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Anrufung der Menschlichkeit

Skulptur Jenny Wiegmann-Mucchi war Bildhauerin, Partisanin und Kommunistin. Eine Retrospektive in der Zitadelle Spandau erzählt von politischen Kämpfen und dem Humanismus ihrer Kunst

von Nicole Andries

Die Frau, jung und sportlich, sitzt aufrecht, nackt, die Arme hinter sich aufgestützt. Unter dem kurzgeschnittenen und wie von einem Windstoß nach hinten gewehten Haar, ein offenes Gesicht. Den Blick mutig nach vorne gerichtet, scheint sie bereit. Noch ruht ihr linkes Bein angewinkelt auf dem Boden, während das andere bereits dynamisch in den Raum greift.

Es ist ein Konflikt zwischen Zurückhaltung und Aufbegehren, der in dieser lebensgroßen Bronzeplastik schwelt und der auch in dem lebendigen Spiel des Materials zwischen glatt verstrichenen Partien und schrundigen Einkerbungen spürbar wird. Gewidmet ist die Skulptur der Bildhauerin Jenny Wiegmann-Mucchi unter dem Titel „Das Jahr 1965“ dem Vietnamkrieg. Die Leihgabe des Kolbe-Museums gehört zu den Herzstücken einer Retrospektive in der Zitadelle Spandau, die mit rund 85 Werken einen Überblick über das vielseitige Schaffen der Künstlerin bietet.

Mächtig und männlich verschlingt der Malstrom der Kunstgeschichte die Werke und Namen von Künstlerinnen und reißt sie ins Vergessen. Doch Jenny Wiegmann-Mucchi, die in einer Traditionslinie mit Lehmbruck, Kollwitz und Maillol steht, ist mitnichten ein Beispiel für die genderspezifischen Ausschlusskriterien des Kunstbetriebs. Wie die zahlreichen Dokumente, Briefe und Fotografien im Vorraum der Ausstellung belegen, erfährt sie schon zu Lebzeiten Anerkennung.

Früh entdeckt die 1895 in Spandau geborene Jenny Wiegmann ihre Berufung zu der damals noch männlich geprägten Kunstform der Bildhauerei. Davon zeugt das „Porträt der Großmutter“ der gerade mal Zwanzigjährigen. Jenny, die zunächst das Zeichnen und Graphik bei Lovis Corinth erlernt, will Schülerin bei Lehmbruck werden. Doch da der Meister in einer Krise steckt, besucht sie erst die Levin-Funke-Schule, dann ab 1919 die Staatliche Kunstgewerbeschule in Charlottenburg. Lernt das Holzschneiden bei Hans Peratoner, die Steinbildhauerei bei einem Meisterschüler von Reinhold Begas.

Eine Steinarbeit markiert auch den Auftakt der Ausstellung. Das Relief, das auf Anordnung der Nazis aus der Heilig-Geist-Kirche Berlin entfernt wurde und nun erstmals überhaupt ausgestellt wird, zeigt die Verkündigung durch den Engel Gabriel in einer verweltlichten Neuinterpretation. Kein Heiligenschein ziert Marias Haupt und statt der Lilie, als Symbol der Reinheit Teil der tradierten Ikonografie, verbindet eine Wiesenblume Mann und Frau wie Liebende.

Ausgeführt in Paris, wo Wiegmann von 1930 bis 1933, inzwischen zusammen mit dem italienischen Architekten und Maler Gabriele Mucchi, lebt, bildet das Relief einen Wendepunkt in ihrem künstlerischen Werdegang. Während sich Wiegmann in den 20er-Jahren, orientiert an griechisch-etruskischer Archaik und byzantinischer Kunst, um die Erneuerung der kirchlichen Kunst bemüht, entwickelt sie unter dem Einfluss der Kunstmetropole Paris ihren Anspruch auf freie Kunst.

Steinarbeiten wie das überlebensgroße „Mädchen in der Sonne“ (1933), eine im Krieg zerstörte Auftragsarbeit für die Mailänder Triennale (Entwurf in der Ausstellung) oder der mit einer Baudelaire-Zeile „Le ciel est triste et beau“ benannte liegende Akt, für den die Künstlerin auf der Pariser Weltausstellung 1937 mit der Goldmedaille für Bildhauerei ausgezeichnet wird, zeugen von autonomer poetischer Kraft und einem selbstbewussten modernen Bild der Weiblichkeit.

