Rechtsmediziner über Terror in Berlin: „Man stirbt innerhalb von Minuten“

Michael Tsokos ist Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Berlin. Er obduzierte auch die Todesopfer vom Breitscheidplatz.

Michael Tsokos Hände spiegeln sich

Michael Tsokos Foto: dpa

taz.am wochenende: Herr Tsokos, wo waren Sie am 19. Dezember 2016 gegen acht Uhr abends?

Michael Tsokos: Ich saß zu Hause auf dem Sofa. In der Woche vor Weihnachten hatte ich Urlaub. Über Bild.de oder Spiegel-Online habe ich erfahren, dass ein Lkw in den Weihnachtsmarkt gefahren ist. Sofort wusste ich: Das ist ein Fall für uns.

Sind Sie sofort los?

Nein. Meine Frau und ich waren an dem Abend noch eingeladen. Wie gesagt, ich hatte eigentlich Urlaub. Als klar war, dass es mehrere Tote gibt, haben die diensthabende Ärztin, der leitende Oberarzt und ich das weitere Vorgehen telefonisch koordiniert. Fünf unserer Leute sind zum Tatort rausgefahren. Das war so gegen 21.30 Uhr. Bis morgens um fünf waren sie dann am Breitscheidplatz.

Hat das Team dort Erste Hilfe geleistet?

Nein, wir kümmern uns nur um die Toten. Gerade bei Terroranschlägen, wenn es um die Rekonstruktion geht und die Identifizierung, ist das extrem wichtig. Bei Explosionen, was hier ja nicht der Fall war, hat man viele Leichenteile. Da muss man sorgfältig gucken: Was gehört zu wem, was ist menschlich? Ist vielleicht auch ein Hund dabei? Das ist unsere Aufgabe. Man kann das nicht einfach alles zusammenfegen und in einen Leichensack packen. Wir haben auch den ethischen Anspruch, dass die Angehörigen wirklich ihren Verstorbenen bestatten können.

Wie ging es dann weiter?

Von Dienstag bis Freitag, einen Tag vor Weihnachten, haben wir obduziert. Ab Mitternacht haben wir pausiert. Morgens um sieben ging es weiter. Das war ein langes Unterfangen.

Wer ist wir?

Wir waren zu sechst. Am Institut für Gerichtsmedizin gibt es zehn Ärzte, die sezieren können. Die fünf, die in der Nacht unterwegs waren, habe ich morgens nach Hause geschickt. Die waren völlig fertig. Die anderen Kollegen und ich waren ja noch frisch. Normalerweise hätten wir gleich früh begonnen, aber ohne die Identifizierungskommission des Bundeskriminalamts durften wir nicht anfangen. Die Beamten sind erst Dienstagmorgen in Wiesbaden losgefahren. Um 16 Uhr waren sie in Berlin.

Warum musste das BKA dabei sein?

Berlin hatte das Ermittlungsverfahren an die Hoheit des Bundes übergeben, also an den Generalbundesanwalt. Wenn der sagt, die Identifizierungskommission des BKA muss bei der Obduktion dabei sein, muss das so sein. Das ist so wie bei uns in Berlin die Polizeibeamten von der Mordkommission.

Macht das für Gerichtsmediziner einen Unterschied, welche Behörde den Hut aufhat?

Sagen wir mal so: Die Dienstwege in Berlin – zwischen der Mordkommission, der Staatsanwaltschaft und uns – sind eingespielt. Die Identifizierungskommission des BKA rückt maximal zweimal im Jahr aus, zudem wechseln dort die Protagonisten. Wir machen das Geschäft jeden Tag – Wasserleichen, verfaulte Leichen müssen immer identifiziert werden. Für uns macht das keinen Unterschied, ob es eine Leiche ist oder zehn oder hundert.

Machen wir es konkret. Angehörige haben sich beschwert, dass sie bis zu 72 Stunden nach dem Anschlag noch keine Informationen über das Schicksal ihrer Vermissten hatten. Woran lag das?

Richtig. Die Frage der Angehörigen war: Warum brauchen die so lange mit der Identifizierung? Die Antwort ist: Das BKA hat schärfere Standards, als wir sie normalerweise haben.

Was ist der Unterschied?

Die Identität eines Toten kann anhand von drei Kriterien sicher verifiziert werden: am Zahnstatus, an der DNA und an den Fingerabdrücken. Uns reicht ein Kriterium. Wenn die DNA übereinstimmt, ist derjenige identifiziert. Das Gleiche gilt für die Fingerabdrücke. Das BKA legt Wert darauf, dass alle drei Kriterien erfüllt sind.

