Aus der Perspektive der Feuerbestattung

Das Krematorium Wedding, heute ein pulsierendes Kulturquartier, spiegelt auf besondere Weise Stadtgeschichte. Jutta von Zitzewitz hat sie für ihr Buch „Silent Green“ recherchiert

Sachlich genug im Reformstil: Blick auf das ehemalige Krematorium Wedding Foto: Rainer Jensen/dpa/picture alliance

Von Sophie Jung

In den Neunzigerjahren glühten sie kurzzeitig auf einer noch zu schreibenden Karte Berlins auf, die Kunsträume und Subkulturtempel in den brachliegenden Industriegebäuden der Stadt. Diese Zeit ist längst ein Mythos, Eigentum und Mietzins ziehen nun die Linien auf dem Stadtplan. Seit einigen Jahren aber lassen sich erneut Initiativen in leer stehenden Bauwerken nieder. Das Silent Green in Wedding ist seit 2013 eine dieser unabhängigen Kultureinrichtungen, die – diesmal unter geklärten Besitzverhältnissen – der freien Szene ein Quartier bieten.

Dieser Ort ist besonders. Errichtet wurde er als Krematorium und Urnenhalle. 1911 das erste Krematorium Berlins, 1927 das modernste Europas. In den vielen übereinander gereihten Rundnischen, die heute entlang der 17 Meter hohen Kuppelhalle eine imposante Kulisse für Konzerte bilden, standen einst Hunderte Urnen.

In der Monografie „Silent Green. Vom Krematorium zum Kulturquartier“ arbeitet die Berliner Kunsthistorikerin Jutta von Zitzewitz die Geschichte dieses Bauwerks auf, von seinen Anfängen in der Krematistenbewegung des späten 19. Jahrhunderts bis zu seiner Schließung 2003 im wiedervereinten Berlin. In den bewegten Werdegang des Gebäudes fädelt sie Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Gesellschaftsgeschichte ein und bildet so schließlich ein ganzes Jahrhundert aus der ungewöhnlichen Perspektive der Feuerbestattung ab.

Die Biografie dieses Baus beginnt politisch. Denn zwischen den Befürwortern und den Gegnern der Feuerbestattung formte sich Anfang des 20. Jahrhunderts eine gesellschaftliche Frontstellung.

Es waren die Avantgarde und die Arbeiterschaft, die mit der Kremation eine technische und hygienische Moderne vorantrieben und die Einäscherung als ein Bekenntnis zur Selbstbestimmung sahen. Ihnen stand ein konservatives Establishment Preußens gegenüber, das den „gottfernen Materialismus“ der Leichenverbrennung verurteilte.

Mit dem Krematorium traf man den Nerv einer Zeit, in der auch der Tod politisch war

Nur unter schikanösen Auflagen konnte der Verein der Feuerbestatter das erste Berliner Krematorium 1911 eröffnen. Doch er traf den Nerv einer Zeit, in der auch der Tod politisch war: Bereits 1912 musste wegen hoher Nachfrage ein zweiter Brennofen installiert werden. „Endlich ist Berlin unter die hochkultivierten Städte getreten“, kommentierte die liberale Presse. Bis 1927 hatten sich 50.000 Personen in Wedding einäschern lassen, darunter der Gründer der Dresdner Bank Eugen Gutmann oder die Frauenrechtlerin Ottilie Baader.

Die Neuartigkeit dieser Bestattung zeigt sich auch in der Suche des Architekten William Müller, für das erste Berliner Krematorium ein gebührendes künstlerisches Vokabular zu finden. Müller wollte eine eigenständige Architektur entwickeln, die weder religiös noch traditionslos war. Mit der oktogonalen Urnenhalle griff er schließlich auf den bekannten frühchristlichen Zentralbau zurück, setzte den Typus aber im damals progressiv sachlichen Reformstil um. Auch Müllers Bildprogramm für den Bau sollte einer lesbaren Ikonografie entspringen, ohne auf Eindeutigkeit bei den Skulpturen aus zu sein – wie jene Urnenträgerin überm Portal, die zwischen Maria, byzantinischer Madonna und Allegorie anzusiedeln ist.