Wiegmann-Mucchis künstlerische Veränderung verbindet sich mit ihrer zunehmenden Politisierung. So schreibt Gabriele Mucchi in seiner Autobiografie „Verpasste Gelegenheiten“: „In Paris begannen wir gemeinsam unsere Weltanschauung zu klären. Es war die Zeit der Entwicklung des Faschismus in Italien und des Aufstiegs Hitlers. Wir begannen zu verstehen, dass es der wachsenden politischen und kulturellen Barbarei gegenüber nicht mehr möglich war, sich auf metaphysische und religiöse Positionen zurückzuziehen. Man musste kämpfen! Aber wie?“

Die Antwort finden Jenny und Gabriele im Kommunismus. Anfang 1934 ziehen sie nach Mailand. Ihre Wohnung wird bald zu Keimzelle der antifaschistischen Künstlergruppe um die Zeitschrift Corrente und Anlaufpunkt für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Als die Nazitruppen das Land besetzen, gehen beide in den Untergrund und kämpfen als Partisanen.

1956 erhält Gabriele Mucchi eine Gastprofessur an der Kunsthochschule Weißensee. Fortan pendeln die beiden zwischen Mailand und Ost-Berlin. Aus den Begegnungen mit Brecht, Paul Dessau, dem Maler Ehmsen oder mit Arnold Zweig entstehen aus Gips, Ton oder Stein gearbeitete, in Zement oder in Bronze gegossene Porträtköpfe. Wie auf einer Insel stehen sie zusammen unter Glas. Ein „Who is Who“ von Künstlern und Intellektuellen der Zeit.Es ist den Ausstellungsmachern anzurechnen, dass sie in einer lockeren Chronologie die Bezüge zwischen Entwürfen, Zeichnungen und den Plastiken herausarbeiten und damit die verschiedenen Arbeits- und Werkphasen der Künstlerin erlebbar machen. Zugleich setzen sie dramaturgische Höhepunkte. So verdichtet sich „Das Jahr 1965“ in eine Blickachse gesetzt mit „Der Schrei“ (1967), ein weiterer Kommentar zum Vietnamkrieg, und der Skulptur „Lumumba“ (1961), die den kongolesischen Freiheitskämpfer an den Händen gefesselt zeigt, zu einem Spätwerk Wiegmann-Mucchis im Zeichen des politischen Engagements.

Sie hat sich keinem Kunstdogma unterworfen, verfolgte ihren Realismus

Den Schlusspunkt dazu bildet überlebensgroß „Die Schwimmerin“ (1969). Den Blick nach vorne gerichtet, den Körper gestreckt, scheint sie zum Kopfsprung bereit in ein anderes Element. Wiegmann-Mucchis letztes Werk vor ihrem Tod.

Zeit ihres Lebens hat sich die Künstlerin keinem Kunstdogma unterworfen, sondern verfolgte ihren ganz eigenen Realismus. Ihre Figuren sind nie deklamatorisch. Sie wirken durch ihre karge Verhaltenheit, ihre stille Schlichtheit und berühren durch ihre Menschlichkeit.

Der Kunsthistoriker Fritz Jacobi, Experte für die deutsche Bildhauerei des 20. Jahrhunderts, hebt ihren besonderen Status hervor: „Jenny Mucchi machte im späteren Teil ihres Schaffens Dinge, durch die Traditionslinien von Lehmbruck über Marini, Giacometti in die deutsche Plastik hineinkamen. Dass sie diese südländische Tradition stärker in das Deutsche integrierte, war ihre Besonderheit und unterscheidet sie von den anderen deutschen Bildhauern.“

Dennoch ist sie im Westdeutschland der Nachkriegszeit kaum bekannt. Jacobi macht die Wahrnehmungsschemata des Kalten Krieges verantwortlich und die westliche Favorisierung der Abstraktion. Es ist vor allem der Unterstützung der Akademie der Künste sowie der Zitadelle Spandau, der Kunststiftung Poll und der Familie Mucchi zu verdanken, dass nun endlich eine der bedeutendsten figurativen Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts auch „im Westen“ zu entdecken ist.

„Genni. Jenny Wiegmann-Mucchi (1895-1969)“, Zitadelle Spandau, Galerie Alte Kaserne, Am Juliusturm 64, Mo.–So. 10–17 Uhr, bis 3. September

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