Finden Sie das übertrieben?

Nein, mit Sicherheit nicht. Aber das dauert natürlich länger. Zur Absicherung gerade bei internationalen Prozessen mit Tausenden von Toten muss man höllisch aufpassen. Ich mache die Identifizierung für das BKA ja nun seit fast 20 Jahren.

Person: geb. 1967 in Kiel. Abitur; Zeitsoldat; Medizinstu­dium (Kiel). Seit 2007 Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité (Berlin). Fünf Kinder.

Wirken: Auslandseinsätze (Balkankrieg, Tsunami-Opfer). 1,5 Millionen Bücher verkauft.

In Bosnien und im Kosovo waren Sie Ende der 1990er Jahre an der Identifizierung von Leichen aus Massengräbern beteiligt. Auch 2005, nach dem Tsunami in Thailand, haben Sie geholfen.

Ich erinnere mich an Fälle, wo Angehörige von Tsunami-Opfern am Flughafen von Frankfurt Särge entgegennahmen, und es hieß, darin lägen nicht ihre Verstorbenen. Um das zu verhindern, geht man auf Nummer sicher. Aber unter Fachleuten ist das nach wie vor eine große Diskussion: Nehmen wir alle drei Kriterien, um sicher zu sein, oder wollen wir den Angehörigen möglichst schnell Klarheit geben und beziehen uns auf ein einzelnes verlässliches Kriterium. Das ist die Crux.

Was Sie immer brauchen, ist Vergleichsmaterial. Wie bekommen Sie das?

Das besorgt die Kriminalpolizei. Nehmen wir an, mein Vater war auf dem Breitscheidplatz und ist nicht nach Hause gekommen. Dann geht die Mordkommission zu ihm nach Hause und sagt: Geben Sie uns bitte mal seine Zahnbürste oder einen Kamm. Damit wir DNA-fähiges Material daraus isolieren können. Gibt es hier noch ein Glas, aus dem er gerade noch getrunken hat? Da sind die Fingerabdrücke drauf. Bei welcher Versicherung oder welchem Zahnarzt ist er denn? Und dann gehen Sie zu der Versicherung oder dem Zahnarzt und besorgen sich einen Zahnstatus. Das dauert natürlich ein paar Tage, bis Sie diese Informationen haben. Das sind die sogenannten Ante-mortem-Daten. Die vergleichen wir dann mit den Post-mortem-Daten.

Haben Sie sich die zwölf Todesopfer in einer bestimmten Reihenfolge vorgenommen?

Bevor das BKA eingetroffen ist, haben wir schon den polnischen Kraftfahrer obduziert. Der hatte Vorrang. Da lag schon ein Sektionsbeschluss vom Amtsgericht Tiergarten vor. Es war ja nicht klar, ob er ein Tatbeteiligter war. Die übrigen elf Opfer haben wir dann in Gegenwart des BKA in einer sogenannten line obduziert.

Was bedeutet das?

Als Erstes wird eine Computertomografie von dem Leichnam gemacht. Wir haben an insgesamt vier Sektionstischen gearbeitet. An jedem Tisch ein Team. Der Leichnam wird von Tisch zu Tisch weitergereicht. Auf dem ersten Tisch wird alles fotografiert. Schritt für Schritt erfolgt die Entkleidung. Alles, was in den Taschen ist, wird fotografiert, immer mit einer Nummer. Auf dem nächsten Tisch er­folgen eine äußere Leichenschau und eine Obduktion. Dann geht’s auf den nächsten Tisch. Da kommt die Daktyloskopie …

… die Fingerabdrücke.

Am nächsten Tisch sitzen die Zahnärzte und machen die Zahnstandsuntersuchung. Wir entnehmen die DNA-Proben, stellen den Todeszeitpunkt fest und alles, was für die Rekons­truktion wichtig ist.

6.000 türkische Spione gibt es angeblich in Deutschland. Ist Mehmet Fatih S. einer von ihnen? Er soll den Mord an einem kurdischen Funktionär geplant haben. Was passiert ist, lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 18./19. Februar. Außerdem: ein Gespräch mit Bestseller-Autor und Gerichtsmediziner Michael Tsokos über die Opfer vom Breitscheidplatz. Und: Die Geschichte eines Amuletts, das im Vernichtungslager Sobibór gefunden wurde. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Was können Sie über die Todeszeit sagen, haben die Menschen noch gelitten?

