: „Sachverhalte nicht zukleistern“
PERSPEKTIVEN Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Knöbl über die Frage, was sich eigentlich hinter dem Begriff „Populismus“ verbirgt. Seiner Ansicht nach wird das Etikett „Populist“ viel zu oft dazu benutzt, sich vor der Debatte wirklicher Probleme zu drücken
Interview Jan Feddersen
taz: Herr Knöbl, die AfD wird in den nächsten Bundestag einziehen, eine rechts von der Union verortete Partei, die meist als rechtspopulistisch begriffen wird. Generell: Was müssen wir uns eigentlich unter Populismus vorstellen?
Wolfgang Knöbl: Wenn man sich die Geschichte der sozialwissenschaftlichen Debatte hierzu anschaut, findet man keine einheitliche Definition. Es gibt Linkspopulismen, es gibt Rechtspopulismen. Der Linkspopulismus in Lateinamerika funktioniert ganz anders als der Populismus, den es sehr viel früher, nämlich um 1880, in den USA gab oder aktuell wieder mit Trump gibt. Und auch die populistischen Parteien in Osteuropa sind zum Teil anders gestrickt als diejenigen in Westeuropa.
Populistisch sind offenbar immer die anderen.
Das ist das altes Stichwort von Ralf Dahrendorf: Des einen Populisten sind des anderen Demokraten.
Ist ein Populist wenigstens jemand, der Fake News verbreitet, der ideologisch zündelt, der aufwiegelt und giftelt, wie das vielfach an der AfD beobachtet werden kann?
Ich stoße vermutlich auf wenig Widerstand mit der These, dass es auch fragwürdige Aussagen aufseiten etablierter Parteien gibt. Wir alle kennen die Wahlkämpfe, wir kennen merkwürdige Äußerungen von Politikern auch dieser Parteien. Warum man das dann als populistisch bezeichnen muss, weiß ich nicht. Man kann es als populistisch bezeichnen.
Haben Sie ein Beispiel?
Von der Behauptung, die Wiedervereinigung sei mehr oder minder aus der Portokasse zu bezahlen, bis hin zu dem Satz Helmut Kohls, im Osten Deutschlands entstünden binnen wenigen Jahre blühende Landschaften. In jeder Partei gibt es Beispiele von Äußerungen, die populistisch genannt werden könnten. So oder so: Wenn in den Wissenschaften so getan wird, als bezeichne Populismus eine klare Kategorie, ist das falsch. Es würde eher helfen, wenn man sagt: eine Position ist rassistisch, menschenverachtend, verlogen oder falsch. Ich habe den Eindruck, dass durch die generelle Kennzeichnung einzelner Personen oder Äußerungen als populistisch die wirklichen Probleme in den Hintergrund gedrängt werden.
Ein Differenzierungsproblem?
Leider wird nicht mehr differenziert zwischen den Leuten, die tatsächlich brutale Nazis und Rassisten sind, und denen, die nur ein merkwürdiges Weltbild haben, von denen es aber immer welche gegeben hat und die es, vermutlich auch in Zukunft, immer geben wird. Sozialwissenschaftler, Journalisten und auch Politiker sollten nicht mit Begriffen hantieren, die Sachverhalte zukleistern.
Was unterscheidet einen Populisten von einem leidenschaftlichen Demokraten, wie Willy Brandt einer war? Der wusste ja auch sehr wohl zuzulangen in Wahlkämpfen. Müssen nicht auch Volksparteien vereinfachen?
Volksparteien haben ein breites Wählerspektrum und zielen auf dieses ab.
Und aus diesem Grund allein sind sie zu Vereinfachungen gezwungen?
Wahlkämpfe sind keine soziologischen oder politologischen Seminare. Problematisch wird es erst dann, wenn jemand glaubt, dass seine eigenen Vereinfachungen tatsächlich die Realität sind und nicht mehr nur vereinfachte Darstellungen. Bei Willy Brandt war es eher so, dass man das Gefühl hatte: Natürlich simplifiziert er. Dennoch hatte er die Ausstrahlung eines intellektuellen Menschen mit beeindruckender Biografie, der allein deshalb schon wusste, wie kompliziert die Dinge eigentlich sind. Und auch das Publikum ahnte das, weil er als Kanzlerkandidat enorme Erfahrungen als Regierender Bürgermeister von Westberlin vorweisen konnte.
Richtig verstanden: Ein Nichtpopulist, der um die Komplexität in einer pluralen Gesellschaft weiß, ist sich auch der Limitiertheit seines eigenen politischen Tuns bewusst?
Ja.
War es populistisch, wenn jemand wie Oskar Lafontaine sagt: Deutsche Arbeitsplätze zuerst für die hier Lebenden, die Deutschen?
Mir persönlich erschien diese Äußerung insofern problematisch, als ich nicht genau sehe, wie die Migrationsbegrenzung zur Schaffung oder Bewahrung von Arbeitsplätzen für Deutsche sorgt. Ich würde Lafontaine jedoch in anderer Hinsicht verteidigen.
Bitte!
Er erwähnte zu Recht in Talkshows, dass, wenn er das Thema einer höheren Besteuerung für Reiche auf die Tagesordnung bringe, er von anderen Parteien sofort als Populist diffamiert werde. Und das stimmt! Aber wer den neoliberalen Konsens verlässt, sollte eben nicht sofort als Populist bezeichnet werden. Natürlich muss über höhere Steuersätze diskutiert werden können. Alles andere fände ich absurd.
