berlins Straßen lebt. Dann mauern die Gesundheitsbehörden immer bei der Unterbringung psychiatrisch auffälliger Obdachloser und behaupten, da wäre die Obdachlosenhilfe zuständig. Und die Jugendhilfe behauptet, für junge Erwachsene ab 18 Jahren wäre sie nicht mehr zuständig – was so auch nicht stimmt. Außerdem müssen wir mit der Bausenatorin darüber reden, woher wir bezahlbare Wohnungen für Hartz-IV-Empfänger bekommen, wenn die auf dem freien Wohnungsmarkt nichts mehr finden. Es müssen alle an einen Tisch, um Lösungen zu finden.
Glauben Sie an grundlegende Veränderungen?
Ich bin verhalten optimistisch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber ich habe auch nur noch zehn Jahre bis zur Pensionierung und bin mir nicht sicher, dass ich einen nachhaltigen Umgang mit drohender und akuter Wohnungsnot in meiner aktiven Zeit noch erleben werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung