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Was vom 19. Dezember bleibt

TERRORVor zwei Monaten fuhr der Attentäter Anis Amri am Breitscheidplatz in die Menge. Welche Spuren hat der Anschlag vor Ort hinterlassen? Wie will man langfristig der Opfer des Anschlags gedenken?

Von Antje Lang-Lendorff Fotos Julia Baier

Den Steinen fehlt die Erinnerung. Hellgrau und ungerührt liegen die Bodenplatten an diesem eisigen Februarvormittag da. Sauber sind sie, nur mit etwas Kies bestreut. Man meint, etwas sehen zu müssen auf der Fläche nordöstlich der Gedächtniskirche. Reifenabdrücke oder Flecken. Spuren des Grauens, das der Attentäter Anis Amri hier über die Menschen brachte. Aber an den Stellen, wo der Lastwagen durch den Weihnachtsmarkt fuhr, ist nichts. Nur irritierende Normalität.

Ein Stück weiter, auf den Stufen zur blauwabigen Gedächtniskirche, haben Leute Grablichter aufgestellt. Jemand fragt in großen Lettern: „Warum?“ Auf einem Plakat sind Bilder der bei dem Anschlag Getöteten zu sehen. Die Titelseite einer Boulevardzeitung, die die „Asyl-Abzocke“ anprangert, flattert zwischen den Kerzen. Noch immer werden täglich weiße Rosen und Nelken abgelegt.

Zwei Monate ist es her, dass der Attentäter Anis Amri 12 Menschen in den Tod riss und 56 teils schwer verletzte. Der erste islamistische Terroranschlag in Berlin. Was ist davon geblieben auf dem Breitscheidplatz?

Jenseits des Kerzenfeldes nicht viel, meint man auf den ersten Blick. Am Tauentzien wird geshoppt wie eh und je. Schulklassen und Touristen drängen in die Gedächtniskirche. Beim Fast-Food-Laden im Europacenter stehen die Leute Schlange, es riecht nach Frittierfett. Der Alltag hat den Platz längst wieder fest im Griff. Doch man muss die Menschen nur antippen, schon kommen die Geschichten.

Dug dug, dug, dug dug dug. So klang es, als der Lastwagen Menschen und Buden umfuhr, erzählt Tarek Mortet. Der dunkelhaarige 19-Jährige jobbt in einem Laden für Outdoor-Kleidung im Bikinihaus, die Fensterfront geht direkt hinaus zum Ort des Anschlags. Dort stand er, mit freiem Blick, als der Anschlag passierte. Sah den Lastwagen, hörte ihn. Das sei schon krass gewesen, sagt Mortet heute, aber der Alltag gehe weiter. Inzwischen denke er kaum mehr darüber nach. Nur manchmal, wenn die Tram über die Schienen holpere, dug dug dug, dann sei die Erinnerung schlagartig wieder da.

Seine Kollegin schloss im Moment des Anschlags gerade die Türen des Ladens ab. Sie arbeite jeden Tag im Bikinihaus, fühle sich hier wohl, erzählt sie. In den Tagen danach wäre sie lieber zu Hause geblieben. „Ich habe mich persönlich angegriffen gefühlt.“

So werden die Opfer vom Breitscheidplatz entschädigt

Verkehrsopferhilfe: Der 7,5-Millionen-Euro-Fonds des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) greift, wenn Menschen durch Kraftfahrzeuge zu Schaden kommen. Der Anschlag am Breitscheidplatz wird dabei als ein einziger Schadensfall betrachtet. Ist der Fonds für den Schadensfall aufgebraucht, wird er nicht erhöht. Laut GDV haben bisher 45 Betroffene Ansprüche geltend gemacht.

Bundesamt für Justiz: Der Härtefallfonds zahlt für Opfer terroristischer Straftaten. 51 Anträge wurden bisher gestellt und Hilfen im Gesamtvolumen von 220.000 Euro bewilligt. 188.000 Euro wurden bereits ausgezahlt. Der Fonds kann aufgestockt werden, einen dauerhaften Rechtsanspruch bietet er nicht.

Opferentschädigungsgesetz: Das OEG gilt für Opfer von Gewalttaten und sichert langfristig Rechtsansprüche etwa auf Renten und Pflegegeld – aber nicht, wenn die Waffe ein Kfz ist, denn dafür gibt es die Verkehrsopferhilfe. Der Bundestag beschloss im Januar eine Ausnahmeregelung für den Breitscheidplatz. Berlins Opferbeauftragter Roland Weber fordert, das OEG mit Blick auf Lkw-Anschläge wie in Nizza und Berlin grundsätzlich zu reformieren. 60 Anträge zählt die zuständige Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales bisher. (akl)

Wenn Tarek Mortet und seine Kollegin heute aus dem Fenster schauen, können sie beobachten, wie immer wieder Menschen vor dem Kerzenfeld innehalten. Eine alte Dame in beigem Anorak und Wollmütze steht andächtig vor den Grablichtern. Immer, wenn sie aus dem Wedding zum Einkaufen an den Ku’damm fahre, gedenke sie der Opfer, erzählt die 74-Jährige. Sie selbst sei am Nachmittag des 19. Dezember auch auf dem Weihnachtsmarkt gewesen. Seit dem Anschlag fühle sie sich unsicherer. Sie achte darauf, neben wen sie sich in der U-Bahn setze.

Im Angesicht des Terrors

Ein Bankangestellter, der mit seinem Partner hinter dem Europacenter wohnt, sagt: „Das hier ist mein Kiez, meine Heimat.“ Er habe immer erwartet, dass es mal einen Anschlag in Berlin geben werde. Aber direkt neben der eigenen Wohnung? Sein Staunen darüber klingt noch immer durch.

Der Terror hätte auch mich treffen können – das ist die Erfahrung vieler Menschen am Breitscheidplatz. Der 19. Dezember markiert einen Einschnitt. Am krassesten für die Opfer und ihre Angehörigen, aber auch für viele andere, die hier öfters unterwegs sind. Für Berlin, für das ganze Land.

Wie aber angemessen damit umgehen? Wie bespielt man einen Platz, an dem der islamistische Terror in die Stadt kam?

Diese Frage stellte sich direkt nach dem Anschlag. Auf dem Breitscheidplatz wurden nach drei Tagen wieder Glühwein und Bratwürste verkauft, ohne Partymusik und grelle Beleuchtung. War das des Ortes würdig, die richtige Reaktion?

Stilles Gedenken Noch immer werden an der Gedächtniskirche täglich weiße Rosen und Nelken abgelegt

Die Frage stellt sich auch an diesem Sonntag wieder, wenn der Karnevalsumzug durch die westliche Innenstadt zieht. Eigentlich wollten die Jecken am Breitscheidplatz enden. Doch dagegen hat sich der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf ausgesprochen. Jetzt feiern die Karnevalisten ihren Abschluss ein Stück weiter auf dem Wittenbergplatz. Wenn sie am Ort des Anschlags vorbeiziehen, müssen sie die Musik runterdrehen, lautet die Auflage des Ordnungsamts.

Ist das angemessen? Wie lange will man einen begehrten zentralen Platz für Feierlichkeiten sperren? Macht man einen Unterschied zwischen den Veranstaltern? Dürften Menschen an der Gedächtniskirche für den Frieden demonstrieren, nicht aber Karneval feiern?

„Wir haben da noch keine Richtlinie“, sagt Reinhard Naumann, Sozialdemokrat und Bürgermeister in Charlottenburg-Wilmersdorf. Viele Menschen seien nach wie vor sehr berührt und zeigten das auch, etwa durch das Ablegen von Blumen. Naumann sagt, das Bezirks­amt wolle erst mal schauen, wie sich die Stimmung entwickle. Sicher werde es wieder Anfragen von Veranstaltern geben, sagt er. Das müsse man dann von Fall zu Fall neu beurteilen.

Tafel oder Skulptur

Der entscheidende Punkt ist für den Bezirksbürgermeister aber ein anderer: Wie soll der Breitscheidplatz langfristig als Gedenkort gestaltet werden? Es bedarf eines materiellen Ausdrucks, da ist sich Naumann sicher. Nur: Welcher ist der richtige?

