Libyen, das Land der 2.000 Milizen: Kapitän Ashrafs Ohnmacht
Bewaffnete Banden kontrollieren das Land. Die Bevölkerung fühlt sich ausgeliefert, die unsichere Lage trifft die vielen Flüchtlinge besonders hart.
Die Zersplittertheit Libyens im Jahr 2016 lässt sich im Kleinen hier auf der Marinebasis von Tripolis besichtigen. Hier hat auch die Regierung von Premierminister Fajes al-Sarradsch ihren Hauptsitz, von hier aus will sie das Land einigen. Ein aberwitzig scheinendes Vorhaben, denn Libyen ist in Myriaden kleiner und kleinster Milizen zersplittert. Und Sarradsch hat keine Militärmacht hinter sich, er muss mit allen Akteuren verhandeln: ein politisches Schneeballsystem.
Nur so kann er hoffen, die Fronten, die quer durchs Land verlaufen, zu klären. Es sind nicht nur die Küstenstädte, die untereinander konkurrieren, es sind auch die vielen Stämme, die ihre Interessen wahren wollen. Bisher kontrolliert Sarradschs Regierung nur wenige, wenn auch extrem wichtige Schlüsselstellen wie die Zentralbank, das Ölministerium und das Büro des Ministerpräsidenten. Draußen, außerhalb der Mauern des Stützpunkts, regiert das Chaos.
Schätzungsweise 2.000 Milizen gibt es in Libyen. Manche Gruppen sind schlicht Banden von Straßenräubern, andere sind haben Tausende Soldaten unter ihrem Kommando. Auch der IS ist in diesem Sinne eine größere Miliz, die mit anderen islamistischen Milizen konkurriert. Wie die meisten Städte des Landes ist auch Tripolis in Sektoren aufgeteilt, die jeweils von einer Miliz dominiert werden.
Die neue Einheitsregierung um Premierminister Fajes al-Sarradsch, GNA genannt, versucht seit März 2016 Libyen zu einigen, ihr wichtigster Partner dafür sind Milizen aus der Hafenstadt Misrata.
Ihr mächtigster Widersacher ist General Chalifa Haftar, der sich auf das 2014 legitim gewählte Abgeordnetenhaus beruft und den Osten des Landes dominiert. Beide Lager bekämpfen mit internationaler Unterstützung den libyschen Ableger des „Islamischen Staats“, der sich vor allem noch in der Stadt Sirte hält.
Dazwischen gibt es immer wieder de facto unabhängige Städte, die eigene Milizen unterhalten.
Jeder versucht zu verdrängen
Dort herrscht eine nervöse Normalität. Manche Geschäfte öffnen nur gelegentlich ihre stählernen Rollladen, die Menschen hasten mehr, als dass sie gehen, und niemand verbringt mehr Zeit, als er müsste, an einem Ort. Alle versuchen zu verdrängen, dass überall Checkpoints, dass Einschusslöcher an den Wänden sind, dass ganze Viertel unter einem Generalverdacht leben, der von einem Moment auf den nächsten zu ihrer Planierung führen kann.
Auch die Migranten, die Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern müssen dieses Szenario aushalten: Sie warten im Schatten oder in der Sonne. Stundenlang, tagelang. Eine Million Ausländer leben schätzungsweise in Libyen, das 7 Millionen Einwohner zählt. Unsichtbar für die Libyer – es sei denn sie brauchen sie als billige Arbeitskräfte. Nur wenige Kilometer abseits der Altstadt, deren Straßen mit Fotos der gefallenen Kämpfer gegen Exdiktator Gaddafi geschmückt sind, finden sich Kreuzungen, an denen Menschen aus ganz Westafrika auf eine kleinen bezahlten Job hoffen.