Im Vergleich zu der starken Symbolik des Architekten Wilhelm ten Hompel, der das Krematorium 1937 im Sinne der NS-Ideologie zu einer Kultstätte umwandelte, wirken Müllers bildliche Setzungen allerdings zaghaft. Noch heute sind Hompels schmiedeeisernen Flammenschalen als Sinnbild einer „alten, urgermanischen Sitte“ im Silent Green zu sehen. Unterm Hakenkreuz wurde die Feuerbestattung zur „Feuerehrung“.

Die Nationalsozialisten hatten ein tief gespaltenes Verhältnis zur Kremation. Einerseits sakralisierten sie die Einäscherung als arischen Brauch, andererseits degradierten sie sie zum rationalen Mittel der Massenvernichtung. Diese Schizophrenie arbeitet von Zitzewitz deutlich heraus, wenn sie ihren kunsthistorischen Analysen zur Bauphase 1937 Recherchen zu NS-Opfern gegenüberstellt, die ebenfalls in dem Krematorium eingeäschert wurden. Berühmte Regimegegner, etwa der aufgrund seiner KZ-Haft verstorbene Carl von Ossietzky oder der exhumierte Leichnam Graf von Stauffenbergs wurden hier für die Nachwelt regelrecht vernichtet. Auch die Unbekannten will die Autorin nennen. So taucht der Werkzeugmacher Paul von Essen auf. Während der Köpenicker Blutwoche 1933 wurde er von der SS ermordet und ebenfalls in Wedding eingeäschert, ehe die Familie von seinem Tod erfuhr.

Angesichts des gewaltigen Missbrauchs der Feuerbestattung durch die Nationalsozialisten verblüfft, wie unkritisch im Nachkriegsdeutschland weiterhin eingeäschert wurde. Offenbar ohne einen üblen Beigeschmack zu erkennen, kündigte 1950 der Bezirk Wedding in einer Pressemitteilung stolz seine 225.000ste Leichenverbrennung an. In den Neunzigern erlangte die Massenabfertigung einen Höhepunkt, als das Krematorium mit einer Vollautomatik ausgestattet wurde und fortan die Technik die Einäscherungen vollständig übernahm.

Ungewöhnliche Kunst an ungewöhnlichem Ort: Blick ins Silent Green Kulturquartier Foto: Amélie Losier

Der rationale Umgang mit dem Tod ist Wert und Übel der Feuerbestattung. Jacob Grimm lobte 1850 die Effizienz und Sauberkeit der Einäscherung als zivilisatorische Errungenschaft. Doch über den steten Pragmatismus, der in Wedding bis hin zu einer maschinellen Abrichtung Verstorbener auch nach 1945 forciert wurde, wundert sich selbst die sehr sachlich schreibende Jutta von Zitzewitz. So zitiert sie zustimmend einen anonymen Autor aus dem Kurier von 1950, „die Einäscherungsquoten“ doch nicht „in derselben Weise zu behandeln wie den 50.000 Autobus, der vom Fließband rollt“.

Heute setzen die zwei Initiatoren des Silent Green einen Twist an diese sensible Stelle in der Geschichte des Krematoriums. Den Namen Silent Green, so Bettina Ellerkamp und Jörg Heitmann in einem abschließenden Interview mit der Autorin, haben sie dem Science-Fiction-Film „Soylent Green“ entnommen, in dessen postapokalyptischer Welt man sich von grüner Trockennahrung aus verarbeiteten Leichen ernährt.

Doch wandeln sie ihr Kulturquartier in ein „Silent Green“, ein „Stilles Grün“, ab, womit sie die wechselvolle Geschichte dieses besonderen Ortes mit mutiger Ironie, aber auch Respekt, umdrehen.

Jutta von Zitzewitz: „Silent Green. Vom Krematorium zum Kulturquartier“. Deutscher Kunstverlag, 244 Seiten, 14,90 Euro