Die Verletzungen waren so massiv, da stirbt man innerhalb von Minuten. Die meisten Opfer sind innerlich verblutet. Wenn ein so schweres Fahrzeug über einen Körper fährt, zerreißen die Organe und Blutgefäße, die Extremitäten werden abgetrennt. Das möchte ich wirklich noch mal betonen: Die Ersthelfer der Berliner Feuerwehr haben großartige Arbeit geleistet. Sie haben genau erkannt, welchen Leuten noch zu helfen war, und sich zuerst um die gekümmert. Das ist eine große Leistung, gerade unter so einem Stress.

Für Sie selbst war das nicht der erste Anschlag. Die zehn Opfer einer deutschen Reisegruppe, die im Januar 2016 in Istanbul bei einem Sprengstoffanschlag ums Leben gekommen sind, wurden auch zur Obduktion nach Berlin überstellt. Was geht Ihnen in solchen Momenten durch den Kopf?

Das ist unser tägliches Brot.

Es betrifft Sie rein gar nicht?

Man muss das professionell in einer Schublade ablegen können, sonst kann man diese Arbeit nicht machen. Jemanden vor sich liegen zu haben, der von einem 32-Tonner überrollt worden ist, ist aber auch für uns ein schlimmerer Anblick als jemand, der besoffen aus dem dritten Stock gefallen ist. Und dazu noch die Situation: Weihnachtszeit, besinnliches Zusammensein, Feiern. Wirklich erleichtert war ich, als ich beim Briefing erfahren habe, dass keine Kinder unter den Todesopfern waren. Ich würde Ihnen gern mal etwas zeigen …

Tsokos geht zu seinem Schreibtisch und kommt mit einem großen Bildband zurück: „Barock in Neapel“ von Caravaggio.

Am 23. Dezember rief mich der italienische Botschafter abends auf meinem Handy an. Er bat mich herzlich, dafür zu sorgen, dass Fabrizia an Heiligabend zu ihren Eltern kommt. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dass alle erforderlichen Unterlagen zusammenkommen. Der Sarg konnte am nächsten Tag dann tatsächlich von Tegel mit einem Flieger nach Italien überstellt werden. Der Botschafter hat mir daraufhin dieses Buch geschenkt.

Tsokos liest aus dem Begleitschreiben vor:

„Ich möchte auf diesem Wege noch mal meine große Dankbarkeit für die wertvolle Unterstützung zum Ausdruck bringen auch im Namen der Familie.“ Das muss man sich mal vorstellen. Was für eine Tragik! Die junge 24-jährige Tochter ist in Berlin im Urlaub und wird getötet. Aber kein Wort des Vorwurfs. Die Eltern honorieren, dass wir es erreicht haben, dass ihr Kind am 24. nach Hause kommt. Aus Deutschland haben wir keinen Dank erhalten. Gar nichts. Die Rechtsmedizin hat hier einfach keine Lobby.

Welche Reaktion hätten Sie sich gewünscht?

In seiner Neujahrsansprache hat der Regierende Berliner Bürgermeister allen Helfern gedankt. Überall sind die Helfer gelobt worden. Über uns Rechtsmediziner hat bis heute keiner gesprochen. Auch auf Bundesebene nicht. Es geht auch anders. Als ich geholfen habe, die 300.000 Opfer des Tsunami zu identifizieren, kam Joschka Fischer, der damalige Außenminister, zu uns ins Zelt. Ihm war das Grauen in die Augen geschrieben. Er war an Zehntausenden Toten vorbeigelaufen. Es war ein bestialischer Gestank. Aber Fischer stand bei uns am Sektionstisch. Das war ehrliche Hochachtung vor unserer Arbeit.

Überhöhen Sie den Stellenwert der Rechtsmedizin nicht etwas?

Überhaupt nicht. Das ist ein urärztliches Anliegen, was wir vertreten. Die Identifizierung ist genauso wichtig wie die medizinische Versorgung der Überlebenden. Wenn Sie den Toten keinen Namen geben, wenn Sie den Angehörigen keine Gewissheit geben, was passiert ist, dann können die nicht mit der Trauer­arbeit anfangen. Das ist quasi der letzte Dienst am Patienten.

Das ist es, was Sie antreibt, diesen Job zu machen?

Da kommt vieles zusammen. In der Rechtsmedizin guckt man weit über den Tellerrand eines einzelnen medizinischen Fachgebiets hinaus. Das ist ein unglaublich spannendes Feld. Das ist wie ein Virus, das einen befällt und nicht mehr loslässt. Alles setzt sich wie ein Puzzle zusammen. Ein Lebender kann dem Arzt sagen, wo es ihm wehtut. Wir müssen in der Leiche lesen wie in einem Buch. Dazu kommt: Die Entwicklungen gehen immer weiter. Ein Tausendstel eines ­Bluttropfens reicht heute aus, um daraus ein vollständiges DNA-Profil zu erstellen. Das führt aber auch dazu, dass man ein bisschen zum Getriebenen wird, weil es ständig etwas Neues gibt.