An diesem Tag warten etwa 50 Tagelöhner auf Stufen vor den Geschäften. Die meisten von ihnen blicken trotzig oder gelangweilt auf vorbeifahrende Autos. Sie wissen, dass sie als minderwertig angesehen werden – und dass sie Freiwild sind. Jederzeit kann die Miliz, in deren Machtbereich die Kreuzung liegt, eine Razzia durchführen: Um sie als illegale Migranten festzunehmen und ihnen alles Geld abzuknöpfen. Wieder freizukommen, kostet eine Summe, die kaum einer der zerlumpten jungen Männer aufbringen kann: 3.300 Euro – ihr Tagesverdienst liegt etwa bei 20 Euro.
Bloß weg hier, sagen die Migranten
Keiner von ihnen will etwas sagen, verweist immer auf jemanden anderes, der schon länger in Libyen lebt. Nach langen Verhandlungen traut sich doch einer von ihnen, der 21-jährige Mohammed aus Mali: Er ist hier hergekommen, weil es zu Hause im Bürgerkriegsland keine Arbeit gibt. Doch in Libyen sei das Leben viel schwieriger, viel gefährlicher als gedacht. Mohammed deutet auf die kleinen Hitachi-Pick-ups, auf die nach kurzen Verhandlungen immer wieder Arbeiter aufspringen.
„Manchmal steigst du in ein Auto, das etwas später wieder hält“, sagt er. „Dann zwingen sie dich mit vorgehaltener Waffe, mit einem Gewehr oder einem Messer, all dein Geld und dein Handy rauszurücken.“ Dreimal sei ihm das in den letzten zwei Wochen passiert. Deshalb nehme er jede Arbeit an, um Geld für die Überfahrt nach Europa zu verdienen. Ob Häuser abreißen, Wohnungen putzen, egal. Nur schnell hier weg. Das Meer sei bei Weitem nicht so gefährlich wie das Leben in Libyen, glaubt er.
„Hier leben wir im Elend“, sagt Mohammed immer wieder. Manche seiner Freunde würden sich sogar in der Kanalisation verstecken, aus Angst vor den Milizen. Er selbst schläft mit vier anderen Maliern in einem Zimmer – 50 Euro zahlt er im Monat dafür. Und für den Reis, den er sich als Mahlzeit leisten kann, muss er 17 Euro zusätzlich zahlen. An einen Libyer, der so mit der Vermietung einer Wohnung an 20 Arbeiter ein erhebliches Sümmchen verdient.
Das Geld versickert im Bürgerkrieg
Es sind Millionen US-Dollar, die mit den Migranten verdient werden – doch auch dieses Geld scheint im Bürgerkrieg zu versickern. Städte wie Bengasi und Derna sind zerstört, das Gesundheitssystem des Landes ist kollabiert, Hunderttausende Binnenflüchtlinge versuchen ihren Lebensunterhalt zu erbetteln. In Tripolis sind die Geldwechslerstübchen, die sich unter den Arkaden des Suq Dahra befinden, für viele zur wichtigsten Institution geworden.
Drei stämmige Männer warten hinter einem Tresen auf Kundschaft. Ab und zu kommt jemand herein, schiebt US-Dollar über den Tisch. Dann beherrscht das Rauschen und Knattern der Geldzählmaschine minutenlang den Raum, bevor der Kunde brikettdicke Bündel von Dinar-Scheinen in Plastiktüten packt. „Der Dinar ist nicht mehr viel wert“, sagt der Geldwechsler Ahmed Abdul Basr. Im Stundentakt verändere sich manchmal der Wechselkurs, so volatil sei die libysche Währung.
Gleichzeitig seien die Preise zu hoch, die Menschen würden schlicht nicht genug verdienen. Das Gefühl der Verunsicherung führt dazu, dass die Menschen ihr Bargeld zu Hause horten. Niemand traut mehr den Banken. „Neulich kam eine ältere Frau verzweifelt zu uns. Sie bat uns, ihren Gehaltsscheck einzulösen! Aber das können wir natürlich nicht!“, sagt er. Die Frau hatte kein Geld mehr gehabt, schließlich bettelte sie – da haben ihr die Geldwechsler privat etwas gespendet.