Denkbar ist vieles. Man könnte eine dezente Tafel anbringen, in Erinnerung an die Opfer. Oder etwas Größeres auf den Platz stellen. Künstler hätten sich angeboten, Skulpturen oder Monumente zu entwerfen, erzählt Naumann. „Es gibt ein ganzes Spektrum von Ideen.“

Wie erinnern? Martin Germer legt die hohe Stirn in Falten. Der Pfarrer der Gedächtniskirche sitzt an seinem Schreibtisch im Untergeschoss der Kirche. Auf dem Regal stapeln sich Papierbögen, Kondolenzblätter zum Anschlag mit Tausenden Einträgen. Vor allem Botschaften für den Frieden, gegen Hass und Gewalt, aber auch: „Merkel muss weg.“ Germer will die Blätter demnächst zu einem Buch binden lassen.

Aus seiner Erfahrung als Seelsorger weiß Germer, dass Menschen sehr unterschiedlich trauern. Manche wünschten sich etwas Sichtbares wie ein Grab, erzählt er, andere nicht. Germer selbst verlor vor 20 Jahren seine damalige Frau bei einer Bergwanderung. Ihm selbst bedeute das Sichtbare nicht so viel. „Aber mir war es ein Bedürfnis, an die Stelle zu gehen, wo sie gestorben ist.“

Eine Platte im Boden könne er sich für den Breitscheidplatz gut vorstellen. Jemand habe vorgeschlagen, die Reifenspuren des Lastwagens in die Steinfläche zu fräsen, erzählt Germer. Da wäre er dagegen. Er überlegt eine Weile, um die richtige Formulierung zu finden für das, was ihn an der Idee stört. „Muss man das jetzt martialisch dauerhaft sichtbar machen? Was für eine Bedeutung gibt man damit der Mordabsicht?

Und noch etwas sollte man nicht außer Acht lassen: Was, wenn wieder ein Anschlag in Berlin passiert? Ein Gedenkort für die Opfer vom 19. Dezember setzt auch Maßstäbe, nach denen sich andere später möglicherweise richten müssen.

In München hat man sich dafür entschieden, zur Erinnerung an die Opfer des Amoklaufs am Olympia-Einkaufszentrum einen Ginkgobaum mit einem Ring aus poliertem Edelstahl zu umfassen. In Paris gibt es Gedenktafeln an den Orten der Attentate. Außerdem soll vor dem Palais de Tokyo ein vom amerikanischen Künstler Jeff Koons entworfener riesiger Tulpenstrauß aus Metall aufgestellt werden.

Die Zeit, die es braucht

Die Federführung über das Berliner Gedenken hat inzwischen die Senatskanzlei im Roten Rathaus übernommen. In dieser Woche gab es ein erstes Treffen zwischen Senat und Bezirk, in größerer Runde will man die Gespräche fortführen, sagt Sprecherin Claudia Sünder. „Auch die Angehörigen der Opfer sollen eingeladen werden, bei der Entwicklung des Formats mitzuwirken, ihre Wünsche einzubringen.“ Vertreter der Gedächtniskirche, der Wirtschaft im westlichen Zentrum und des Schaustellerverbands würden ebenfalls einbezogen. „Unsere Idee ist, einen Wettbewerb auszuschreiben und alle Beteiligten zur Jury zu machen“, sagt die Sprecherin.

Trauer ist ein Prozess, der Blick auf das Geschehene ändert sich mit der Zeit. Insofern ist es wahrscheinlich sinnvoll, der Diskussion über ein Mahnmal zunächst keine Frist zu setzen. Es wäre schön, wenn zum ersten Jahrestag etwas fertig sei, sagt Sünder. „Da darf es aber keinen Druck geben. Es kriegt die Zeit, die es braucht.“

Am Mittag vor der Gedächtniskirche. Während sich Pfarrer Germer im kalten Wind fotografieren lässt, fahren hinter ihm Touristen auf Segways, diesen wendigen Elektrogefährten auf zwei Rädern, über den Platz. Einige Meter vor dem Kerzenfeld entschleunigen sie, zücken ihre Smartphones, machen Fotos. Dann surren sie weiter, zur nächsten Berliner Sehenswürdigkeit.

Das Gespräch

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