Und wenn die AfD zum Beispiel sagt, die unkontrollierte Zuwanderung müsse aufhören, es bräuchte ein Zuwanderungsgesetz?
Diese Aussage an sich ist erst mal wenig problematisch. Viele Staaten der Welt haben Einwanderungsgesetze.
Deutschland nicht.
Es ist durchaus legitim, ein Einwanderungsgesetz zu fordern, weil man natürlich darüber nachdenken muss, wie wir unser politisches Gemeinwesen gestalten. Und dann haben wir immer noch darüber zu streiten: Was heißt dieses „unser“? Wer gehört zu uns? Es muss darüber gestritten werden, was das Volk ist und wer dazugehört. Nicht alle gehören einfach irgendwie dazu.
Das zu betonen empfinden viele als populistisch.
Diese Empfindung empfinde ich als merkwürdig. Weshalb sollte man über diese Frage nicht auch scharf debattieren? Spätestens seit den nuller Jahren ist man es in der Bundesrepublik nicht mehr gewohnt, scharfe politische Auseinandersetzungen zu führen. Und so kommt es, dass etablierte Parteien oder Journalisten hochgradig verstört reagieren, wenn von der AfD oder linken Parteien pointiert diskutiert wird. Dann ist man verunsichert. Aber das hängt eben damit zusammen, dass wir eine Konsenskultur haben. Und damit auch eine Kanzlerin …
… die alles in einer großen Wolke des Konsenses erstickt. Kann man das so sagen?
Das ist nicht Merkels alleinige Schuld. Aber diese Art der Konsenskultur macht es enorm schwierig, mit Leuten von der AfD zu reden, weil man gar nicht mehr gewohnt ist, pointierte Positionen sachlich zu kontern. Stattdessen kommt man mit Schlagwörtern wie „Populismus“.
Wir leben in einem postkohlschen Biedermeier-Zeitalter? Wie Konrad Adenauer das in den fünfziger Jahren formulierte: „Keine Experimente!“
54, ist Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Professor für politische Soziologie und Gewaltforschung an der Leuphana Universität Lüneburg.
Ja, deshalb hat man bisher auch kaum gemerkt, dass der Wahlkampf offiziell schon begonnen hat. Die politischen Konflikte sind da, aber man nimmt sie nicht so wahnsinnig ernst. Was aber heißt dies für Bevölkerungsschichten, denen es ökonomisch nicht so gut geht? Die bekommen dann Sorge, ob ihre Interessen noch irgendwo artikuliert werden. Ich habe den Eindruck, dass viele der AfD-Wähler nicht dringend diese Partei wählen wollen, aber vor dem Dilemma stehen, dass ihre eigenen Haltungen bei den anderen Parteien, die sich zu ähneln scheinen, sich nicht spiegeln.
Probleme, die artikuliert werden, durch wen auch immer, erledigen sich ja nicht, indem man über sie nicht spricht.
In Deutschland wurde, allen voran durch CDU/CSU, über Jahrzehnte eine Diskussion über eine vernünftige Einwanderungspolitik blockiert. Diese Fragen müssen aber offensiv diskutiert werden. So wie etwa in Kanada: Einwanderungspolitik ist immer Begrenzungspolitik und deshalb immer auch mit Ungerechtigkeiten verbunden. Es ist eine normativ extrem schwierig auszuhaltende Position, aber es ist so: Man will bestimmte Leute haben und andere nicht. Man kann also an der Frage der Migrationspolitik nicht ernsthaft vorbeigehen in der Hoffnung: Wir verlagern das alles an die EU-Außengrenzen.
Sie haben eben über die bislang im Bundestag vertretenen Parteien gesprochen und festgestellt, dass die in die Mitte streben und sich um Mehrheiten bemühen müssen. Wird diese Eintracht ein Ende haben, sitzt die AFD erst einmal im Bundestag?
Kommt drauf an, ob sich die AfD auf das Parlamentarische einlässt, auf den Prozess der Teilhabe und damit der „Verbürgerlichung“. Gleichwohl habe ich immer große Schwierigkeiten mit dieser Mythologie der Mitte. Ich habe keine Ahnung, was das denn eigentlich ist oder sein soll. In Deutschland sind scheinbar alle irgendwie „Mitte“. In den USA zählen sich alle zur „Mittelklasse“. Und die Vorstellung dazu ist gleichzeitig, dass diese Mittelschicht per se die gute Schicht ist, weil sie sich zwischen den radikalen „Eliten“ und den ganz anders radikalen Unterschichten positioniert. An dieser These habe ich große Zweifel.
Warum?
Die Mittelschichten waren vor allem immer bestrebt, den Einfluss der unteren Schichten so deutlich wie möglich zu begrenzen. Das war nicht nur in Deutschland so. Die Vorstellung, dass gerade die Mittelschichten besonders demokratisch seien, halte ich für ein Gerücht. Das wurde auch in den Sozialwissenschaften über Jahrzehnte so gestreut: die Mittelschicht als „Stabilisator der Demokratie“. Man wünschte es. Ich glaube schlichtweg nicht daran.
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