Wie werden Sie die Eindrücke nach Feierabend wieder los?

Ich kann das gut trennen. Sicher, ein Rechtsmediziner sollte ein fröhliches Naturell haben. Ich bin sehr gern mit Lebenden zusammen. Ich habe fünf Kinder und mag es gern laut und lebhaft um mich herum.

Sie sind auch Autor. Acht Bestseller über ausgesuchte Fälle haben Sie bereits geschrieben. Im neunten Buch, das Anfang März erscheint, geht es auch um den Terroranschlag in Istanbul. Als Nächstes verhandeln Sie den Breitscheidplatz?

Nein. Ein Anschlag in so einer Bücherreihe reicht.

Ihr erstes Buch, „Dem Tod auf der Spur“, ist gerade verfilmt worden. Wann geht der Beitrag auf Sendung?

Ab Mai wird die erste Staffel – vier Folgen mit jeweils zwei Fällen – von Sat.1 ausgestrahlt. Immer mittwochs um 22.15 Uhr. Ich bin gleichzeitig Moderator und Koproduzent. Wenn es gut läuft, folgt die zweite Staffel.

Tsokos zückt sein Smartphone und zeigt einen Ausschnitt. Er tritt in einem blauen OP-Kittel auf, die graumelierten Locken perfekt gestylt. Mit sonorer Stimme begrüßt er das Publikum. „Mein Name ist Michael Tsokos. Ich bin Leiter der Berliner Rechtsmedizin. Und Sie und ich sind jetzt gemeinsam dem Tod auf der Spur.“ Der Körper vor ihm, an dem er zeigt, wie eine Sektion funktioniert, hat weder Haut noch Knochen. Es ist ein dreidimensionales, durchsichtiges Röntgenbild.

Das wird der Knaller! Die Technik ist unfassbar. Wir haben uns dazu die Leute aus Hollywood geholt, die „Walking Dead“ machen. Diese Computeranimation kann kein anderer in Deutschland. Das ist eine der teuersten Produktionen, die Sat.1 je hatte. Das hat es weltweit noch nicht gegeben. Alles abgeschlossene Originalfälle von 2003 und 2004. Alles Originalmordermittler und Originaltatortfotos. Nichts ist nachgestellt.

Wer hat Ihnen erlaubt, das Material zu veröffentlichen?

Die Staatsanwaltschaft, die Mordkommissionen und die Angehörigen – alle haben ihr Einverständnis gegeben. Ein Jahr haben wir gearbeitet, um das hinzubekommen. Für die Dreharbeiten haben wir die Sektionssäle im Benjamin-Franklin-Krankenhaus angemietet. Im Institut für Gerichtsmedizin könnte man das nicht machen.

Unter deutschen Gerichtsmedizinern gelten Sie als Kapazität, gleichzeitig sind Sie als Populist verschrien, der seine Fälle gnadenlos ausschlachtet. Wie gehen Sie mit diesem Ruf um?

Dazu stehe ich. Ich schlachte das gnadenlos aus – stimmt! Das ist eine Marktlücke, die bedient werden will: Unterhaltung, populärwissenschaftlich aufgemacht. Besser, sie wird von einem echten Spezialisten bedient, als wenn im „Tatort“ irgendein Blödsinn suggeriert wird, wie Rechtsmediziner arbeiten. Die Leute lieben „Aktenzeichen XY … ungelöst“, und das ist noch mal eine Steigerung. Nicht so eine tönerne Stimme aus dem Off und schlechte Schauspieler. Ich habe noch viele Sachen im Köcher – ob das Computerspiele, Comics oder Experimentierkästen sind.

Und in fünf Jahren kann man Ihnen in einem Livestream bei einer richtigen Obduktion über die Schulter schauen?

Nein. Das hat für mich nichts in der Öffentlichkeit zu suchen.

Sie müssten das Gesicht des Toten nicht zeigen.

Das ist eine Grenze, die ich aus ethischen Gründen nicht überschreiten würde. Das wäre dann wirklich Voyeurismus.

Der Anschlag auf dem Breitscheidplatz ist abgeschlossen?

Unser Part ist abgeschlossen. Das Ergebnis unserer Untersuchungen haben wir dem Generalbundesanwalt übergeben. Da der Attentäter tot ist, wird es kein Gerichtsverfahren wegen Mordes gegen ihn geben. Demzufolge müssen wir vermutlich auch keine weiteren Gutachten erstellen.

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