Referendum in Katalonien: Mit Gewalt gegen die Wähler
Die Polizei stürmt Schulen und feuert Gummigeschosse auf Katalanen. Zurück bleiben Hunderte Verletzte und gegenseitige Schuldzuweisungen.
Die Polizei wollte genau diese Abstimmung verhindern, denn das Verfassungsgericht in Madrid hat das Referendum auf Drängen der Zentralregierung des konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy verboten. Der Chef der Partido Popular (PP) verkündet seither, alles zu tun, um das Referendum zu verhindern. „Es war wie zu Zeiten der Franco-Diktatur“, sagt der Alte. Er kann es einfach nicht glauben. Alles sei so friedlich gewesen.
Dolores Hernández steht dabei und zückt ihr Handy. Sie zeigt ein Video nach dem anderen. Die Beamten drängeln, knüppeln, treten, bis sie schlussendlich in die Schule eindringen können. Dort beschlagnahmen sie vier der insgesamt sechs Urnen. Die restlichen beiden konnten von den Wahlhelfern rechtzeitig versteckt werden. Die 55-jährige Hausfrau hat ein Dutzend Videos gesammelt. Von Schulen in ganz Katalonien. Mancherorts – wie in Barcelona – schießt die Polizei sogar mit Gummigeschossen. Und das, obwohl dies in Katalonien seit 2014 verboten ist, nachdem eine junge Frau bei einer Demonstration ein Auge verloren hatte.
„Mich haben sie in den Würgegriff genommen“, sagt Hernández. Andere Umstehende haben Fotos: Ein Mann mit blutüberströmtem T-Shirt, eine ältere Dame, die von der Polizei weggeschleppt wird, eine andere mit eine Platzwunde am Kopf. Mindestens vier Menschen mussten hier in der Schule Mediterrània zur Behandlung ins Krankenhaus. Die katalanische Regierung spricht von weit über 400 Verletzten in ganz Katalonien.
Die Brutalität der Polizei
„Die stürmten, als ständen sie unter Drogen“, erklärt Tochter Vinaber. Die 48-jährige Sekretärin berichtet, wie die Autonomiepolizei versuchte, sich zwischen Wähler und spanische Nationalpolizei zu stellen und dabei selbst Knüppel abbekommen hat. „Ich habe so was noch nie erlebt“, sagt sie. Sie kenne solche Polizeibrutalität nur von ihrem Vater, wenn dieser aus der Zeit der Diktatur und den Jahren des Übergangs zur Demokratie Ende der 1970er erzählt.
„Das ist keine Demokratie“, sind sich alle Anwesenden in der Schule einig. Es sollte heute ihr Tag werden, friedlich und festlich. Das ganze Wochenende hatten Eltern die Schule hier in Barceloneta – wie auch anderswo – besetzt, um zu verhindern, dass die Polizei sie versiegelt. „Wir wollen kein Mitleid“, sagt Araceli Vinaber, „wir wollen das Recht, über unsere Zukunft selbst zu entscheiden.“
Die Einheiten der Nationalpolizei und der Guardia Civil, die für die Einsätze verantwortlich zeichnen, wurden in den vergangenen Tagen eigens nach Katalonien verlegt. Sie sind unweit der Barceloneta im Chemiehafen in zwei Kreuzfahrtschiffen untergebracht. „Sie müssen nur aus dem Hafen und zweimal abbiegen, schon sind sie hier“, erklärt sich Rentner Vinaber, warum es die Schule an der Uferpromenade wohl als Erste traf.
Schlange stehen
Mittlerweile stehen die beiden verbliebenen Urnen auf einem Tisch. Auf dem Stimmzettel gilt es „Ja“ oder „Nein“ zu einer unabhängigen Republik Katalonien anzukreuzen. Hinter den Urnen sitzen jeweils ein Wahlleiter und zwei Beisitzer.
Rund Tausend Menschen stehen in einer ewig langen Schlange geduldig an. Es geht langsam vorwärts. Es ist heiß und stickig auf dem Flur der Schule. „Es herrscht ein Cyberkrieg, wir haben immer wieder Aussetzer, wenn wir auf die Datenbasen mit dem Wählerregister zugreifen“, erklärt der junge Verantwortliche für die beiden Schulen in der Barceloneta, in denen gewählt werden kann. Um seinen Hals trägt er ein Schild, dass ihn als Vertreter der Autonomieverwaltung ausweist. Doch seinen Namen will er lieber nicht gedruckt sehen. Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, alle Wahlhelfer strafrechtlich zu verfolgen, wie mehrere Regierungsmitglieder und über 700 Bürgermeister, die das Referendum unterstützen.
Die Menschen rufen immer wieder „Wir werden wählen“ und halten sich so bei Laune, obwohl es längst Mittagsessenszeit wäre. „Ich habe noch nie so lange Schlangen gesehen, bei keiner Parlamentswahl oder Autonomiewahl“, sagt einer derer, die anstehen. Insgesamt öffneten 73 Prozent der 3.215 Wahllokale, erklärte der Sprecher der katalanischen Regierung.
Wie geht es weiter?
Der katalanische Autonomiepräsident sprach, nachdem er seine Stimme abgab, von „dem unverantwortlichen, irrationalen und völlig maßlosen Einsatz der Gewalt“. „Damit ist alles gesagt. Diese Schande wird sie ewig begleiten“, fügte er mit ernster Mine hinzu. Puigdemont musste im letzten Augenblick das Wahllokal wechseln, nachdem das in seinem Stadtteil von der paramilitärischen Guardia Civil besetzt worden war. Vizepräsident Oriol Junqueras wurde von Feuerwehrleuten eskortiert, die ihn vor der Polizei schützen sollten. Wie es am Tag nach dem Referendum weitergehen werde, darüber schwiegen sich die beiden aus.
„Es hat kein Referendum gegeben“, antwortete ihm aus Madrid die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Sanz de Santamaría. Die Polizeieinsätze seien „verhältnismäßig“ gewesen. Die Regierung der konservativen PP habe wie immer „die Freiheiten“ verteidigt. Der Generalsekretär der sozialistischen PSOE, Pedro Sánchez, der das repressive Vorgehen der Regierung im Vorfeld der Abstimmung verteidigte, schwieg bis zum Nachmittag. Erst dann sprach er von einem „traurigen Tag“ und forderte „Gelassenheit und Dialog“.
Das Referendum in Katalonien
Die einzige politische Kraft außerhalb des Lagers der Befürworter der Unabhängigkeit, die hart mit Rajoy in Gericht ging, ist die linksalternative Podemos. „Was die PP mit unserer Demokratie macht, widert mich an. Korrupte, Heuchler, Nichtsnutze“, twitterte er bereits nach den ersten Polizeiübergriffen. Wohl am meisten Aufsehen erregte: Der FC Barcelona sagte erst sein Ligaspiel gegen Las Palmas ab. „Aus Würde und Solidarität mit der Bevölkerung Kataloniens können wir heute nicht spielen“, heißt es auf Twitter. Las Palmas hatte erklärt, in einem Trikot mit der spanischen Fahne anzutreten. Später stand fest: Das Spiel findet doch statt, nur ohne Zuschauer.
Die Schlange vor der Schule in der Barceloneta wird nicht kürzer. Immer neue Menschen stellen sich geduldig an. „Was mich am meisten ärgert, die Europäische Union dreht uns den Rücken zu. Das haben sie schon immer so gemacht. Im Balkan, bei der Syrienkrise“, erklärt Araceli Vinaber, die, obwohl sie ihre Stimme längst abgegeben hat, einfach nicht nach Hause will.
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