„Es gibt keine echte Polizei“
„Eine echte Polizei gibt es ebenso wenig wie Gerichte“, sagt Abdul Basr, „die Polizeiwachen sind nur Attrappen, sie unterstehen den Milizen.“ Die Geldwechsler haben sich mit anderen Händlern zusammengetan, um eine private Polizeitruppe zu bezahlen. Trotzdem umstellen oft schwerbewaffnete Milizen das Areal, um die Wechselstuben zu plündern. Der Vorwand: Sie seien für die finanzielle Misere verantwortlich.
Zwar hat die Zentralbank in Tripolis mittlerweile in London neue Geldscheine im Millionenwert drucken und einfliegen lassen, doch das Geld verschwindet in dunklen Kanälen. Es gelangt nicht zu den normalen Libyern. „Das ist das große Geheimnis, das wir nicht verstehen“, sagt Abdul Basr. Hinzu kommt, dass die Gegenregierung im Osten eine eigene Zentralbank aufgebaut hat, die eigene Geldscheine im Russland hat drucken lassen. Auch hier spaltet sich das Land immer weiter – und der Machthaber im Osten, General Haftar, macht keine Anstalten, auf die neue Regierung zuzugehen.
An der Wand hinter Kapitän Ashraf hängt eine nautische Karte des Mittelmeers, hergestellt von der britischen Marine. Und ein kleiner Wimpel, mit Tesafilm an der Wand befestigt. Sein Bürocontainer bildet zusammen mit zwei weiteren Containern das Hauptquartier der libyschen Küstenwache. Wenn Ashraf aus der Tür tritt, blickt er auf das Hafenbecken, in dem einige libysche Marineschiffe dümpeln. Neben ihnen rostet das Wrack der Fregatte „Al Ghardabia“ vor sich hin, die 2011 von der Nato versenkt wurde.
Keine Technik vorhanden
Ashraf weist auf ein Schlauchboot im Hafenbecken: „Davon haben wir gerade mal sechs Stück.“ Es hat eine Reichweite von fünf Seemeilen – aber um Menschen zu retten, würden sie auch ihr eigenes Leben riskieren und 30, 40 Seemeilen aufs offene Meer rausfahren, sagt der Kapitän. Auf seinem Handy zeigt er ein Video einer solchen Rettungsmission: Dutzende Menschen drängen sich auf dem Boot, das gerade mal für 20 gebaut ist. „Um die Schiffbrüchigen vor dem Ertrinken zu retten, haben wir 60 Menschen auf jedes unserer Boote geladen.“ Die Küstenwache hat keine Technik, um den Seeverkehr zu überwachen.
Wenn das Wetter gut sei, wenn die Schleuser wieder Flüchtlinge auf Boote setzen, können sie nur verstärkt Patrouille fahren. Und hoffen, dass Anwohner, die die Menschenschmuggler am Strand beobachten, ihnen einen Tipp geben. Selbst wenn sie wüssten, wo die Schleuser ihre Hauptquartiere haben, könnten sie nicht gegen sie vorgehen, sagt Ashraf frustriert. Denn die Milizen, die mit den Schleusern des Profits wegen zusammenarbeiten, seien schwer bewaffnet: von der AK47 bis zur Boden-Luft-Rakete.
Premierminister Sarradsch hat nicht viel Zeit, das Land zu einen. Er ist die letzte Hoffnung der Libyer, er ist die einzige Hoffnung der Europäer, die sich vor dem IS und den vielen Flüchtlingen fürchten. Ob ihm das gelingen kann, weiß auch Kapitän Ashraf nicht, er sieht nur, wie ungeduldig die Menschen werden. Kein Wunder, schließlich wissen die meisten nicht mehr, wovon sie leben sollen. „Meine Leute verdienen nur 250 US-Dollar im Monat“, sagt er, „frag sie mal, wann ihnen das zum letzten Mal Lohn ausgezahlt wurde.“
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